Jugendhilfe nach Länderkassenlage

Ein Entwurf zur Novellierung der gesetzlichen Grundlage von Kinder- und Jugendarbeit stößt bei Praktikern auf scharfe Kritik

»Junge Menschen haben ein Recht auf Förderung ihrer Entwicklung und der Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit«, heißt es im Buch 8 des Sozialgesetzbuches (SGB VIII). Nun steht eine Novellierung an. Ein Entwurf des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend liegt seit Juni vor.

Doch werde die geplante Novelle zu wenig öffentlich diskutiert, beklagen engagierte Sozialarbeiter und Sozialpädagogen aus der Kinder- und Jugendarbeit. Oliver Conraths von der Systematischen Erziehungshilfe Siegen zieht sogar Parallelen zu den Geheimverhandlungen zum Freihandelsabkommen TTIP: »Bei der letzten Reform des SGB VIII im Jahre 1990 wurde eine offene und fachlich fundierte Diskussion geführt. Im Ergebnis wurde ein Gesetz verabschiedet, welches von vielen Fachkräften angenommen wurde.« Doch diesmal seien »geplanten Änderungen von Intransparenz und Geheimhaltung gekennzeichnet«, so Conraths gegenüber »nd«. Dabei seien davon bundesweit über eine Million junge Menschen davon betroffen.

Um so bedauerlicher finden Praktiker wie Conraths dieses Ausbleiben einer Diskussion, weil der Entwurf zahlreiche kritikwürdige Punkte enthalte: Bisher habe das SGB VIII »in einer für viele andere Länder vorbildlichen Weise Rechte für Kinder und Jugendliche und deren Eltern auf Hilfen ermöglicht«. Nun könnten diese »unter dem Deckmantel einer ›Großen Lösung‹ aus finanziellen Gründen zurechtgestutzt werden«, fürchtet Conraths. So sollten Eltern künftig keinen Anspruch auf »Hilfen zur Erziehung« mehr haben, sondern Kinder und Jugendliche auf »Hilfe zur Entwicklung«. Doch klinge das nur wie eine Stärkung der Kinderrechte. Eltern werde so die Möglichkeit genommenen, eine kindeswohlorientierte Erziehung zu unterstützen.

Kritik übt der Praktiker auch an vom Finanzministerium forcierten Bestrebungen einer »Regionalisierung der Sozialgesetzgebung«: Die Länder sollen von Bundesstandards der Kinder- und Jugendarbeit abweichen können. »Folge ist eine Regionalisierung von Armut und sozialer Benachteiligung, die auf keinen Fall mit dem Grundgesetz vereinbar ist«, so Conraths.

Die Pädagogin Marie-Luise Conen spart in ihrer »nd« vorliegenden Stellungnahme zur angestrebten Novelle gleichfalls nicht mit Kritik. Deutschland sei zwar bei der Inklusion von Behinderten anderen Ländern voraus. Doch sei die Weise, wie Inklusion umgesetzt werde, ein Jammer: »Unter dem Deckmäntelchen der Inklusion werden die Ansprüche an die Mitarbeiter zwar hochgeschraubt, bis an die immer weiter dehnbare Belastungsgrenze.« Doch die erforderlichen Mittel vor allem für das Personal würden nicht zur Verfügung gestellt, moniert Conen. Durch die geplante Novelle werde diese Entwicklung noch verschärft. Gerade Familien, die am meisten staatlicher Hilfe bedürfen, würden so weiter benachteiligt.

Conen kritisiert auch, dass in dem Gesetzentwurf soziale und sozialpädagogische Probleme zunehmend zu medizinischen Fragen erklärt würden. »Die Tendenz von Medizinern und Experten, die soziale Probleme nur noch auf falsche Gene, falsche Willensbemühungen und falsche Individualentscheidungen zurückführen, findet in vielen Politikkanälen ein offenes Ohr«, sagt sie. Politiker und Entscheider müssen sich dann nicht mehr mit sozialen Verwerfungen auseinandersetzen, so das Fazit der engagierten Sozialpädagogin.

Die Kritiker des geplanten neuen SGB VIII wollen nun durch eine möglichst breite öffentliche Debatte verhindern, dass diese Tendenz auch in Gesetze gegossen wird.

Peter Nowak