Giftige Geschäfte

Nach einer Umweltkatastrophe in Vietnam im Frühjahr halten die Proteste gegen das verantwortliche Unternehmen und die vietnamesische Regierung, die mit dem dubiosen Konzern kooperiert, an.

Unabhängige Umweltschützer sind bei vielen Regierungen nicht gerne gesehen. Das ehemals realsozialistische Vietnam, das schon längst den Weg der kapitalistischen Marktwirtschaft eingeschlagen hat, geht derzeit gegen Menschen vor, die die Umweltverbrechen des taiwanesischen Konzerns Formosa Plastics Group (FPG) in Vietnam öffentlich machen wollen. So wurden von der vietnamesischen Regierung kürzlich Repressalien gegen Blogger verschärft, die Videos über weltweite Aktionen ins Netz stellen, mit denen eine angemessene Entschädigung für die Umweltverschmutzungen des Konzerns in Vietnam und die Bestrafung der dafür Verantwortlichen gefordert wird.

Anfang April waren über mehrere hundert Kilometer an der Küste Vietnams Millionen toter Meereslebewesen angeschwemmt worden. Zudem gibt es Berichte über schwere Erkrankungen von Menschen, die Fisch aus diesem Gebiet verzehrt haben. Die Formosa Ha Tinh Steel Company soll zuvor 200 Tonnen hochgiftige Chemikalien ins Meer geleitet haben (Jungle World 25/2016). In Vietnam waren daraufhin wochenlang Menschen aus Protest gegen den Umweltskandal auf die Straße gegangen.

FPG hat zwar mittlerweile eine Entschädigung von 500 Millionen US-Dollar zugesagt. Für die Kritiker des Unternehmens ist diese Summe angesichts der immensen Umweltschäden in Vietnam und der Vergiftung der Meere jedoch völlig unzureichend. Zudem ist noch unklar, wie viele Menschen Gesundheitsschäden durch die Aktivitäten von FGB erlitten haben. Bekannt ist bisher nur, dass ein Taucher gestorben ist, nachdem er in dem Teil des Meeres unterwegs gewesen war, in den FPG das Gift geleitet hatte. Dass die vietnamesische Regierung die Aufklärung der Umweltschäden und der Folgen erschwert, zeigte sich, als Experten vor Ort recherchieren wollten. Die vietnamesische Regierung erlaubte ihnen nicht, Meerwasserproben zu entnehmen, so dass sie sich auf die Daten der Regierung stützen mussten.

Der 1954 in Taiwan gegründete Konzern Formosa war im antikommunistischen Klima des Vietnamkrieges zum weltweit führenden Unternehmen auf dem Gebiet der Chemie und Biotechnologie geworden war. Daher erstaunt die heutige Kooperation, doch schon lange unterhält die Volksrepublik Vietnam, die mit China über Grenzfragen zerstritten ist, gute Kontakte mit Taiwan. Zudem könnte eine unabhängige Zivilgesellschaft die Kritik auch auf die Umweltbilanz vietnamesischer Unternehmen ausweiten. Das wollen die vietnamesischen Behörden verhindern. Dennoch haben sich am 17. Juni anlässlich der FPG-Jahreshauptversammlung in Taiwan neben internationalen Umweltschützern auch Vietnamesen in verschiedenen Ländern an Protesten beteiligt. In Köln organisierte die Gruppe »Viet Zukunft« an diesem Tag eine Unterschriftenkampagne für eine angemessene Entschädigung. Um politische Verfolgung in Vietnam zu vermeiden, unterhält die Initiative aber keine Homepage und es finden sich auch keine Videos über die Aktion.

Doch FPG ist nicht erst wegen der Umweltschäden in Vietnam in die Kritik geraten. Bereits 1998 wurden Konzernmitarbeiter dabei erwischt, wie sie 3 000 Tonnen giftiger Abfälle vor der kambodschanischen Hafenstadt Sihanoukville im Meer versenken wollten. Auch in Kambodscha geht die dortige eng mit der vietnamesischen Regierung verbündete Kommunistische Partei seit Jahren repressiv gegen zivilgesellschaftliche Initiativen und Gewerkschaften vor. In Taiwan ist in den vergangenen Jahren die Kritik an dem Gebaren des Konzerns gewachsen. Mittlerweile steht FPG auf einer Liste der zehn größten Umweltverschmutzer des Landes. Unabhängige Gewerkschaften prangern auch die Arbeitsbedingungen in dem Konzern an. Immer wieder komme es in Betrieben von FPG zu Todesfällen und anderen Unfällen, schreibt auch die Stiftung Ethecon, die dem Konzern bereits 2009 ihren alljährlich ausgelobten Schmähpreis Black Planet Award verliehen hat. Ethecon hat unter anderem die Forderungen der internationalen Protestbewegung gegen FPG in Deutschland bekannt gemacht.

http://jungle-world.com/artikel/2016/34/54726.html

Peter Nowak

AfD auf einer TTIP-Demo unerwünscht


Freihandelskritik zieht Rechte an

Für einen gerechten Welthandel wollen am 17.9. in sieben Städten in Deutschland TTIP-Gegner demonstrieren[1]. Sie hoffen, vor allem in der SPD die Gegner des bisherigen Abkommens zu stärken. Tatsächlich sitzen im Trägerkreis[2] des Demobündnisses bisher aber nur drei Kreisverbände der SPD, während die Linke, die Piraten, die Grünen und die ÖDP die Demo unterstützen.

Mit der AfD würde eine weitere aufstrebende Partei die Demo unterstützen. Doch der Trägerkreis lehnte die Zustimmung von rechts ab und meint damit ausdrücklich auch die AfD. In einer Erklärung des Bündnisses heißt es:

Wir treten ein für eine solidarische Welt, in der Vielfalt eine Stärke ist. Die Freihandels-Kritik von rechts stützt sich auf völkisch-nationalistische Motive und damit auf Ausgrenzung und Abwertung von anderen, anstatt auf Solidarität zwischen Menschen. Uns geht es dagegen um die Verteidigung sozialer Rechte für alle, den Schutz der Umwelt und die Förderung der Demokratie. Rassistische, rechtspopulistische und antiamerikanische Positionen lehnen wir ab. Mitglieder von AfD, NPD oder anderen Gruppen, die unser Prinzip der Solidarität nicht teilen, sind auf den Demonstrationen ausdrücklich unerwünscht!

Wenn dennoch Gruppen oder Einzelpersonen mit oben genannten Motivationen die Demonstrationen für sich und ihre menschenfeindliche Ideologie zu vereinnahmen suchen, werden wir sie nachdrücklich auffordern, die Demonstrationen zu verlassen.ttip-demo.de

ttip-demo.de

Die AfD mobilisiert allerdings weiter für den 17.9.[3] und verweist darauf, dass das Bündnis möglichst viele Bürger gegen das Freihandelsabkommen auf die Straße bringen will.

Eigentlich ist die AfD für Freihandel

Diese Positionierung der AFD ist zunächst verwunderlich, schließlich waren die Parteigründer großen Teilen ultraliberalen Ökonomen, die den Freihandel unterstützen. Das hat sich mit der Entmachtung der Gruppe um Bernd Lucke geändert. So heißt es jetzt im AfD-Programm:

Um es vorwegzunehmen: Auch wenn der Freihandel normalerweise bejaht wird, darf bezweifelt werden, dass die aktuellen Verhandlungen zum TTIP zu einem für beide Seiten vorteilhaften Ergebnis führen werden. Die Alternative für Deutschland lehnt daher unter den derzeitigen Rahmenbedingungen eine Beschlussfassung ab.AfD

AfD

Damit hat die AFD auch in dieser Frage, den Schulterschluss mit Rechten und Rechtspopulisten, die alle Gegner des Freihandels sind.

Von der Auseinandersetzung um die Demobeteiligung kann die Partei nur profitieren. Schließlich kann sie sich als Gruppe inszenieren, die von Linken ausgegrenzt wird. Es ist sogar möglich, dass sie doch noch auch gegen den Willen des Trägerkreises an der Demo teilnehmen kann.

Es ist nämlich rechtlich gar nicht so einfach, Demoteilnehmer auszuschließen. Diese Erfahrungen mussten bereits vor 2004 Erwerbslosengruppen machen, die gegen die Agenda 2010 mobilisieren. Daran beteiligten sich auch rechte Gruppen. In einigen Städten wurden sie erkannt und ausgeschlossen. In einigen Fällen machte ihnen die Polizei den Weg in die Demo wieder frei.

Der Hintergrund ist der, dass auch Rechte nicht einfach von einer Demo ausgeschlossen werden können, wenn sie diese nicht stören, sondern teilnehmen wollen. Damals ließ sich diese unerwünschte Beteiligung nur verhindern, wenn schon im Motto der Demo deutlich wird, dass es auch um den Kampf gegen Rechts geht. Richtet sich aber das Demomotto nur gegen TTIP ist es schwierig, Rechte auszuschließen. Ob das Eintreten für eine solidarische Welt juristisch ausreicht, um die AfD auszuschließen, muss sich zeigen.

Freihandelskritik zieht Rechte an

Gerade die Kritik an TTIP zieht Rechte an. Schließlich wird dort mit unterschiedlichen Argumenten gegen die Globalisierung agiert und eine nationale Alternative dagegen gestellt. Schon auf früheren TTIP-Demonstrationen waren auch Rechte anwesend.

Antifaschistische Gruppen kritisierten nach der letzten Großdemonstration, dass das Demobündnis der rechten Beteiligung zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe. Da hat die offene AfD-Beteiligung dazu geführt, dass die Beteiligung von Rechts auch im Bündnis stärker diskutiert wird.

Die klare Abgrenzung nach Rechts ist bei Großaktionen oft sehr schwierig durchzusetzen. Teilweise will man neue Leute gewinnen und verzichtet auf eine klare Abgrenzung. So war bei den Organisatoren der deutschen Friedensbewegung der 1980er Jahren Konsens, dass extrem rechte Gruppierungen und Einzelpersonen nicht erwünscht sind. Andererseits wurden auch Metaphern und Slogans verwendet, die nach rechts anschlussfähig sind. Wenn Deutschland als Schlachtfeld der ehemaligen Alliierten, die den NS besiegt haben, dargestellt wurde, konnten Rechte daran anknüpfen, auch wenn ihre Organisationen nicht erwünscht waren. So wurde bei der deutschen Friedensbewegung eben auch toleriert, dass Menschen aus nationalistischen Gründen gegen die Stationierung weiterer Atomraketen sind, wenn sie nur keine Organisationssymbole mitbrachten.

Wenn nun die TTIP- und CETA-Gegner klarstellen würden, dass die Globalisierung eigentlich zu den positiven Ergebnissen des Kapitalismus gehört und nicht diese, sondern die Verwertung und Ausbeutung das Problem sind, würde man sicher viele Rechte von einer Teilnahme an der Demo abhalten.

Doch wie viele Teilnehmer hätten die Demonstrationen dann nach noch? Das verweist auf ein großes Problem, dass es einfacher ist, einen Konsens gegen rechte Organisationen herzustellen als gegen rechte Politikansätze.

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49252/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://ttip-demo.de/home

[2]

http://ttip-demo.de/home/netzwerk/#c607

[3]

http://www.afd-brandenburg.de/afd-brandenburg-ruft-zur-unterstuetzung-der-grossdemo-stoppt-ttip-ceta-am-10-oktober-2015-in-berlin-auf/

Die Mietbremsrebellen

Das Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft wiegelt ab: Es gebe keine Probleme auf dem Wohnungsmarkt, die Mietsteigerungen seien nicht zu hoch. Die Mieterbewegung teilt den Optimismus nicht.

»Deutsche können sich größere Wohnungen leisten«, titelte die FAZ in der vergangenen Woche. Die Konkurrenz von der Süddeutschen Zeitung lieferte einen Artikel mit beinahe gleicher Überschrift und fast identischen Passagen. Das ist nicht verwunderlich: Die Zeitungen schrieben fast wörtlich die Einleitung einer Pressemeldung ab, in der das Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) die frohe Botschaft verkündete, dass es in Deutschland doch keine Mietprobleme gebe. Demnach seien die Mieten seit 2010 um 10,2 Prozent gestiegen, die durchschnittlichen Einkommen aber um 11,5 Prozent.

»Trotz steigender Mieten gibt es in der Breite keinen allgemeinen Mangel an bezahlbarem Wohnraum«, folgert der IW-Immobilienexperte Ralph Henger. Er machte auch gleich deutlich, welchen Zweck die Meldung über den in Deutschland angeblich so entspannten Wohnungsmarkt hat: »Die Politik sollte daher nicht mit flächendeckenden Programmen eingreifen, sondern gezielt handeln. Dazu gehört zum Beispiel, die soziale Wohnraumförderung nur an bestimmten Standorten einzusetzen und dafür zu sorgen, dass die infrastrukturelle Versorgung der ländlichen Räume verbessert wird.«

Zu den verpönten flächendeckenden Programmen gehört beispielsweise die sogenannte Mietpreisbremse, die die Immobilienwirtschaft sowie ihr nahestehende Wirtschaftsinstitute und Medien vehement ablehnen. Dabei wurde die Regelung bereits im Gesetzgebungsverfahren so abgeschwächt, dass sie die Renditen der Hauseigentümer kaum tangiert. Diese sind bisher nicht dazu verpflichtet, die Vormiete anzugeben, weshalb die Höhe der Mietsteigerung bei Neuvermietungen nach wie vor häufig undurchschaubar bleibt. Zudem befürchten viele Mieter, keine Wohnung zu finden, wenn sie auf ihrem Recht bestehen, über die Mieterhöhung informiert zu werden. Dass die Immobilienwirtschaft trotzdem so vehement gegen die Mietpreisbremse vorgeht, liegt also nicht an Renditeeinbußen.

Die Parteien wollen mit der Mietpreisbremse gegenüber einer erstarkenden Bewegung von renitenten Mietern vor allem in größeren Städten den Eindruck erwecken, auf die Lage am Wohnungsmarkt entschlossen einzuwirken. Engagierte Mieter bezeichnen die Mietpreisbremse hingegen als Placebo, das beruhigen soll, aber nicht wirklich etwas verändert.

An den Plakaten für die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im September wird deutlich, welch große Relevanz das Mietenthema zumindest bei SPD, Linkspartei und Grünen hat. Vereinnahmen lässt sich die Mieterbewegung in der Stadt jedoch nicht. Sie versteht sich als außerparlamentarisch und lehnt daher jegliche Parteiverbindungen ab. Auch auf ihrer für den 10. September geplanten Demonstration, die unter dem Motto »Gemeinsam gegen Verdrängung, Verarmung und den Ausverkauf der Stadt« stattfinden soll, wird es keine Politikerreden geben.

Im Demonstrationsaufruf wird detailliert aufgeführt, welche Bevölkerungsteile zurzeit größere Summen ihres Einkommens für die Miete verwenden müssen: Menschen mit niedrigen Einkommen, Behinderte, Migranten, Alleinerziehende, Studierende, viele Gewerbetreibende, Senioren und sogar Personen, die sich selbst noch zur Mittelschicht zählen. Die akribische Aufzählung dieser Betroffenengruppen ergibt in diesem Fall durchaus Sinn. Damit wird deutlich, wer trotz der von vielen Medien unkritisch abgeschriebenen IW-Propaganda zu denjenigen gehört, die Wohnungsprobleme haben.

Diese Menschen kommen auch in den Werbeclips der CG-Group nicht vor, in denen die Immobilienfirma skizziert, wie sie Berliner Stadtteile mit ihren Bauprojekten für das Kapital attraktiv macht. Zurzeit will sie ausgerechnet in der wegen ihrer linken Haus­projekte bekannt gewordenen Rigaer Straße in Berlin-Friedrichshain das »Carré Sama-Riga« errichten und stößt damit in der Nachbarschaft auf Widerstand. Im firmeneigenen CG-Magazin wird die Mietpreisbremse als »ein ebenso überflüssiges wie rechtlich bedenkliches Instrument staatlicher Regulierung« bezeichnet.

Der Soziologe und Regisseur des Films »Mietrebellen«, Matthias Coers, bestätigt im Gespräch mit der Jungle World, dass ärmere Menschen in den vergangenen Jahren mehr von ihrem knappen Geld für die Miete aufbringen mussten – wenn sie überhaupt eine Wohnung fanden. Für die von der Berliner Mietergemeinschaft herausgegebene Publikation Mieterecho machte Coers kürzlich eine Fotoreportage über Wohnungssuchende in Berlin. »Dabei konnte ich erfahren, dass sich mehr als 150 Menschen um eine Dreiraumwohnung bewarben und selbst eine gutverdienende Frau aus der Mittelschicht über ein halbes Jahr suchen musste, um dann eine Parterrewohnung zu finden«, sagt er.

Es ist der in den vergangenen Jahren größer werdenden Mieterbewegung zu verdanken, dass fehlende bezahlbare Wohnungen nicht mehr als individuelles, sondern als gesellschaftliches Problem betrachtet werden. Gegen diese Erkenntnis richtet sich das IW mit seinem dreiseitigen Papier, das von manchen Medien unkritisch sogar zur Studie geadelt wurde. »Offenkundig hat sich keine der Redaktionen die Mühe gemacht, beim IW anzurufen und nach dessen Datengrundlage zu fragen. Die rückt das Institut nicht raus«, schrieb der Taz-Kommentator Martin Reeh. Angesichts einer derart frohen Botschaft, wie das IW sie verbreitet, benötigen manche Zeitungen anscheinend keine Quellen mehr.

http://jungle-world.com/artikel/2016/34/54719.html

von Peter Nowak

Jugendhilfe nach Länderkassenlage

Ein Entwurf zur Novellierung der gesetzlichen Grundlage von Kinder- und Jugendarbeit stößt bei Praktikern auf scharfe Kritik

»Junge Menschen haben ein Recht auf Förderung ihrer Entwicklung und der Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit«, heißt es im Buch 8 des Sozialgesetzbuches (SGB VIII). Nun steht eine Novellierung an. Ein Entwurf des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend liegt seit Juni vor.

Doch werde die geplante Novelle zu wenig öffentlich diskutiert, beklagen engagierte Sozialarbeiter und Sozialpädagogen aus der Kinder- und Jugendarbeit. Oliver Conraths von der Systematischen Erziehungshilfe Siegen zieht sogar Parallelen zu den Geheimverhandlungen zum Freihandelsabkommen TTIP: »Bei der letzten Reform des SGB VIII im Jahre 1990 wurde eine offene und fachlich fundierte Diskussion geführt. Im Ergebnis wurde ein Gesetz verabschiedet, welches von vielen Fachkräften angenommen wurde.« Doch diesmal seien »geplanten Änderungen von Intransparenz und Geheimhaltung gekennzeichnet«, so Conraths gegenüber »nd«. Dabei seien davon bundesweit über eine Million junge Menschen davon betroffen.

Um so bedauerlicher finden Praktiker wie Conraths dieses Ausbleiben einer Diskussion, weil der Entwurf zahlreiche kritikwürdige Punkte enthalte: Bisher habe das SGB VIII »in einer für viele andere Länder vorbildlichen Weise Rechte für Kinder und Jugendliche und deren Eltern auf Hilfen ermöglicht«. Nun könnten diese »unter dem Deckmantel einer ›Großen Lösung‹ aus finanziellen Gründen zurechtgestutzt werden«, fürchtet Conraths. So sollten Eltern künftig keinen Anspruch auf »Hilfen zur Erziehung« mehr haben, sondern Kinder und Jugendliche auf »Hilfe zur Entwicklung«. Doch klinge das nur wie eine Stärkung der Kinderrechte. Eltern werde so die Möglichkeit genommenen, eine kindeswohlorientierte Erziehung zu unterstützen.

Kritik übt der Praktiker auch an vom Finanzministerium forcierten Bestrebungen einer »Regionalisierung der Sozialgesetzgebung«: Die Länder sollen von Bundesstandards der Kinder- und Jugendarbeit abweichen können. »Folge ist eine Regionalisierung von Armut und sozialer Benachteiligung, die auf keinen Fall mit dem Grundgesetz vereinbar ist«, so Conraths.

Die Pädagogin Marie-Luise Conen spart in ihrer »nd« vorliegenden Stellungnahme zur angestrebten Novelle gleichfalls nicht mit Kritik. Deutschland sei zwar bei der Inklusion von Behinderten anderen Ländern voraus. Doch sei die Weise, wie Inklusion umgesetzt werde, ein Jammer: »Unter dem Deckmäntelchen der Inklusion werden die Ansprüche an die Mitarbeiter zwar hochgeschraubt, bis an die immer weiter dehnbare Belastungsgrenze.« Doch die erforderlichen Mittel vor allem für das Personal würden nicht zur Verfügung gestellt, moniert Conen. Durch die geplante Novelle werde diese Entwicklung noch verschärft. Gerade Familien, die am meisten staatlicher Hilfe bedürfen, würden so weiter benachteiligt.

Conen kritisiert auch, dass in dem Gesetzentwurf soziale und sozialpädagogische Probleme zunehmend zu medizinischen Fragen erklärt würden. »Die Tendenz von Medizinern und Experten, die soziale Probleme nur noch auf falsche Gene, falsche Willensbemühungen und falsche Individualentscheidungen zurückführen, findet in vielen Politikkanälen ein offenes Ohr«, sagt sie. Politiker und Entscheider müssen sich dann nicht mehr mit sozialen Verwerfungen auseinandersetzen, so das Fazit der engagierten Sozialpädagogin.

Die Kritiker des geplanten neuen SGB VIII wollen nun durch eine möglichst breite öffentliche Debatte verhindern, dass diese Tendenz auch in Gesetze gegossen wird.

Peter Nowak

Ohne Telefonnummer kein sozialer Streik

Gewerkschaft und Nachbarschaft – Das Buch »Solidarische Netzwerke« ist auch ein Praxisratgeber für soziale Proteste

Kurierfahrer und private Taxifahrer befanden sich in London im August für mehrere Tage im Ausstand gegen die Senkung der Pauschale, die sie pro Lieferung oder Fahrt bekommen. Unterstützt wurden sie von kleinen Basisgewerkschaften. Sie sorgen auch dafür, dass der kurze Arbeitskampf in Deutschland überhaupt wahrgenommen wurde. Schließlich gibt es auch hierzulande unter dem wachsenden Heer der Kurierdienste deutlichen Unmut über die geringen Pauschalen und schlechte Arbeitsbedingungen.

Daher ist es auch begrüßenswert, dass die Sektion Frankfurt am Main der Basisgewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW) Diskussionen und Erfahrungen von Arbeitskämpfen und sozialen Bewegungen aus dem englischsprachigen Raum ins Deutsche übersetzt und sowohl in gedruckter Form als auch dem Internetportal zweiter-mai.org zugänglich macht. Kürzlich hat die IWW unter dem Titel »Solidarische Netzwerke – Ein Leitfaden« Texte über die Geschichte und die politische Praxis des Solidarischen Netzwerkes aus Seattle übersetzt.

Die Stadt in den USA war 1999 kurzzeitig als Ort des linken politischen Aktivismus in die Schlagzeilen beraten, weil dort die Proteste gegen eine WTO-Konferenz zum Aufschwung der globalisierungskritischen Bewegung beigetragen haben. Doch über die Alltagskämpfe in der Stadt war bisher wenig bekannt. Die Herausgeber der Broschüre betonen, dass die Erfahrungen aus den Kämpfen in den USA nicht einfach auf die hiesigen Verhältnisse übertragen werden können. Doch die Gemeinsamkeiten sind in vielen Bereichen nicht zu übersehen: »Was unser Interesse geweckt hat, war die Idee, sich nicht ausschließlich gegen das Chefs, das Jobcenter, oder innerhalb eines Wohnhauses zu organisieren. […] So können vielfältige Widersprüche und Konflikte in den Blick genommen werden, die sich aus unseren prekären Alltag ergeben«, schreibt die IWW Frankfurt im Vorwort.

Damit greifen sie Debatten auf, die unter dem Label sozialer Streik in Deutschland geführt werden. Es geht darum, wie Arbeitskämpfe im prekären Sektor mit den Widerstand gegen hohe Mieten oder gegen Fahrpreiserhöhungen im Öffentlichen Nahverkehr verbunden werden können Bisher existieren in manchen Städten Initiativen, die sich um Stadtteilarbeit kümmern, andere widmen sich der Unterstützung von Arbeitskämpfen. Der Kontakt zwischen den Gruppen läuft über Bündnistreffen. Das solidarische Netzwerk Seattle versteht sich dagegen als Arbeiter- und Mieterorganisation. »Statt eine gemeinsame Identität als Mieter, Nachbarschaft oder Arbeiter eines bestimmten Sektors zu entwickeln, erzeugen wir das Gefühl einer umfassenden Klassensolidarität«, heißt es in dem Selbstverständnis der Aktivisten. Im weiteren Text wird deutlich, dass es sich dabei um eine Zielvorstellung handelt. Sehr detailliert wird beschrieben, wie man soziale Kämpfe beginnen kann. Dabei wird die Wichtigkeit einer allgemeinverständlichen Sprache ebenso betont wie die der Orte zum Kleben von Plakaten, damit sie Wirkung zeigen. Zudem sei eine Telefonnummer wichtig, damit Interessierte Kontakt aufnehmen können.

Diese und viele andere praktische Tipps mögen sich unspektakulär anhören, sind aber für Menschen nützlich, die auch hierzulande solidarische Netzwerke aufbauen wollen. Die Autoren machen auch klar, dass man für die Organisierungsarbeit einen langen Atem braucht und sich selber klare Ziele stecken muss. Daran aber hapert es oft, so dass die Verfasser am Ende wieder einmal ein scheinbar unbedeutendes Detail erinnern. »Abschließend sei bemerkt, dass für die meisten Menschen das größte Hindernis bei der Entwicklung ihrer Organisationsfähigkeiten ihre eigene Desorganisierung ist, z.B. keinen Kalender zu führen.«

Die Broschüre kann hier heruntergeladen werden: dasND.de/netzwerke

Peter Nowak

Roma-Familien verlieren ihre Wohnungen

Viele Klingelschilder in der Emser Straße 92 in Neukölln sind mehrfach überklebt. Andere wiederum sind abgerissen oder durchgestrichen. »Bald ist das Haus leer«, sagt eine Nachbarin, die mit ihren Hunden vor dem Haus steht. Tatsächlich soll ein Großteil der Bewohner bis Ende August das Haus verlassen. Seit eineinhalb Jahren sind dort wohnungslose Menschen untergebracht. Die meisten sind Romafamilien aus Osteuropa. Das Jobcenter übernimmt die Kosten von 25 Euro pro Person und Tag. Doch die im Mai in Kraft getretene Zweckentfremdungsverordnung stoppte weitere Zuweisungen und die weitere Kostenübernahme.

»Dieses an sich sinnvolle und begrüßenswerte Gesetz geht hier leider in erster Linie zulasten der ohnehin schon prekären Bewohner, denen nun wieder die Obdachlosigkeit droht«, sagt Hendrik Lackus dem »nd«. Der Sozialberater engagiert sich beim Roma-Stammtisch, einem wöchentlichen Treffen auf einem öffentlichen Platz in Neukölln. Der Stammtisch wird bewusst unabhängig von staatlichen Institutionen organisiert, damit die Menschen freier über ihre Probleme sprechen können.

Bewohner der Emser Straße 92 berichteten auf dem Stammtisch, dass sie ihre Wohnungen verlassen müssen und nicht wissen, wo sie unterkommen können. Unter ihnen sind auch Familien mit Kindern, die regelmäßige medizinische Hilfe benötigen, sagt Lackus.

Vermieterin des Hauses ist Meta Seibert-Diebel. Sie hatte zunächst Zimmer an Montagearbeiter vermietet, bevor sie 2015 ihr Geschäftsmodell umstellte und Verträge mit der Sozialen Wohnungshilfe machte. »Ich will weiterhin an die Romafamilien vermieten und kann nicht verstehen, dass die nun unter die Zweckentfremdungsverordnung fallen sollen«, erklärte sie dem »nd«. Nachdem allerdings auch das Amtsgericht das Vorgehen der Behörden bestätigt habe, sehe sie zum Auszug der bisherigen Bewohner keine Alternative. Da die Ämter die Kosten nicht mehr übernehmen, würden zahlreiche Bewohner seit Monaten mietfrei wohnen. Zur Forderung der Nachbarschaftsinitiative »Emsianer«, mit den Roma reguläre Mietverträge abzuschließen, wollte Seibert-Diebel sich nicht äußern. Die bezirkliche Soziale Wohnhilfe ließ mehrere Nachfragen nach einer Stellungnahme unbeantwortet.

Peter Nowak

Neoliberaler Sicherheitsfetisch

In den vergangenen Wochen präsentierten Unionspolitiker zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit Vorschläge zum weiteren Abbau der Demokratie. Die SPD erklärte wiederum, sich realistischen Vorschlägen in der Sicherheitspolitik nicht verschließen zu wollen. Die Politologin Anna Kern hat nun ein Buch herausgegeben, das den regelmäßig wiederkehrenden Topos der Sicherheitspolitik in einen größeren gesellschaftlichen Kontext stellt. Im ersten Kapitel verwirft Kern Erklärungsmuster, die von einem quasi naturgegebenen Sicherheitsbedürfnis bei allen Menschen ausgehen.

Hingegen zeigt sie auf, dass der Sicherheitsbegriff einem ständigen Wandel unterzogen ist. Derzeit sieht sie in der kapitalistischen Produktionsweise einen ständigen Quell von Unsicherheit. Angelehnt an das Marx’­sche Theorem vom Fetischcharakter der Ware, spricht Kern von einem Sicherheitsfetisch. »Demnach bezieht sich der Staat auf soziale Ängste, um nationale Politiken zu legitimieren, während die Sicherheitsdienste deren profitorientierte Kommodifizierung zum Ziel haben«, beschreibt Kern die Entwicklung, Sicher­heit zur Ware zu machen. Entgegen mancher linker Plattitüden vom repressiven Staat versus unterdrückte Bevölkerung beschreibt sie, wie relevante Teile der Bevölkerung in den Sicherheitsdiskurs einbezogen werden. Als Beispiel führt sie die im vergangenen Jahrzehnt intensivierte Kooperation zwischen Nichtregierungsorganisationen und Staatsapparaten bei der Bekämpfung häuslicher Gewalt und der Drogenprävention an. Ihre fundierte Analyse beendet Kern mit Gedanken über eine alternative Sicherheitspolitik, die mit Bezügen zu Rojava und Toni Negri etwas beliebig wirken. Das Buch ist ein wichtiger Beitrag für eine linke Sicherheitsdebatte, die sich nicht darauf beschränkt, die angeblich immer schlimmer werdende Repression zu beklagen.

Anna Kern: Produktion von (Un-)Sicherheit – Urbane Sicherheitsregime im Neoliberalismus. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2016, 296 Seiten, 29,80 Euro

http://jungle-world.com/artikel/2016/34/54743.html

Peter Nowak

Theorie schlägt Praxis, einstweilen zumindest

Auf der »Sozialen Kampfbaustelle« wurde in Leipzig über Stadtpolitik diskutiert – bald sollen nun auch praktische Schritte folgen

Pavillons, Stühle Tische und Bierbänke luden in der vergangenen Woche zwischen bunten Häusern im Leipziger Stadtteil Lindenau zum Verweilen ein. Das Inventar gehörte zur »Sozialen Kampfbaustelle«, die vom 15. bis zum 22. August am Rande der Gießer Straße ihre Zelte aufgeschlagen hatte. »Das Protestcamp mitten in Leipzig sollte Stadtteilbewohnern die Möglichkeit geben, sich über steigende Mieten, Stress mit dem Jobcenter oder im Minijob auszutauschen«, berichtet Mitorganisator Lukas gegenüber »nd«.

Die Idee dafür kam von Menschen aus den Leipziger Stadtteilen Plagwitz und Lindenau. Inspiriert hatte sie ein Kölner Protestcamp, das unter dem gleichen Namen in den Jahren 2013 und 2014 den Widerstand gegen Sanktionen im Jobcenter, hohe Mieten und Verdrängung organisatorisch bündeln wollte.

Auch in Leipzig stand in unterschiedlichen Arbeitsgruppen die Verbindung verschiedener Alltagskämpfe im Mittelpunkt der Diskussionen, die sich dann meist noch an der Bar oder beim gemeinsamen Essen fortsetzen. Bewohnerinnen und Bewohner eines noch unsanierten Hauses in Lindenau berichteten etwa, wie sie mit Unterstützung aus der Nachbarschaft verhindern konnten, dass der neue Investor die Kamine abreißen lässt und damit das Haus unbewohnbar macht.

Solche Beispiele motivierten offensichtlich. »Es gibt in Leipzig viele Wagenplätze, Wohngemeinschaften und Kneipen, die sich der Entwicklung zu immer teurerem Wohnraum entgegenstellen«, meint etwa Lukas, der an dem Protestcamp teilnahm. Obwohl die Organisierung im Stadtteil im Mittelpunkt der Diskussionen stand, widmete sich das Camp aber auch internationalen Themen. Am Samstagabend berichteten kurdische Aktivisten über ihre Versuche, in Rojava Strukturen der Selbstorganisation aufzubauen.

Doch nicht alle in Leipzig freuen sich über den Alltagswiderstand im Stadtteil. »Unter dem sehenden Auge der Stadtspitze hat sich eine rechtsfreie Subkultur entwickelt«, monierte etwa der Ortsvorsitzende der CDU-Altwest Michael Weickert und forderte wegen des Protestcamps mehr Polizeipräsenz im Stadtteil. Solcher politischer Druck blieb nicht ohne Folgen. Eine bereits erteilte Zusage an die Politcamper in einem Nachbarschaftsgarten in Lindenau wurde kurzfristig zurückgezogen. Stolz waren die Organisatoren aber, dass es ihnen gelungen ist, das Camp ohne Anmeldung am Ersatzort durchzuführen. »Die Gemeinflächen, die wir nutzen, gehören denen, die hier wohnen – und nicht dem Ordnungsamt«, lautete die Begründung.

Lukas erlebte die Tage im Camp als ein soziales Experiment. Doch etwas mehr Resonanz über den Kreis der politisch aktiven Szene hinaus hätte er sich schon gewünscht. Das Camp sei durch den Ortswechsel im Straßenbild des Viertels zu wenig sichtbar gewesen, vermutet der Aktivist. Auch wurde das ursprüngliche Vorhaben verworfen, während des Camps zu Orten der Verdrängung in der Stadt zu gehen und mit Betroffenen Kontakt aufzunehmen: Es gab so viele Workshops und Veranstaltungen, dass für eine solche praktische Anschauung nicht ausreichend Zeit blieb.

Doch habe die Theorie die Praxis nur zeitweise geschlagen, heißt bei den Campern. Diese Planungen seien nur aufgeschoben: »Auf dem Camp sind konkrete Ideen für den weiteren Widerstand gegen Entmietung und Verdrängung vorgestellt worden.«

Diese Vorschläge sollen von Interessierten konkretisiert werden. Perspektivisch ist die Gründung eines Solidarischen Netzwerkes im Stadtteil geplant. Damit nehmen die Leipziger Stadtteilaktivisten Bezug auf ein Organisationsmodell, mit dem in verschiedenen Städten der USA in den letzten Jahren erfolgreiche Kämpfe gegen Verdrängung und Niedriglöhne geführt wurden.

Eine Art organisatorischer Leitfaden zum Aufbau eines solchen Solidarischen Netzwerkes ist mittlerweile in die deutsche Sprache übersetzt worden und kann im Internet heruntergeladen werden.

zweiter-mai.org/tag/solidarische-netzwerke/

Peter Nowak

Das Urteil im Fall Lohfink ist ein Rollback für die Rechte der Frauen


Es spricht einer Frau das Recht ab, selber zu definieren, wann ein Sexualakt eine Vergewaltigung ist

„Wir brauchen endlich ein Gesetz, dass die Betroffenen schützt und nicht die Täter.“ Diese Forderung auf der Facebookseite Solidarität mit Gina Lisa Lohfink[1] hat noch einmal besondere Aktualität erhalten.

Das Amtsgericht Tiergarten hat die Frau am 22. August wegen falschen Verdächtigungen zu einer Geldstrafe von 20.000  Euro verurteilt[2]. Sie hatte zwei Männer der Vergewaltigung im Sommer 2012 bezichtigt und angezeigt. Unstrittig ist, dass die Männer Lohfink beim Sexualverkehr gefilmt und diese Videos ins Netz gestellt hatten. Dort ist deutlich zu sehen, dass Lohfink „Hört auf“ ruft.

Das Gericht hat diese Äußerungen nur auf das Filmen bezogen und daraus geschlussfolgert, dass der Sexualverkehr keine Vergewaltigung war (vgl. „Es gibt einen Unterschied zwischen Kein-Blümchen-Sex und einer Vergewaltigung“[3]). Die Männer wurden bereits zuvor vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen. Ein solches Urteil könnte man noch so interpretieren, dass eben sehr schwer ist, Delikte wie Vergewaltigung rechtlich zu verfolgen, was eine feministische Kritik bereits vor Jahrzehnten wusste.

Das Urteil ist ein Angriff auf die Definitionsmacht der Frauen

Doch das gestrige Urteil hat eine andere Dimension. Es spricht einer Frau das Recht ab, selber zu definieren, wann ein Sexualakt eine Vergewaltigung ist. Das wird aus der Argumentation des Gerichts sehr deutlich. So wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, dass Lohfink vor dem Geschlechtsakt K.-o. verabreicht worden seien.

Dafür wurden die aufgenommen Videos angeführt, auf denen Lohfink ansprechbar erschienen sei. Nun hat die Frau allerdings auch nie behauptet, sie wisse genau, dass ihr diese K.-o.-Tropfen verabreicht wurden. Sie hat es vermutet. Die Frage ist aber, warum kann hier ein eindeutig auf illegale Weise erstelltes Video – Frau Lohfink war mit den Aufnahmen nicht einverstanden und wollte sie löschen[4] -, mit dem das Persönlichkeitsrecht der Frau verletzt wurde, überhaupt als Beweismittel gegen sie verwendet werden kann?

Schließlich sind genügend Fälle bekannt, wo illegal mitgeschnittene Gespräche nicht als Beweismittel verwendet werden durften, auch wenn Angeklagte freigesprochen werden mussten. Doch viel gravierender ist der enge Begriff von Vergewaltigung, den das Gericht zur Grundlage genommen hat.

Die wäre danach nur erfüllt, wenn die Frau nicht mehr ansprechbar wäre und sich auch nicht mehr artikulieren konnte  Dabei wurde nicht zur Kenntnis genommen, dass es heute einen viel weiteren Vergewaltigungsbegriff gibt, der voraussetzt, dass die Frau deutlich macht, dass sie mit dem Geschlechtsverkehr nicht oder nicht mehr einverstanden hat. Der Einschub ist im Fall Lohfink wichtig.

Wenn das Gericht selber einräumt, dass die Frau die Videoaufnahmen ablehnte und das auch artikulierte, dann ist schwer vorstellbar, wieso das Gericht dann zu der Überzeugung kommt, sie wollte mit ihren Ausrufen nicht den Geschlechtsakt beenden. Schließlich war das der Gegenstand des Filmens.

Sie hatte erlebt, dass sich die beiden Männer an diesen Punkt zweifelsfrei über ihren Willen hinwegsetzen. Dann ist es doch eigentlich sehr wahrscheinlich, dass sie mit diesen Männern eben keinen sexuellen Kontakt mehr wollte und genau das artikulieren wollte. Dann könnte selbst ein zunächst einvernehmlicher Sex zu einer Vergewaltigung werden, wenn Lohfink angesichts der Videokameras die weitere Zustimmung verweigerte.

Im Zweifel für eine Frau, die eine Vergewaltigung anzeigt

Ein solches durchaus realistisches Szenario mag im Sinne des Grundsatzes „im Zweifel“ für die Angeklagten nicht zu einer Verurteilung der Männer ausreichen. Nur stand in Berlin die Frau vor Gericht, die die Vergewaltigung angezeigt hat. Für sie galt nun der Grundsatz „im Zweifel für die Angeklagte“ nicht und das ist in der Tat ein Skandal und da muss man ausnahmsweise mal Alice Schwarzer zustimmen[5].

Lohfinks Anwalt Burkhard Beneken erklärte nach dem Urteil, er werde mit seiner Mandantin besprechen, ob sie die Kraft habe, in Berufung zu gehen. „Wir tendieren zu ‚Ja'“, wird der Anwalt vom Rundfunk Berlin-Brandenburg zitiert[6].

Mit dem Hinweis darauf, dass man sich jetzt beraten müsse, „ob Frau Lohfink die Kraft dazu hat“, wird der Rollback deutlich, der die Entscheidung für die Rechte der Frauen bedeutet. Sie brauchen wieder besondere Kraft, um sexuelle Gewalt  öffentlich zu machen. Dabei gehörte es mal zu einer feministischen Praxis, Frauen  die gesetzlichen Möglichkeiten in die Hand zu geben, sexuelle Gewalt auch im Alltag, im engsten Freundes- und Familienkreis öffentlich zu machen.

Darin sahen viele Männer, die auf ihre patriarchalen Privilegien nicht verzichten wollten, eine große Gefahr. Mit dem Urteil scheint ihre Welt wieder  in Ordnung. Das wird in einem Kommentar[7] von Christian Bommarius in der Berliner Zeitung deutlich, für den nach der – noch nicht rechtskräftigen – Gerichtsentscheidung klar ist, dass es nie eine Vergewaltigung gegeben hat. Ihre „Hört-auf-“ Rufe in den Video-Szenen seien nur „auf das Filmen, nicht auf den Sex“ bezogen.

Zugleich polemisiert Bommarius gegen alle, die sich mit Lohfink solidarisierten, Sie seien vom Amtsgericht Berlin indirekt mit verurteilt worden. Selbstverständlich hält Bommarius auch nichts von der Verschärfung der Vergewaltigungsgesetze. Denn schließlich müssen die Privilegien des Mannes, der seine Lust ausleben will, wann und wo es ihm passt, gewahrt bleiben.

Die falschen Frauenfreunde nach Köln sind jetzt wieder Männerrechtler

Man stelle sich vor, nicht zwei semiprominente Deutsche, sondern Migranten wären von Lohfink der Vergewaltigung bezichtigt worden. Sie hätte sich von falschen Solidaritätsbekundungen all derer, die jetzt man wieder als strikte Männerrechtler auftreten, nicht retten können.

Die Reaktionen auf das Lohfink-Urteil scheint die zu bestätigen, die in der großen Aufregung nach der Silvesternacht von Köln nicht ein geschärftes Bewusstsein für Frauenrechte wahrnahmen, sondern nur das Fortleben der völkischen Fama von der „Schwarzen Schmach“[8] erkennen wollten[9].

Deutsche Frauen sollen vor den „ausländischen Horden“ geschützt werden. In der Folge von Köln gab es in sozialen Netzwerken immer wieder Meldungen von angeblichen sexuellen Übergriffen von Männern mit Migrationshintergrund auf deutsche Frauen. In den meisten Fällen haben sich diese Meldungen als falsch erwiesen. Kaum jemand hat gefordert, dass hier der Unschuldsbeweis gilt.

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49204/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

https://www.facebook.com/events/1176173592404336

[2]

http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/gina-lisa-lohfink-ag-tiergarten-falsche-verdaechtigung-keine-vergewaltigung

[3]

http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/gina-lisa-lohfink-ag-tiergarten-falsche-verdaechtigung-keine-vergewaltigung/

[4]

http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/gina-lisa-lohfink-ag-tiergarten-falsche-verdaechtigung-keine-vergewaltigung/2/

[5]

http://web.de/magazine/panorama/prozess-gina-lisa-lohfink-alice-schwarzer-bezeichnet-urteil-skandal-31822750

[6]

http://www.rbb-online.de/panorama/beitrag/2016/08/berlin-prozess-gina-lisa-lohfink-vergewaltigung-prozess-sachverstaendiger-zeuginnen.html

[7]

http://www.berliner-zeitung.de/politik/meinung/kommentar-solidaritaet-als-falsche-verdaechtigung-24632502

[8]

https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Schwarze_Schmach

[9]

http://www.heise.de/tp/news/Sexismus-nur-wenn-Auslaender-dabei-sind-3082615.html

Feindbild Israel

Bild: K. Culina // CC BY-SA 4.0

Kevin Culina und Jan Fed­ders unter­su­chen den Anti­se­mi­tis­mus und regres­si­ven Anti­zio­nis­mus in einer wich­ti­gen Publi­ka­tion der neuen Rech­ten

Die AfD hat seit Wochen einen hand­fes­ten Anti­se­mi­tis­mus­streit. Aus­ge­löst wurde er durch anti­se­mi­ti­sche Schrif­ten des mitt­ler­weile zurück­ge­tre­te­nen AfD-Land­tags­ab­ge­ord­ne­ten von Baden Würt­tem­berg Wolf­gang Gedeon. Sofort hatte sich auch der Chef­re­dak­teur der Monats­zeit­schrift Com­pact in diese Ange­le­gen­heit zu Wort gemel­det. Unter dem Titel »Appell an die Ein­heit der AfD« ergriff er Par­tei für Gedeon. »Schließt keine Per­so­nen aus, deren Aus­schluss der poli­ti­sche Geg­ner for­dert, son­dern stellt Euch gerade hin­ter sol­che Ange­grif­fe­nen, auch wenn sie in der Ver­gan­gen­heit poli­ti­sche Feh­ler gemacht haben.« Diese Par­tei­nahme von Com­pact ist nicht ver­wun­der­lich, wenn man ein kürz­lich im Ver­lag Edi­tion Assem­blage unter dem Titel »Im Feind­bild ver­eint« erschie­ne­nes Buch zur Grund­lage nimmt. Auf knapp 100 Sei­ten unter­su­chen die Sozi­al­wis­sen­schaft­ler Kevin Culina und Jonas Fed­ders den Stel­len­wert des Anti­se­mi­tis­mus bei dem Monats­ma­ga­zin Com­pact.

Die Zeit­schrift habe sich inner­halb kur­zer Zeit zu einem der rele­van­tes­ten Quer­fron­t­or­gane im deutsch­spra­chi­gen Raum ent­wi­ckelt, begrün­den die Auto­ren ihr Inter­esse an die­ser Publi­ka­tion. Zudem beton­ten sie, dass Com­pact sich von den ande­ren rech­ten Medien dadurch unter­schei­det, dass dort immer wie­der ver­sucht wird, Brü­cken zu Tei­len der Lin­ken zu bauen. Elsäs­ser hat wie­der­holt dazu auf­ge­ru­fen, Rechte und Linke soll­ten gemein­sam für die Sou­ve­rä­ni­tät Deutsch­lands kämp­fen. In den bei­den ers­ten Kapi­teln geben die Auto­ren einen kur­zen Über­blick über die wis­sen­schaft­li­chen Dis­kus­sio­nen zu Quer­front und zum Anti­se­mi­tis­mus. Dabei stel­len sie dem codier­ten Anti­se­mi­tis­mus in den Mit­tel­punkt ihre Über­le­gun­gen. »Wäh­rend also der offen neo­na­zis­ti­sche Anti­se­mi­tis­mus bis­wei­len aus poli­ti­schen Dis­kur­sen aus­ge­grenzt wird, haben sich gewisse Arti­ku­la­ti­ons­for­men für anti­se­mi­ti­sche Res­sen­ti­ments her­aus­ge­bil­det, wel­che zwar auf das starke Fort­be­stehen von anti­se­mi­ti­schen Posi­tio­nen in der Gesell­schaft ver­wei­sen, aber nicht immer als sol­che (an)erkannt wer­den und daher bis weit in die selbst ernannte bür­ger­li­che ‘Mitte’ hin­ein­rei­chen«, schrei­ben die Sozi­al­wis­sen­schaft­ler. Anhand der sehr detail­lier­ten Ana­lyse ver­schie­de­ner Com­pact-Arti­kel zeig­ten Culina und Fed­ders auf, der ein codier­ter Anti­se­mi­tis­mus einen zen­tra­len Stel­len­wert in der Com­pact-Bericht­erstat­tung hat. Die Auto­ren spre­chen sogar davon, dass er der klein­ste gemein­same Nen­ner ist, auf den sich die Leser eini­gen kön­nen. Dabei wird man offen anti­se­mi­ti­sche Äuße­run­gen wie sie in den Schrif­ten Gede­ons in der Com­pact kaum fin­den. Dafür wird mit Meta­phern und Bil­dern gear­bei­tet, der die Leser durch­aus ent­spre­chend zu deu­ten wis­sen. Das zeigt sich an eini­gen abge­druck­ten Leser­brie­fen, in denen die Zeit­schrift als letzte Ver­tei­di­ge­rin des freien Wor­tes hoch­ge­lobt wird.
»Für den juden­feind­li­chen Gehalt einer Aus­sage über die ‘Rocke­fel­lers’ oder die ‘Roth­schilds’ ist deren tat­säch­li­che Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit von kei­ner­lei Bedeu­tung, solange in einem brei­te­ren Rezi­pi­en­t_in­nen­kreis die Auf­fas­sung vor­herrscht, es han­dele sich um ein­fluss­rei­che Fami­lien mit jüdi­schen Wur­zeln. Adorno schrieb einst sehr tref­fend, der Anti­se­mi­tis­mus sei ‘das Gerücht über die Juden’«, schrei­ben die Her­aus­ge­ber. Am Schluss des Buches gehen sie auch auf die kon­tro­verse Debatte um die Frie­dens­mahn­wa­chen ein, die heute weit­ge­hend ver­ges­sen ist. Das Buch soll eine kri­ti­sche Debatte um den Umgang mit Com­pact anre­gen. »Denn von der Com­pact geht eine Gefahr aus, dem viel mehr Wider­spruch ent­ge­gen­ge­stellt wer­den muss«, so der Wunsch der bei­den Her­aus­ge­ber.

Feindbild Israel

Kevin Culina / Jonas Fed­ders
Im Feind­bild ver­eint: Zur Rele­vanz des Anti­se­mi­tis­mus in der Quer­front-Zeit­schrift Com­pact 2016, Edi­tion Assem­blage, 96 Sei­ten, 9,80 Euro
ISBN 978–3-96042–004-0 | WG 973

Überdosis Trump in den deutschen Medien

– aber zu den Berliner Wahlen nur Kunstkritik?

Droht Anfang November ein Bundespräsident Trump? Diesen Eindruck konnte man in den letzten Wochen haben. Fast täglich wurden wir mit den neuesten Äußerungen des republikanischen Präsidentschaftskandidaten bombardiert, die in der Regel mit dem Hinweis versehen waren, nun habe Trump endgültig seine Chancen auf einen Sieg verspielt. Wenn es doch anders kommt, wird der Großteil dieser Medien das alte Feindbild Amerika polieren, das unter Bush und Reagan so gut zog und unter Obama etwas floppte.

Was die angeblich karrierehemmenden Äußerungen Trumps betrifft, sei nur daran erinnert, dass Präsident Reagan zum Scherz vor einem nicht abgeschalteten Mikrophon der Sowjetunion mal den Krieg erklärte. Beim konservativen Wählersegment hat ihm das nicht geschadet. Was aber die „Überdosis US-Wahlen“ in den hiesigen Medien betrifft, so hat Karsten Laske in der Wochenzeitung Freitag treffend formuliert[1]: „Eine Nachricht, wer am Ende das Ding gewonnen hat und Präsident wird. Das nehme ich gern zur Kenntnis.“

Berlin-Wahl entscheidet über Karriereknick von Gabriel

Bis dahin könnten wir uns ja mal daran erinnern, dass in den nächsten Wochen in Mecklenburg Vorpommern und Berlin Landtags- bzw. Abgeordnetenhauswahlen abgehalten werden, die durchaus nicht unwichtig für die repräsentative Politik in Deutschland sind. Hier könnte sich entscheiden, ob Sigmar Gabriel noch vor den Bundestagswahlen seinen innerparteilichen Absturz erlebt.

Obwohl viele Konkurrenten ihn gerne die Bundestagswahlen verlieren lassen würden, weil auch sie keine viel besseren Ergebnisse erzielen würden, wäre Gabriel wohl nicht mehr zu halten, wenn die Partei in Mecklenburg Vorpommern nicht mehr den Ministerpräsidenten stellen würde und auch in Berlin hinter die Union zurück fiele. Bisher liegt sie in Umfragen nur noch wenige Punkte vor der Henkel-CDU. Zudem dürfte sich bei beiden Landtagswahlen die Etablierung der rechtspopulistischen AFD fortsetzen, so dass sie dann auch für die Bundestagswahlen gute Ausgangsbedingungen hat.

In Mecklenburg-Vorpommern wird sich zeigen, ob daneben noch eine offen neonazistische Partei eine Chance zum Einzug ins Parlament hat. Die NPD liegt in den Umfragen in einem Bereich, der das nicht als unmöglich erscheinen lasst.

Kunstkritik oder Wahlkampf

Das müssten eigentlich Gründe genug sein, die hiesigen Wahlen und nicht die neuesten Trump-Äußerungen mehr in den Fokus der Berichterstattung zu stellen. Doch in den letzten Wochen hatte man den Eindruck, es handelte sich bei den Wahlen um eine Freiluft-Kunstausstellung. Die Wahlplakate der verschiedenen Parteien wurden zum Gegenstand ästhetischer Betrachtungen, wie sie sonst bei Ausstellungen erfolgen.

Dazu haben die Parteien auch selber beigetragen. So verzichtete die SPD auf ihren ersten großen Plakatwänden ganz auf ihr Logo[2] und zeigte nur ihren Spitzenkandidaten Müller blass im Hintergrund, während im Vordergrund das Leben einer Metropole vorbeizog, beispielsweise eine Frau mit Kopftauch, die eine Rolltreppe hochfährt.

Die Piratenpartei, obwohl bei den Wahlen wohl chancenlos, hat im Bezirk Berlin-Friedrichshain das Thema Gefahrengebiet[3] sogar mit Leuchtdioden zum Ausdruck gebracht. Mittlerweile wurden diese Plakate aber wohl von Sammlern kurzerhand entwendet. Damit hat die Partei nach den Wahlen zumindest nicht das Problem der Entsorgung ihrer eigenen Plakate. Vor allem kleine Parteien erleben eine Überraschung, wenn ihnen eine Rechnung ins Haus flattert, weil sie die ihre Werbung nicht fristgemäß entsorgt haben.

Auch die AFD-Plakate waren Gegenstand ästhetischer Betrachtungen, weil sie Homosexuelle Islamkritik vortragen lassen. Dabei haben sie doch nur von ihren rechtspopulistischen Freunden aus anderen Ländern abgeschrieben, die etwa in Frankreich und Belgien schon längst erkannt haben, dass man auch ungeliebte Minderheiten mal wahltaktisch umarmen kann. Diese Avancen stoßen durchaus bei manchen in der Zielgruppe auf Zustimmung. Bei so viel Kulturkritik im Wahlkampf war man überrascht, dass manchmal auch über Inhalte gestritten wurde.

So reklamierte die SPD „Oma Anni“, die für ein Plakat der Linken als Mietrebellin[4] ausgewiesen wird, für die Sozialdemkokraten[5].

Die Seniorin hat erklärt, dass sie schon so lange SPD wählt, dass sie das mit 95 nicht mehr ändern will. Zum Glück für die Linke hat sie aber der Partei die Zustimmung gegeben, ihr Konterfei für Wahlkampfzwecke zu verwenden. Die Frage wäre jetzt, ob Oma Anni der Ausschluss drohen würde, wenn sie denn SPD-Mitglied wäre. So ist der ganze Streit für die Linke sogar von Vorteil. Sie kann so aufzeigen, dass sogar bei der SPD-Traditionswählerschaft die Vorbehalte gegen die Linkssozialdemokraten zurückgehen und könnte damit entsprechende Signale in die SPD-Stammwählerschaft senden.

Zudem hat die Linke damit klargestellt, dass sie tatsächlich eine echte Mietrebellin abgelichtet haben, die mit anderen Senioren seit Jahren gegen massive Mietsteigerungen in der Siedlung am Steinberg am Rande von Berlinkämpft. Andere Parteien haben für ihre Figuren von professionellen Darstellern spielen lassen.

Dass die Debatte über die Berliner Wahlen in den Medien bisher mehr oder weniger unter Kunstkritik lief, zeigt den Bedeutungsverlust der Parteienpolitik. Wo scheinbar alles Event und Kunst wird, kann die Wahl natürlich keine Ausnahme machen. Warum soll auch um politische Inhalte gestritten werden, wenn prinzipiell alle Parteien scheinbar dasselbe wollen, nämlich den Wirtschaftsstandort Deutschland stärken, und daher austauschbar sind.

Weil die Zwänge der kapitalistischen Wirtschaft keine Experimente erlauben und Justiz, Schuldenbremse und EU-Verträge dafür sorgen, dass auf keinen Fall eine Reform verabschiedet wird, die nicht „der Wirtschaft“, wohl aber der Mehrheit der lohnabhängigen Bevölkerung Verbesserungen bringt, gibt es auch keinen Grund mehr, bei Wahlen über Politik zu streiten.

Innere Sicherheit als Wahlkampfthema

Da kommen zumindest für die Sicherheitspolitiker aller Parteien die Anschläge der letzten Wochen wie gerufen, um doch noch etwas Politik in den Wahlkampf zu bringen. Die schon abgeschriebene Henkel-CDU hofft, mit Forderungen nach einem Burka-Verbot und nach der Rücknahme der doppelten Staatsbürgerschaft noch aufzuholen.

Denn für ein Burka-Verbot sind auch viele Menschen, die sich für eine säkulare Gesellschaft einsetzen[6] und nicht zu den traditionellen CDU-Wählern zählen. Tatsächlich kann ein Burkaverbot durchaus nicht einfach mit einer Law-and-Order-Politik gleichgesetzt werden und es wäre töricht von Grünen, Sozialdemokraten und Linken, wenn sie als Reflex die Burka verteidigen würden und die Kritik von Feministen und Säkularen ignorieren würden.

Für die Henkel-CDU ist es der letzte Versuch, doch mit dem Sicherheitsthema bei den Berliner Wahlen zu punkten. In den letzten Wochen ist er mit seiner Politik gescheitert, soziale Konflikte um das linke Hausprojekt Rigaer Straße 94[7] zu einem Thema der Sicherheitspolitik zu machen. Doch zumindest in der unmittelbaren Nachbarschaft waren alle Versuche gescheitert, die Bewohner der Hauses, die in der Mehrheit Mietverträge haben, als „Chaoten und Politkriminelle“ zu figurieren. In den Tagen der Rund-um-die-Uhr-Belagerung des Hauses durch die Polizei wuchs die Solidarität der Nachbarschaft[8].

Dadurch wurde auch die Gentrifizierung im Stadtteil ein Thema für Menschen, die sich bisher nicht politisch artikulieren[9]. Nachdem die Forderung nach Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien in der Nachbarschaft immer lauter wurden, die Henkel-CDU aber dazu nicht bereit war, sorgte ein Gerichtsurteil für zeitweilige Entspannung.

Die Räumung von einigen Räumen des Hausprojekts wurde als rechtswidrig erklärt, die Belagerung beendet. Das Beispiel bestätigt die These, die die Politikwissenschaftlerin Anna Kern in ihrem jüngsten Buch Urbane Sicherheitsregime im Neoliberalismus[10] ausführlich begründete. Die Produktion von Sicherheit und Unsicherheit ist gesellschaftlich bedingt und es gibt durchaus nicht nur die Frontstellung repressiver Staat gegen die Bevölkerung.

Wenn große Teile dieser Bevölkerung da nicht mitmachen, hat die Law-and-Order-Politik keine Grundlage. Das musste die Henkel-CDU im Fall der Rigaer Straße erfahren. Ob sie mit dem Versuch die Anschläge der letzten Wochen für Gesetzesverschärfungen mehr Erfolg hat, wird sich am Wahlabend zeigen. Dann werden wir auch feststellen, dass die vollmundigen Erklärungen von Grünen und SPD, mit der Henkel-CDU kein Bündnis einzugehen, nur bis zum Wahlabend gelten.

Entweder die CDU ist der große Verlierer, dann kommt es zu einer Koalition der Parteien links von der Union. Sollte aber die CDU stärkste Partei werden, werden alle sagen, der Wähler hat eben anders entschieden. Zumindest hat die Debatte über die Innere Sicherheit dazu geführt, dass im Vorfeld der Berliner Wahlen nicht nur über die Ästhetik der Plakate gesprochen wird.

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49192/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[0]

https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Abgeordnetenhaus.jpg

[1]

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/lasst-es-doch-einfach-mal

[2]

http://www.tagesspiegel.de/berlin/wahlkampagne-fuer-berlin-spd-wirbt-mit-mueller-aber-ohne-parteilogo/13944720.html

[3]

https://berlin.piratenpartei.de/wp-content/uploads/2016/06/bknvuTLQ.jpg

[4]

http://images.google.de/imgres?imgurl=http://bilder4.n-tv.de/img/incoming/crop18365631/7811322856-cImg_16_9-w1200/oma-anni.jpg&imgrefurl=http://www.n-tv.de/politik/Linke-werben-mit-SPD-Waehlerin-Oma-Anni-article18365676.html&h=675&w=1200&tbnid=LS1nOToFaFEZQM:&tbnh=90&tbnw=160&docid=kj8AyfSvo9_EhM&client=firefox-b&usg=__1NfVVIOv1rCFm-lXEDMkKOtRScE=&sa=X&ved=0ahUKEwjyk7T1x9LOAhWLJsAKHU0pBd0Q9QEINjAH

[5]

https://www.berlinonline.de/mitte/nachrichten/4519369-4015813-streit-um-oma-anni-aus-kleinkleckersdorf.html

[6]

http://www.a3wsaar.de/aktuelles/details/d/2014/07/12/ja-zum-burka-verbot-in-frankreich/

[7]

https://rigaer94.squat.net

[8]

https://nordkiezlebt.noblogs.org/

[9]

http://mietenstoppfriedrichshain.blogsport.de

[10]

http://www.dampfboot-verlag.de/shop/artikel/produktion-von-un-sicherheit-urbane-sicherheitsregime-im-neoliberalismus

Schläge in der Fleischfabrik

Die Arbeitsbedingungen vor allem für osteuropäische Migranten in Deutschland erinnern teils an frühkapitalistische Zustände. Das Projekt »Testing EU Citizenship as Labour Citizenship« setzt sich deshalb für die Stärkung der Rechte von Beschäftigten im EU-Raum ein.

Der Kampf dauert mittlerweile fast zwei Jahre. Dennoch haben die acht rumänischen Bauarbeiter bislang keinen Cent ihres Lohns erhalten. Sie waren auf der Baustelle des Einkaufszentrums »Mall of Berlin« tätig. Doch ihre Arbeitgeber haben ihnen den Lohn vorenthalten. Die Beschäftigten gewannen, unterstützt von der Basisgewerkschaft FAU, mehrere Prozesse. Doch auch das nützte nichts. Denn die beklagten Unternehmen gingen durch alle Gerichtsinstanzen, nur um am Ende Insolvenz anzumelden. Die Arbeiter befinden sich mittlerweile längst wieder in Rumänien oder arbeiten in anderen europäischen Ländern.

Simina Guga hält Kontakt zu ihnen und informiert sie über die juristische Entwicklung ihrer Klagen in Deutschland. Guga ist die für Rumänien zuständige Koordinatorin des Projekts »Testing EU Citizenship as Labour Citizenship«, das sich der Stärkung der Rechte von Beschäftigten in der EU widmet. Wie notwendig das ist, zeigen die von dem Projekt gesammelten Erfahrungsberichte von Beschäftigten aus verschiedenen süd- und osteuropäischen Ländern, die in Deutschland unter miserablen Bedingungen gearbeitet haben. Sie sind auf dem Portal www.testing-eu-citizenship.de nachzulesen.

»Nach unseren Untersuchungen leiden Arbeitsmigranten in der Fleischverarbeitungsindustrie an physischen Verletzungen und kältebedingten Folgeschäden aufgrund mangelnder Arbeitssicherheit. Ermöglicht durch ausgeprägtes Subunternehmertum werden Arbeiter aus anderen EU-Ländern in diesen Branchen häufig unterbezahlt, durch Scheinselbständigkeit der Sozialleistungen beraubt und in einigen Fällen sogar physisch und psychisch bedroht«, berichtete die Berliner Projektkoordinatorin Hannah Heyenn bei der Vorstellung des Abschlussberichts im Juli in Berlin. Zu Beginn wurde der kurze Dokumentarfilm »Der Fleischalbtraum« von Magdalena Pięta-Stritzke und Michał Talarek gezeigt, der Ausbeutungsverhältnisse offenlegt, wie sie eigentlich für den Frühkapitalismus typisch waren. »Wir fühlten uns wie in einem Arbeitslager. Die Unterkunft war schmutzig. An den Wänden war Schimmel«, berichtet ein polnisches Ehepaar in dem Film über seine Erfahrungen in einer Fleischverarbeitungs­fabrik mit angeschlossener Unterkunft in der Nähe von Leipzig. Nach einer Zwölfstundenschicht sollten die Polen noch Überstunden leisten, Krankheiten sollten sie mit Alkohol auskurieren. Wer sich krankschreiben ließ, sei mit Lohnabzug bestraft worden, so die Beschäftigten in dem Film. Als ein Kollege die Arbeits- und Wohnbedingungen nicht mehr aushielt und kündigte, sei er von Beauftragten des Unternehmens geschlagen und schwer verletzt worden.

Kamila Schöll-Mazurek, die am Abschlussbericht von »Testing EU Citizenship as Labour Citizenship« mitgearbeitet hat, hob die zentrale Rolle hervor, die das System der Scheinselbständigkeit und des Subunternehmertums für solche Arbeitsverhältnisse in Deutschland spielt. In der Praxis habe sich gezeigt, dass es damit Beschäftigten schwer gemacht wird, ihre Rechte durchzusetzen, selbst wenn sie Gerichtsprozesse gewinnen. Jochen Empen vom Projekt »Faire Mobilität«, das beim DGB angesiedelt ist, benannte konkrete Maßnahmen, die die Rechte der Beschäftigten stärken sollen. Dazu gehört die transnationale Strafverfolgung, die es ermöglichen soll, Unternehmen wegen Verstößen gegen das Arbeitsrecht über Ländergrenzen hinweg juristisch zur Verantwortung zu ziehen.

Als weitere aussichtsreiche Möglichkeit zur Eindämmung von Diskriminierung und Lohnbetrug gilt die Kettenhaftung von Unternehmen. Mit ihr könnte in der Bauwirtschaft verhindert werden, dass Beschäftigte auf ihren Lohn verzichten müssen, wenn Subunternehmen in Konkurs gehen. Dann müsste das Generalunternehmen, das die Subunternehmen beauftragt hat, für entgangene Löhne haften. Projekte wie »Testing EU Citizenship as Labour Citizenship« fordern außerdem, Unternehmen dazu zu verpflichten, Rück­lagen zu bilden, damit die Löhne der Beschäftigten auch bei einer Insolvenz gesichert sind. In Österreich sind solche Gesetze bereits in Kraft. In Deutschland muss die Diskussion darüber mit Betroffenen, Gewerkschaften und NGOs erst noch beginnen.

http://jungle-world.com/artikel/2016/33/54675.html

Peter Nowak

Friedrichshainer Nordkiez

»Wer hier kauft, kauft Ärger«, lautete das Motto einer Protestkundgebung, an der sich am Donnerstagabend rund 200 Menschen vor der Rigaer Straße 71-73 beteiligten. Dort will die CG-Gruppe das »Carré Sama-Riga« errichten. Deren Geschäftsführer Christoph Gröner bezeichnet den geplanten Neubau bei etwa 120 Wohnungen und vier Gewerbeeinheiten als soziales Projekt. Anwohner befürchten dagegen, dass der Friedrichshainer Nordkiez mit dem Neubau für Besserverdienende attraktiv gemacht wird und Menschen mit wenig Einkommen verdrängt werden. »Wir haben in den letzten Wochen deutlich gemacht, dass es keine Akzeptanz in der Nachbarschaft gibt«, so ein Mitglied der Stadtteilgruppe »Keine Rendite mit der Miete«. Unterdessen hat am Donnerstag der Bewohnerverein des Hausprojekts in der Rigaer Straße 94 vor dem Verwaltungsgericht Klage gegen die rechtswidrige Teilräumung eingereicht, wie die »taz« meldete. Das Gericht soll klären, ob der Einsatz der Polizei am 22. Juni rechtmäßig war. Ein Sprecher des Verwaltungsgerichts bestätigte die Angaben.

Peter Nowak

Tropfen auf den heißen Stein

Stahlkonzern zahlt Entschädigung für Umweltschäden und Fischsterben

Das taiwanesische Stahlwerk Formosa Plastic Group (FPG) steht seit Jahren wegen der Schädigung der Umwelt in der internationalen Kritik. Die Proteste zeigen mittlerweile Wirkung. So hat sich der Konzernvorstand zur Zahlung von 500 Millionen US-Dollar Entschädigung wegen der massiven ökologischen Schäden und des Fischsterbens in Vietnam bereit erklärt.

»Offenkundig haben unsere internationalen Proteste in Kooperation mit Partnern in Vietnam, Taiwan und anderen Ländern Wirkung gezeigt«, erklärt die Geschäftsführerin der Stiftung Ethecon, Sarah Schneider, gegenüber »nd«. Die Nichtregierungsorganisation hatte 2009 der Formosa Plastic Group den Schmähpreis »Black Planet Award« verliehen. »Die Geschichte des Konzerns ist begleitet von einer andauernden Folge sozialer und ökologischer Verbrechen in aller Welt«, hieß es in der Begründung.

Die Ursprünge des Konzerns liegen im Kalten Krieg: 1954 wurde er in Taiwan gegründet und hat sich zu einem führenden Biotechnologie- und Chemieunternehmen entwickelt. Immer wieder geriet er mit Umweltskandalen in die Kritik. So wurde 1998 bekannt, dass FPG 3000 Tonnen giftigen Abfall vor Kambodschas Küste illegal entsorgte. Immer wieder gibt es auch Verletzte und Tote unter den Beschäftigten des Konzerns, der in Taiwan als einer der zehn größten Umweltverschmutzer gilt, die für ein Viertel der im Land produzierten Treibhausgase verantwortlich sind.

Obwohl FPG im auch gegen Nordvietnam gerichteten Kalten Krieg groß geworden ist, will die heute auf dem Pfad der Marktwirtschaft wandelnde vietnamesische Regierung es sich mit dem Unternehmen nicht verderben. »Umweltschützer werden nicht gerade mit offenen Armen aufgenommen«, erklärt Schneider. Ein internationales Expertenteam, das die Verschmutzung untersuchen wollte, durfte keine eigenen Meerwasserproben entnehmen, sondern musste sich auf Daten der Regierung stützen. Gegen Blogger, die Videos über die Proteste gegen den Konzern veröffentlichen, gehen die vietnamesischen Behörden mit Repressionen vor.

Daher hat die Gruppe »Viet Zukunft« auch keine eigene Homepage. Sie besteht aus in Deutschland lebenden Vietnamesen, die in ihr Heimatland zurückkehren wollen. Sie beteiligten sich am 17. Juni parallel zur Jahreshauptversammlung von FPG in Taiwan an einer Unterschriftenkampagne in Köln.

In vielen Ländern wurde an diesem Tag eine angemessene Entschädigung für die Umweltverbrechen gefordert. »Die 500 Millionen US-Dollar sind viel zu gering«, betont Schneider. Ethecon fordert auch die Bestrafung der für die Umweltverbrechen Verantwortlichen im Konzern. Von der vietnamesischen Regierung wird eine vollständige Transparenz über das Ausmaß der Umweltverschmutzung abgemahnt. Das Thema wird auch auf der Ethecon-Jahreshauptversammlung am 19. November in Berlin eine Rolle spielen. Wer diesmal den Black Planet Award für besonders große unternehmerische Verantwortungslosigkeit verliehen bekommt, gibt Ethecon am 19. September bekannt.

Peter Nowak

Flüchtlinge: So konservativ wie die deutsche Gesellschaft


Studien zu Migranten: Vielleicht sollte die Blickrichtung mal umgedreht und die Integrationsfähigkeit der deutschen Gesellschaft erforscht werden

„Ausländer, lasst uns mit diesen Deutschen nicht allen“, laute das Motto eines Aufklebers, mit dem sich in den 1980er Jahren Gegner des deutschen Rassismus positionierten. Dahinter stand die Vorstellung, die Migranten würden manche konservativen und verkrusteten Gesellschaftsstrukturen aufbrechen.

Teilweise war sie von den Erfahrungen der 1960er und 1970er Jahre geprägt, als in manchen Städten in der Arbeiterbewegung ihrer Länder verankerte Arbeitsmigranten ihre Arbeitskampf- und Streikerfahrungen in die von der Sozialpartnerschaft geprägte Betriebskultur nach Deutschland brachten. Doch welche gesellschaftspolitischen Vorstellungen bringen heute Migranten mit?

Bürgerliche Vorstellungen

Die Ergebnisse von zwei aktuellen Studien waren eigentlich nicht überraschend. Da die wenigsten Migranten mit der Kultur der Arbeiterbewegung vertraut waren, teilen sie eher die bürgerlichen Vorstellungen, die auch in Deutschland hegemonial sind. Warum aber die Hochschule für Medien, Kultur und Wirtschaft[1], die eine der Studien durchführte, in einer Pressemitteilung von überraschenden Ergebnissen[2] spricht, ist nicht so klar (Flüchtlinge: Für Demokratie und einen starken Führer[3]).

Überraschen dürften sie nur die Menschen, die in den Migranten die ganz anderen sehen, die entweder bewundert oder gehasst und abgelehnt werden. Für alle anderen dürften die Ergebnisse nur verdeutlichen, dass die Migranten in der Mehrheit nicht fortschrittlicher oder reaktionärer als die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland sind.

So schätzen die meisten der Migranten, die die Fragebögen ausgefüllt haben, Werte wie Freiheit, Sicherheit, Familie und Arbeit. Sie bekennen sich mehrheitlich zur Demokratie, wie ein Großteil der deutschen Bevölkerung jenseits von Pegida. Allerdings heißt es bei beiden Gruppen noch lange nicht, dass sie Freunde von kollektiver und individueller Freiheit sein müssen.

Homophobe und antisemitische Einstellungen sowie konservative Vorstellungen über Ehe und Familie sind auch bei Menschen anzutreffen, die sich als gute Demokraten bezeichnen. So kann als Fazit der HMKW-Studie gelten, dass die Mehrheit derjenigen, welche die Fragen beantworteten, konservative Wertvorstellungen und eine konservative politische Einstellung hatten.

Die Studie ist nicht repräsentativ. Die Studierenden der HMKV verteilten rund 1.000 Fragebögen in den Sprachen Farsi (Persisch), Arabisch und Englisch in zwei Berliner Flüchtlingsunterkünften des Deutschen Roten Kreuzes. 445 Bögen wurden beantwortet zurückgegeben.

Wenn auch nicht repräsentativ, so dürfte die Studie doch einen Ausschnitt der Einstellungen in einem Segment der Geflüchteten wiedergeben. Ähnliche Ergebnisse lieferte auch eine qualifizierte Befragung des Instituts- für Arbeitsmarkt und Berufsforschung[4].

Arbeit finden, finanziell unabhängig sein

Das wenig verwunderliche Fazit dieser Untersuchung lautet: Die Befragten schätzen Freiheit und Sicherheit, eine verlässliche Gesetzgebung sowie die in der Gesellschaft vorherrschenden Sekundärtugenden, etwa Disziplin, sowie die Einhaltung eines für alle gültigen Regelkanons. Wichtig ist ihnen eine „hohe Bildungsperspektive“. Sie wünschen sich, bald Arbeit zu finden und finanziell unabhängig zu sein.

Die Stärke dieser Studie ist, dass sie auf die individuellen Erfahrungen der Migranten in ihren Heimatländern, wie auch auf der Flucht, eingeht und diese mitberücksichtigt, wenn es um die Einordnungen ihrer politischen und gesellschaftspolitischen Einstellungen geht. Auch die diskriminierenden Erfahrungen vieler Migranten in Deutschland bis hin zur Abschiebung werden in den Bericht thematisiert.

Kontakte zu Deutschen liefen vor allem über die Vereine, aber auch über Praktika oder Arbeitsplätze, wird dort festgestellt. Deswegen ist es für diese Menschen besonders nachteilig, wenn sie keine oder nur geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.

Eine aktuelle Studie des Berliner Instituts für Bevölkerungsentwicklung[5] beschäftigt sich auch mit der Frage, wie Migranten besser an Arbeitsplätze kommen können. Interessant wäre die Frage danach, wie sich solidarische Aktionen zivilgesellschaftlicher Gruppen und Organisationen von Geflüchteten auf das gesellschaftliche Weltbild der Menschen auswirken. Bei dem Flüchtlingswiderstand der letzten Jahre hat sich gezeigt, dass sich einige Aktivisten sehr schnell und nachhaltig politisiert hatten.

Flüchtlinge bejahen rechtspopulistische Einstellungen?

Die Häufung der Studien und Untersuchungen zeigt, dass „der Migrant zum stark beforschten Wesen“ wurde. Das kann spätestens dann problematisch werden,  wenn die Prämisse der Untersuchungen darin besteht, den Migrant der Mehrheit der autochthonen Bevölkerung gegenüber zu stellen oder die Ergebnisse selber wieder zur Stigmatisierung zu nutzen.

So titelte die FAZ „Viele Flüchtlinge bejahen rechtspopulistische Einstellungen“[6], was im Text selbst relativiert wurde. Dort hat man eher den Eindruck, dass viele der Befragten ähnlich wie viele Deutsche liberale und konservative Einstellungen kombinieren.

Die weitere Entwicklung der Befragten dürfte auch sehr viel damit zusammenhängen, ob sie als Geflüchtete anerkannt werden oder nicht und vor allem, ob sie in Deutschland akzeptiert werden. Ein Teil der Deutschtürken hat diesen Eindruck nicht.

Nicht das Gefühl, willkommen zu sein

Eine vom Meinungsforschungsinstitut Emnid TNS erstellte Umfrage unter Deutschtürken[7] ergab, dass sich die Befragten einerseits als Teil der Gesellschaft in Deutschland und andererseits als Bürger zweiter Klasse fühlen.

„Woran es aber unter den in Deutschland lebenden Türkeistämmigen mangelt, ist das Gefühl, willkommen geheißen und anerkannt zu sein“, führte der Leiter der Studie mit. Hier wird die Blickrichtung mal geändert. Nicht die Migranten sondern die Gesellschaft, in die sich integrieren wollen, wird kritisch befragt.

Dies sollte auch Gegenstand weiterer Studien sein. Es soll nicht immer nur um die Frage gehen, wie integrationsbereit  die Migranten  sind. Es sollte auch die Frage erforscht werden, wie offen für Migration die deutsche Gesellschaft ist.

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49170/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://www.hmkw.de/

[2]

http://www.hmkw.de/news/artikel/pressekonferenz-studie-zu-demokratieverstaendnis-und-integrationsbereitschaft-von-fluechtlingen-2016/

[3]

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49148/

[4]

http://doku.iab.de/forschungsbericht/2016/fb0916.pdf

[5]

http://www.berlin-institut.org/

[6]

http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/umfrage-in-berlin-viele-fluechtlinge-bejahen-rechtspopulistische-einstellungen-14389092.html

[7]

https://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/aktuelles/2016/jun/PM_Integration_und_Religion_aus_Sicht_Tuerkeistaemmiger.html