2015 gab es statistisch eine Gewalttat am Tag

NAZIS Ein Schattenbericht über „Berliner Zustände“ geht von einer Verdoppelung rechter Gewalt aus
Das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin und die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin
geben seit zehn Jahren unter dem Titel „Berliner Zustände“ jährlich einen Schattenbericht über Rechtsextremismus, Rassismus
und Antifaschismus heraus. Dort kommen Einzelpersonen und Initiativen zu Wort, die sich gegen rechte Tendenzen im
Alltag engagieren. Im Vorwort der kürzlich erschienenen Jubiläumsausgabe macht die Journalistin Heike Kleffner die Dimension der rechten Gewalt in Berlin deutlich: „Statistisch gesehen ereignete sich im Jahr 2015 in Berlin quasi täglich eine politisch rechts beziehungsweise gegen Minderheiten gerichtete Gewalttat.“ Gestützt auf Daten von Opferberatungsstellen kommt sie zu dem Schluss, dass in den letzten zehn Jahren mehrere Tausend Menschen angegriffen wurden und sich die rechte
Gewalt in Berlin fast verdoppelt hat. In einen Beitrag geht Sabine Seyb von der Beratungsstelle für Opfer rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt Reach Out auf das Thema ein. Der Fokus liegt im aktuellen Schattenbericht auf den Kampf
der Geflüchteten um ihre Rechte und den unterschiedlichen UnterstützerInnen. Hanna Krügener, Susann Thiel und Manuel
Armbruster von Bildungsbewegt, einem Kollektiv, das Workshops, Seminare und Projekttage zu den Themen Fluchtund Asyl anbiett, plädieren für eine Politisierung der Unterstützungsarbeit. „Wir helfen nicht, wir lernen voneinander“, beschreibt
das Trio die eigene Arbeit. In einem Interview mit AktivistInnen von Willkommensinitiativen aus Kreuzberg, Moabit und Lichtenberg geht es um die alltäglichen Mühen dieser Unterstützungsarbeit. In einem weiteren Interview stellt Katharina Oguntoye das von ihr mit begründete interkulturelle Beratungs- und Begegnungszentrum Joliba vor, das seit 20 Jahren
am Görlitzer Park mit afrikanischen Flüchtlingen arbeitet. Über neue Wege zur Erfassung antisemitischer Vorfälle berichtet die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin. Vera Henßer und Frank Metzger analysieren die Bärgida-Bewegung, die sich jeden Montag am Hauptbahnhof trifft, als „verschworene Gemeinschaft“, in der sich RechtspopulistInnen und Neonazis
vereinigen. Erfreulich ist, dass auch das Agieren von türkischen NationalistInnen in Berlin am Beispiel der Grauen Wölfe
in einem Artikel thematisiert wird.
Peter  Nowak
■■Die Broschüre „10 Jahre BerlinerZustände“ hat 152 Seiten und kann beim Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin oder bei der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin bestellt werden.
Kostenloser Download unter qww.apabiz.de.
aus Taz vom 1.8.2016

„Wir schaffen das“

Wie eine Merkel-Phrase Geschichte macht

ast scheint es so, wenn man die aktuellen Pressemeldungen nach der vorgezogenen Sommerpressekonferenz der Kanzlerin verfolgt. So beschreibt[1] ein Politikredakteur in der konservativen Tageszeitung „Die Welt“, wie die der Satz „Wir schaffen das“ zur Parole des Anti-Merkel-Lagers wurde, das seit einem Jahr die Kanzlerin von rechts kritisiert. Am 31.August 2015 hatte Merkel diesen Satz, der eher als eine inhaltslose Phrase bezeichnet werden kann, in einen Kontext eingefügt, der eigentlich Kritik von Links geradezu herausgefordert haben müsste.

Der Absatz, in dem die 3 Wörter, die jetzt Gegenstand von politischen Kontroversen enthalten sind, lautet[2]:

Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden.

Schlussstrich unter deutscher Geschichte

Wenn eine Kanzlerin ganz unbefangen über ein starkes Deutschland  schwadroniert, das so vieles geschafft hat, dann ist der Deckel über der jüngeren deutschen Geschichte nun endgültig geschlossen. Niemand im In- und Ausland hat daran erinnert, dass gerade in Zeiten in denen Deutschland sich besonders stark wähnte, zwei Weltkriege und die Shoah geschahen. Hätte Bundeskanzler Kohl nach dem Fall der Mauer eine ähnliche Diktion gewählt wie Merkel 2015, wären historischen Reminiszenzen sicher angesprochen worden.

Damals gab es im Ausland, aber auch im Inland heftige Diskussionen darüber, dass ein wiedervereinigtes Deutschland einen Schlussstrich unter die NS-Geschichte ziehen wolle. Der Merkel-Satz und seine Rezeption zeigen, dass dieses Vorhaben vollständig gelungen ist. Es ist möglich über ein starkes Deutschland zu reden, das schon so vieles geschafft hat, und die NS-Geschichte wird nicht einmal mehr beiläufig erwähnt.

Vielmehr scheint es nach der Merkel-Rede vor einem Jahr – der Satz stammt aus der Sommerpressekonferenz von 2015[3] – links von der Union keine Parteien mehr zu geben, sondern nur noch Merkel-Fans. Und gerade die drei Wörter „Wir schaffen das“ sollen auf einmal der Ausweis für ein buntes, liberales Land sein. Dagegen gäbe es nicht nur aus geschichtspolitischen Erwägungen massive Einwendungen.

Welches „Wir“ ist denn eigentlich gemeint, das was genau schaffen soll?  Und welche Hindernisse müssen überwunden werden, die dem gar nicht genauer definierten Ziel im Wege stehen?  Da dieser Absatz völlig beliebig ist, kann er für jede Situation herangezogen werden. Wenn Wirtschaftsverbände anmahnen, dass man die Mindestlohnregelungen angesichts der Zuwanderer flexibler gestalten soll, können sie sich ebenso darauf  berufen, wie Wohnungsbauunternehmen, die vielleicht einige ihnen lästigen Formalien bei der Ausweisung von Bauland überwinden wollen.

Was sich ein Jahr nach der Merkel-Rede zeigt und was auch niemanden überraschen dürfte: Eine Auslegung der Merkel-Phrase im Sinne der Aufhebung von Einwanderungsbeschränkungen, die einer schnellen Integration von Migranten im Wege stehen, war nicht gemeint. Im Gegenteil, in dem einen Jahr zwischen den beiden Merkel-Sommerpressekonferenzen wurde gleich mehrfach das Asylrecht verschärft und mehrere Länder, aus denen viele Migranten stammen, wurden in die Liste der sicheren Herkunftsstaaten aufgenommen.

Zudem hat Merkel mit den Hürden, die im Wege stehen, auch nicht die Schuldenbremse oder eine Wohnungs- und Sozialpolitik gemeint, die die gesellschaftliche Ungleichheit immer weiter verschärft. So forderten soziale Initiativen und Mieterverbände[4], dass die Zuwanderung Anlass sein sollte, einen neuen kommunalen Wohnungsbau[5] zu fördern, der bezahlbare Wohnungen für alle Menschen gewährleisten soll.

Damit wäre auch die Trennung in Geflüchtete und die einheimische Bevölkerung tendenziell aufgehoben, die immer wieder für rassistische Spaltungen sorgt. Solche Forderungen hatten aber in der weiterhin wirtschaftsliberalen Atmosphäre keine Durchsetzungschance.

Die Linke und die Merkel-Phrase

Statt hier die Kritik anzusetzen, liefert sich die parlamentarische Linke einen internen Streit um eine Pressemeldung ihrer Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht, in der sie nicht pflichtschuldig die drei Merkel-Worte zum unkritisierbaren Credo erklärte. Dabei verdienen die stark auf den Nationalstaat basierenden sozialdemokratischen Vorstellungen von Wagenknecht berechtigte Kritik. Aber wenn dann der Vorwurf kommt, hier werde Merkels „Wir-schaffen-das-Phrase“ von rechts kritisiert, wird deutlich, dass es hier um eine Auseinandersetzung innerhalb der Partei geht.

Manche sehen in Wagenknecht ein Hindernis für ein schnelles Bündnis mit Grünen und der SPD, wenn es sich irgendwie noch ergeben sollte. Dabei hat Wagenknecht aktuell einer solchen  Kooperation wenig entgegenzusetzen. Doch ihre Vergangenheit in der traditionslinken Kommunistischen Plattform[6] und manche marxistischen Elemente in ihrer Argumentation lassen sie noch immer als Gegnerin einer Koalition mit der SPD durchgehen.

Der aktuelle Streit soll ihr hier Grenzen zeigen. Das ist auch daran zu erkennen, dass die Presseerklärung von Wagenknecht selbst von Parteimitgliedern kritisiert wird, die sich auffällig zurückhalten, wenn im von Linken regierten Thüringen Roma und Sinti in ihre angeblich sicheren Herkunftsstaaten abgeschoben wurden[7], in denen sie oft keineswegs sicher sind.

Merkwürdigerweise haben die innerparteilichen Merkel-Kritiker auch geschwiegen, als die Bundestagsabgeordnete der Linken, Birgit Wöllert, offenen Rassismus verteidigte oder zumindest entschuldigte[8]. Dabei ging es um die Ende-Gelände-Aktion[9] von Klimaaktivisten zu Pfingsten bei Vattenfall in der Lausitz. Wöllert, die als parlamentarische Beobachterin vor Ort war, sagt über einige Reaktionen  aus der dortigen Bevölkerung:

„Als parlamentarische Beobachterin bin ich selbst im Tagebau Welzow-Süd an der Kohleverladestation gewesen, habe mit Vattenfall-Mitarbeitern und der Polizei gesprochen. Auch dort musste ich mir den Vorwurf anhören: „Frau Wöllert, schämen Sie sich, dass Sie hier sind und hinter denen stehen, die als Fremde hierher kommen und uns Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen.“

In dem Moment war das gar nicht fremdenfeindlich gemeint. Die Region war und ist einfach frustriert. Die deutsche Kraftwerks- und Kohlesparte von Vattenfall war frustriert über den Verkauf, über den sie keinesfalls glücklich war, auch wenn sie sich öffentlich total zufrieden zeigte. Und die Beschäftigten gehen nun auch einer unsicheren Zukunft entgegen.

Hier wird eine eindeutig rassistische Äußerung von Fremden, die Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen, entschuldigt, obwohl bekannt war, dass Neonazis aus der Region gegen die Klimaaktivisten hetzten und gewalttätig vorgingen[10].

Merkwürdig nur, dass Wöllerts Statement, das bereits vor fast drei Wochen in einer Umweltzeitschrift zu lesen war, parteiintern keine Kritik auslöste. Das zeigt, dass es bei den Debatten um das Wagenknecht-Statement eben in erster Linie um Parteipolitik geht.

Merkel-Kritik nur von rechts?

Während von linker Seite der Merkel-Satz für sakrosankt erklärt wird und der deutschnationale Kontext ausgeblendet wird, haben ihn Rechte und Populisten aller Couleur für sich entdeckt. Das fängt schon mit Videos des Focus-Magazins[11] an, auf denen ganz im Stile der rechten Rhetorik nach den Kosten gefragt wird, die dieser Satz angeblich beschert hat.

Dabei werden Kosten für die Integration und Mehrausgaben bei der Inneren Sicherheit addiert und so genau die Verbindung zwischen Migration und Terror hergestellt, die das Kennzeichen rechter Propaganda ist. Auch Merkels ewiger Konkurrent innerhalb der Union, Horst Seehofer, hat wieder an dem Kanzler-Satz etwas auszusetzen, wenn er ihn, sachlich völlig korrekt, als hohle Phrase klassifiziert[12].

Aber da der CSU-Politiker das Bündnis mit der CDU nicht gefährden will, bleibt es das übliche Geplänkel zwischen Merkel und Seehofer, das schon lange bekannt ist. Wobei Seehofer ja darauf verweisen kann, dass auch Merkel längst der Überzeugung ist, dass der Zugang von Migranten begrenzt werden muss. Genau dafür wurden im letzten Jahr weitere Gesetzesverschärfungen geschaffen. Auch hier wurden also Schranken überwunden im Sinne des Merkel-Credos. Auch hier hat ein starkes Deutschland einiges geschafft.

Warum keine Diskussion über 9 Opfer des rassistischen Anschlags von München?

Was aber bei der ganzen Debatte über Merkels Pressekonferenz kaum diskutiert wurde, ist das Schweigen über die rassistischen Motive des Münchner Amokläufers. Mittlerweile hat sich rausgestellt, dass die Tat am Jahrestag des Breivik-Massakers kein Zufall war, zudem war der Täter auch stolz darauf, am selben Tag wie Adolf Hitler Geburtstag zu haben, seine Opfer waren Muslime, oft mit nicht-deutschem Hintergrund (München: Massenmord aus Ausländerfeindlichkeit?[13]).

Nach der Aufdeckung der NSU-Morde war die Tat von München die größte rassistische Mordtat – dieser Befund gilt unabhängig vom  psychischen Zustand des Täters. Es ist aber auffallend, wie schnell man sich auf die Version eines unpolitischen Amokläufers verständigte, nachdem ein islamistisches Motiv für die Tat ausschied.

Eine Klassifizierung der Morde von München rassistisch war von Merkels-Sommerpressekonferenz nicht zu erwarten. Aber doch wohl von den Tausenden Menschen, die noch vor einem Monat in München gegen Rassismus auf die Straße gegangen waren[14]. „Es war rechter Terror und kein Amoklauf“ lautete die Einschätzung  von Migranten[15]. Wo blieben nach dem Massenmord des Münchner Breivik-Fans die antifaschistischen und antirassistischen Demonstrationen mit diesem Motto?

Hat es die Hegemonie des Merkel-Deutschland schon geschafft, dass die nicht mehr protestieren, wenn ein rassistischer Massenmord zu einem unpolitischen Amoklauf erklärt wird?

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48993/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[0]

https://de.wikipedia.org/wiki/Angela_Merkel#/media/File:2015-12-14_Angela_Merkel_CDU_Parteitag_by_Olaf_Kosinsky_-12.jpg

[1]

http://www.welt.de/politik/deutschland/article157407429/Wie-Wir-schaffen-das-ein-Anti-Merkel-Slogan-wurde

[2]

https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2015/08/2015-08-31-pk-merkel.html

[3]

https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2015/08/2015-08-31-pk-merkel.html

[4]

http://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2016/me-single/article/belastung-oder-chance.html

[5]

http://www.inkw-berlin.de/

[6]

https://www.die-linke.de/partei/zusammenschluesse/kommunistische_plattform_der_partei_die_linke/

[7]

http://www.alle-bleiben.info/uber-uns/

[8]

http://www.klimaretter.info/politik/hintergrund/21558-vattenfall-sagte-ende-gelaende

[9]

https://www.ende-gelaende.org/de

[10]

http://www.taz.de/!5305477

[11]

http://www.focus.de/politik/videos/haushalt-2017-fluechtlinge-so-viele-milliarden-kostet-der-merkel-satz-wir-schaffen-das_id_5777069.html

[12]

http://www.heute.de/merkels-wir-schaffen-das-seehofers-dilemma-44611166.html

[13]

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48961/

[14]

http://www.sueddeutsche.de/muenchen/innenstadt-tausende-demonstrieren-gegen-rassismus-1.3040831

[15]

http://www.migazin.de/2016/07/29/david-ali-s-muenchener-amoklauf


Aktenkundig mit Brüllattacke

In Berlin besetzten diese Woche Erwerbslosenaktivisten aus Protest gegen die dortige Behandlung von Hartz-IV-Empfängern ein Jobcenter.

Mitglieder der Berliner Erwerbsloseninitiative »Basta« besetzten am Montag für zwei Stunden das Jobcenter Mitte im Berliner Ortsteil Wedding. Während die Aktion von den wartenden Erwerbslosen teilweise mit Zustimmung aufgenommen wurde, erstattete die Jobcenterverwaltung An­zeige wegen Hausfriedensbruchs. Gitta Schalk von »Basta« ist es wichtig, über die alltäglichen Tücken zu reden, mit denen Hartz-IV-Bezieher alltäglich auf dem Amt konfrontiert sind. »Unter dem scheinbar schönen Label ›Bürokratieabbau‹ werden von den Jobcentern ständig neue Schikanen gegen ­Erwerbslose ausgeheckt«, sagt sie der Jungle World. Es handele sich um hausinterne Regelungen und Dienstanweisungen, die den Betroffenen nicht bekannt sind. Nur die Konsequenzen haben sie zu tragen.

Besonders ein Wohnungswechsel sei für Hartz-IV-Empfänger am Jobcenter Mitte mit großen bürokratischen Hürden verbunden, berichtet Schalk aus ihrer Beratungstätigkeit für »Basta«. Diese Maßnahmen waren auch der Grund für die kurzzeitige Besetzung. »Basta« hatte zuvor in einem offenen Brief an das Jobcenter heftige Kritik am Umgang mit wohnungssuchenden Hartz-IV-Beziehern geübt. Besonders zwei Punkte hebt sie hervor. »Wiederholt verschleppt die Behörde die Bearbeitung der Zusage nach Übernahme der Wohnkosten. Die ist aber die Voraussetzung zum Abschluss eines Mietvertrags«, sagt Schalk. Auch die Übernahme von Kautionen bei Untermietverträgen seien vom Jobcenter Mitte in mehreren Fällen verweigert worden. Damit werde das Recht von Erwerbslosen verletzt, ihren Wohnort selbst zu wählen. »Basta« forderte, über die Zusage der Übernahme der Wohnkosten sofort zu entscheiden und Kautionen auch für Untermietverträge zu übernehmen. »Die Umsetzung unseres Anliegens würde den durch chronischen Geldmangel, Bevormundung und Schikanen geprägten Alltag vieler ALG-II-Bezieher in einem kleinen, aber wichtigen Teilbereich ein wenig entlasten«, begründet Schalk die Konzentration auf die beiden Forderungen.

Nachdem es auf den offenen Brief keine Reaktion gegeben hatte, erfolgte die Besetzung. Eine auf ihren Termin wartende Frau freute sich über die Aktion. Ihrer Tochter werde de facto seit Monaten vom Amt ein Umzug verweigert, sagte sie. Der Pressesprecher des Jobcenters Mitte, Andreas Ebeling, sagte der Jungle World, die Behörde setze lediglich die vom Berliner Abgeordnetenhaus beschlossenen Verordnungen um und sei daher der falsche Adressat für Proteste.

Auch der Wuppertaler Erwerbslosenverein »Tacheles« dokumentiert immer wieder Fälle von Willkür, die Hartz-IV-Empfängern das Leben schwer machen. So weigerte sich das Jobcenter Wuppertal beharrlich, die Kosten für eine Gastherme zu übernehmen, die ein Erwerbsloser für das Erhitzen von Wasser benötigte. Das Sozialgericht Düsseldorf verurteilte das Amt Mitte Juli zur Kostenübernahme und zur Zahlung einer Gebühr, weil es das Verfahren missbräuchlich in die Länge gezogen habe. »Tacheles« hat auch die Klage einer Fallmanagerin des Jobcenters Osterholz in Niedersachsen öffentlich gemacht, die vom Arbeitsgericht den widerrechtlichen Umgang mit Leistungsbeziehern per Dienstanweisung feststellen lassen wollte. Das ­Gericht wies die Klage aus formalen Gründen ab.

Für ein solches Engagement kann die Fallmanagerin nicht unbedingt auf Unterstützung durch die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi zählen, in der Mitarbeiter der Jobcenter organisiert sind. Unter der Überschrift »Gefährdete Staatsdiener« war in der Zeitschrift Verdi Publik ein Artikel erschienen, der eher auf Repression als auf Solidarität mit renitenten Erwerbslosen setzt. ­Beklagt wird, dass die Gewalt gegen Beschäftigte im Jobcenter zugenommen habe. Positiv wird über Forderungen von Personalräten der Jobcenter berichtet, künftig nicht nur psychische Gewalt, sondern auch Brüllattacken aktenkundig zu machen. »Beides sind schließlich Straftatbestände«, heißt es in dem Text. Die Gewaltverhältnisse in Jobcentern, die »Basta« und »Tacheles« dokumentieren, kommen in dem Artikel hingegen nicht vor. Der Vorsitzende der Personalräte der Jobcenter, Uwe Lehmensiek, sieht immerhin die Not vieler Menschen, die sich mit Hartz IV herumschlagen müssen – um dann zu schreiben: »Wenn Menschen uns beleidigen und bedrohen, müssen ihnen Grenzen aufgezeigt werden.«

Einen anderen Weg geht die französische Basisgewerkschaft SUD, die Jobcentermitarbeiter unterstützt, die sich weigern, Erwerbslose zu sanktionieren. Dazu gehörte Fabienne Brutus, die 2008 erklärte: »Unsere Aufgabe ist es vor allem, den Arbeitsuchenden zu helfen, eine Beschäftigung zu finden, und das erwarten die Arbeitsuchenden von uns. Aber es gibt einfach keine Arbeit für alle.«

http://jungle-world.com/artikel/2016/30/54548.html

Peter Nowak

Der NSU-Skandal – Geschichte einer verhinderten Aufklärung


Wie die Staatsapparate aus einer Existenzkrise, in die sie durch die Selbstenttarnung des NSU geraten waren, gestärkt daraus hervorgegangen sind

In diesen Tagen des multiplen Terrors ist viel von neuen Gesetzen die Rede, die das Sicherheitsgefühl der Menschen stärken sollen. Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte[1] warnte in einem Interview[2] mit dem Deutschlandfunk vor reiner Symbolpolitik auf dem Gebiet der Sicherheit. Er hat als Alternative aber ebenfalls nur Symbolpolitik im Angebot.

Es sind ja einige konkrete Dinge benannt worden, aber die Sicherheitslage ändert sich ja dadurch faktisch nicht. Denn die Bürger brauchen nicht mehr Information oder nur Sicherheitspersonal, sondern sie müssen Vertrauen haben in den Staat, der sie elementar beschützt. Das ist im Moment nicht mehr der Fall und hier sind einfach viele Verunsicherungen, die eher durch Vertrauen, vielleicht auch durch Zukunftsprojekte aufzufangen sind, aber nicht durch Aufrüstung im Detail.

Können Migranten nach dem NSU Vertrauen in staatliche Behörden haben?

Nun denkt man, dass ein Politikwissenschaftler, der sich mit den innenpolitischen Debatten der letzten Jahre beschäftigt hat, dann auch wissen müsste, dass zumindest bei Bürgern mit migrantischem Hintergrund das Vertrauen in den deutschen Staat nachhaltig gestört wurde, nachdem bekannt wurde, dass der Nationalsozialistische Untergrund neun Menschen aus völkisch-rassistischen Gründen ermordete und alle staatlichen Apparate alle Spuren in die rechte Szene abwiesen und stattdessen die Opfer, ihre Angehörigen und Freunde zu den eigentlichen Tätern erklärten. Sie wurden verhört und in der Öffentlichkeit verleumdet.

Nachdem der Charakter der NSU als völkische Terrororganisation nicht mehr zu bestreiten war, sah es für kurze Zeit so aus, als läge eine Abwicklung der Verfassungsschutzämter im Bereich des Möglichen. Doch heute erwähnt der Politologe Korte den NSU nicht einmal mehr, wenn er von Vertrauen spricht, das die Bürger in einen Staat haben sollen, der sie beschützt.

Die Amadeus Antonio Stiftung und der Verfassungsschutz

Dass heute von einer Abwicklung der Geheimdienste nicht die Rede sein kann, zeigte das Mitte Juli, also lange vor den neuen multiplen Gewaltaktionen verabschiedete bayerische Verfassungsschutzgesetz[3]. Es erlaubt die Vorratsdatenspeicherung auch für Verfassungsschutzämter und die engeren Kontakte zwischen V-Leuten, der Polizei und anderen Sicherheitsbehörden.

Der Journalist Stefan Dietl zeigt gut auf, wie nun der NSU herhalten muss, um die staatliche Apparate zu perfektionieren[4]:

Auch im Freistaat erwies sich bereits kurz nach der Entdeckung des NSU das Vorgehen des bayerischen Verfassungsschutzes als fragwürdig. Fünf Morde ereigneten sich in dem Bundesland. In Nürnberg wurden Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar ermordet, in München Theodoros Boulgarides und Habil Kılıç. Hinzu kommt ein Sprengstoffanschlag in einer Nürnberger Gaststätte, der ebenfalls dem NSU zugerechnet wird.

Dabei ist immer noch ungeklärt, wie eng der Kontakt von V-Leuten des bayerischen Verfassungsschutzes zu dem rechtsextremen Terrornetzwerk war. Klar ist hingegen, dass Geld des Verfassungsschutzes maßgeblich zum Aufbau der neonazistischen Internet-Präsenz Thule-Netz beigetragen hat. Mehr als 150 000 Euro für den technischen Betrieb des Netzes flossen vom Landesamt an einen V-Mann.

Dieser hatte auch enge Verbindungen zum Thüringer Heimatschutz, in dem sich Mundlos, Bönhardt und Zschäpe betätigten. Trotz solcher dubioser Machenschaften erhält der bayerische Verfassungsschutz bundesweit einmalige Befugnisse.

Auch unter den VS-Reformern gibt es Dissens. Das zeigt eine Kontroverse, die verschiedene zivilgesellschaftliche Initiativen, zu denen auch die NSU-Opferinitiative Keupstraße ist überall[5] gehört, mit der Amadeus Antonio Stiftung austragen. Sie werfen ihr in einem Offenen Brief[6] Kooperation mit dem Verfassungsschutz vor. In ihrer ausdrücklich als solidarische Kritik verstandenen Intervention beziehen sich die Initiativen auf den Umgang der staatlichen Behörden mit dem NSU:

Wir, als Initiativen die sich mit dem NSU-Komplex befassen und z.T. seit Jahren mit den Angehörigen und Opfern des NSU-Terror eng zusammenarbeiten, finden eine Zusammenarbeit mit Geheimdiensten nicht vereinbar mit der Arbeit gegen Rassismus und Antisemitismus. Wir fordern Euch deshalb auf, diese Zusammenarbeit zu beenden.

Moniert werden neben verschiedenen Gesprächen, Veranstaltungen und Symposien, an denen Vertreter von Geheimdiensten und der Amadeus Stiftung teilgenommen haben, auch die Mitgliedschaft des Präsidenten des Thüringischen Landesamtes für Verfassungsschutz[7] Stephan J. Kramer im Stiftungsrat der Amadeu Antonio Stiftung[8].

Nun wurde Kramer von der Thüringer Landesregierung, in der die Linke dominiert, als Quereinsteiger ausgewählt, weil der neue Vorstellungen in das Amt einbringen soll. Ein Sprecher der Initiative „Keupstraße ist überall“ erklärt, dass es bei dem Streit um mehr als nur um das Verhältnis der Amadeus Antonio Stiftung zu den Geheimdiensten geht.

„Es ist ein Problem, dass die Verfassungsschutzämter gestärkt aus dem NSU-Verfahren herausgehen und sich jetzt an die Zivilgesellschaft anbiedern“, sagt Massimo Perinelli von der „Initiative Keupstraße ist überall“ gegenüber der Taz[9], „Organisationen wie die Amadeu-Antonio-Stiftung dürften da nicht mitmachen.“

„Die Logik des politischen Skandals besteht darin, dass sich nichts Grundsätzliches ändert“

„NSU und Staat – Verhinderte Aufklärung“ lautet der Titel der aktuellen Ausgabe der Zeitung für Bürgerrechte & Polizei[10], die allen empfohlen sein soll, die sich sachkundig informieren wollen, wie die Staatsapparate aus einer Existenzkrise, in die sie durch die Selbstenttarnung des NSU geraten waren, gestärkt hervorgegangen sind. In der Redaktionsmitteilung wird gut zusammengefasst, was in den letzten Jahren geschehen ist.

Am Anfang herrschte helle Aufregung und Bestürzung. Behörden versuchen zu vertuschen. Die Öffentlichkeit fordert Aufklärung. Verantwortliche werden gesucht und müssen gegebenenfalls zurücktreten. Es wird ein bisschen aufgeräumt, unter Umständen verabschiedet man das eine oder andere Gesetz, MinisterInnen geloben Besserung, das mediale Interesse erlahmt. Die Logik des politischen Skandals besteht darin, dass er vorbei geht und sich nichts Grundsätzliches ändert.

Das ist auch eine implizierte Kritik an linken Medien, die beim NSU-Skandal vor allem und in erster Linie die große Staatsverschwörung witterten und noch den Doppelselbstmord des NSU-Duos in Zweifel zogen. Dazu schreibt die Journalistin Heike Kleffner in dem Cilip-Heft über die Rekonstruktion des polizeilichen Vorgehens rund um die Selbstenttarnung des NSU nach dem Banküberfall in Eisenach und dem Brand in der Frühlingsstraße am 4. November 2011:

Dabei wurde vor allem eines deutlich: Dass es weder Anhaltspunkte gibt für die auch unter Linken gerne gelesenen und rezipierten Verschwörungstheorien von einem angeblichen Mord an Mundlos und Böhnhardt am 4. November 2011 in Eisenach noch für die behördlichen Manipulationen des Auffindortes der Ceska-Mordwaffe und des „NSU-Archivs“ in der Zwickauer Frühlingsstraße.

Vielmehr hat die Beweisaufnahme die Wirkmächtigkeit der Selbstinszenierung militanter Neonazis gezeigt: Seit der NS-Zeit präsentieren sie sich in ihrer Propaganda als „heroische“ Kämpfer, die aufgrund ihrer ideologischen Überzeugung quasi mit der Waffe in der Hand und bis zum letzten Blutstropfen wild um sich schießend auf dem Schlachtfeld für „die weiße Rasse“ in den Tod gehen – in diesem Fall im Kampf gegen den Staat in Gestalt der Polizei in Eisenach.

Schon vor einigen Wochen hatte die Landtagsabgeordnete der Linken in Thüringen, Katharina König[11], bei einer Diskussion auf dem Fest der Linken in Berlin[12] heftig kritisiert, dass für manche im Zusammenhang mit der NSU-Aufarbeitung nicht der mörderische Rassismus im Mittelpunkt steht, sondern die Frage, was mit dem durch die Schüsse austretenden Gehirnmasse des toten Naziduos geschehen ist.

Dass es auch möglich ist, die vielen Ungereimtheiten um den NSU ohne Verschwörungstheorien zu thematisieren, zeigt sich im Cilip-Heft an vielen Beispielen. So legt Kim Finke vom Lotta-Magazin[13] aus NRW am Beispiel des V-Mannes mit langjähriger rechter Biographie Johann H. dar, wie die Behörden jeden Verdacht, der NSU bestünde nicht nur aus dem bekannten Trio, ignoriert[14] hat.

In dem Artikel wird gezeigt, wie sämtliche Indizien, die auf Johann H. bei einem dem NSU zugeschriebenen Anschlag in der Kölner Propsteistraße hindeuten, ausgeblendet werden. So wie in diesem Fall bleibt auch an allen weiteren NSU-Tatorten das örtliche Umfeld, das bei der Ausspähung und der Logistik unerlässlich war, ausgespart. Hätte eine Beschäftigung mit diesen Umfeld gezeigt, wie viel VS im NSU steckt? Diese Frage kann man sich stellen, ohne Verschwörungstheorien zu bemühen.

Initiativen, die sich dieser Aufgabe seit mehr als fünf Jahren widmen, kommen im Cilip-Heft zu Wort. Ihre Webauftritte werden am Ende des Heftes noch einmal gesondert vorgestellt. An erster Stelle steht das Portal NSU-Watch[15], das von einer Reihe von Initiativen aus dem antifaschistischen Spektrum betrieben wird.

Das von den beiden Anwälten der Nebenkläger Alexander Hoffman und Björn Ebeling[16] und der Berliner Rechtsanwälte Sebastian Scharmer und Peer Stolle[17] betriebene Blog liefert vor allem wichtige Informationen über das juristische Verfahren im Fall Zschäpe.

Keine juristische Aufarbeitung des NSU

Spätestens seit das Münchner Oberlandesgericht kundtat, dass es dem Ex-Verfassungsschützer Andreas Temme alias Klein Adolf glaubte, der mit einer haarsträubenden von Widersprüchen und offenen Unwahrheiten geschmückten Erklärung zu begründen versuchte, warum er sich just während des Mordes an dem Kasseler Cafe-Betreiber Halit Yozgat in dessen Internetcafé aufhielt und von allem nichts gemerkt haben will, wurde deutlich, hier geht es um die Staatsräson.

Und die würde Schaden nehmen, wenn aktenkundig würde, dass staatliche Apparate näher am NSU dran waren, als bisher bewiesen. Hiermit wird klar, dass das Münchner Gericht Zschäpe verurteilen will, aber die von der Nebenklage erhoffte gesellschaftliche Aufarbeitung der Ereignisse verweigern wird. Die Einlassungen der Angeklagten, die sich passgenau zur Version der Anklage fügt, kommt dem staatlichen Bemühungen entgegen, mit einem Urteil den NSU-Komplex abzuschließen

Die in den einzelnen Artikel im Cilip-Heft dokumentierten Beispiele von Geschichtsklitterung bis hin zur Fälschung der Ereignisse machen die Schlussbemerkung der Redaktionsmitteilung noch aktueller:

Nichts zu vergessen und weiterhin Aufklärung einzufordern – das sind wir nicht nur den Opfern des NSU und ihren Angehörigen schuldig. Dass ist auch angesichts der neuen Welle rassistischer Gewalt dringender denn je.

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48985/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://karl-rudolf-korte.de/

[2]

http://www.deutschlandfunk.de/innere-sicherheit-ein-rituelles-aufruesten-in-zeiten-der.694.de.html?dram:article_id=361457

[3]

http://www.behoerden-spiegel.de/icc/Internet/sub/3cf/3cf1051a-cf13-c151-e3f1-b5f7b988f2ee,,,aaaaaaaa-aaaa-aaaa-bbbb-000000000011&uMen=f6810068-1671-1111-be59-264f59a5fb42&page=1&pagesize=10&startmon=12&startyear=2015&attr=.htm

[4]

http://jungle-world.com/artikel/2016/29/54513.html

[5]

http://keupstrasse-ist-ueberall.de/

[6]

http://www.blackbox-vs.de/aas/

[7]

http://www.thueringen.de/th3/verfassungsschutz

[8]

http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wir-ueber-uns/gremien

[9]

http://www.taz.de/!5321974/

[10]

https://www.cilip.de/

[11]

https://haskala.de/tag/katharina-konig

[12]

http://www.fest-der-linken.de/fileadmin/download/programm/2016/fdl2016_programm.pdf

[13]

https://www.lotta-magazin.de/

[14]

http://keupstrasse-ist-ueberall.de/offener-brief-zum-fall-johann-h/

[15]

http://www.nsu-watch.info

[16]

http://www.nsu-nebenklage.de

[17]

http://dka-kanzlei.de/news_nsu.html

BERLIN:Kiezspaziergang in Friedrichshain


Rund 90 Anwohner/innen besuchen Orte der Verdrängung

Gemeinsam  mit  aktiven  Mieter/innen  aus  dem Viertel  hatte  die  Bezirksgruppe Friedrichshain der Berliner MieterGemeinschaft für den 12.  Juni  2016  zu  einem  Spaziergang durch  den  Friedrichshainer  Nordkiez eingeladen. Rund 90 Anwohner/innen aus der Nachbarschaft beteiligten sich am zweistündigen Rundgang und suchten Orte der Verdrängung und des Widerstands von Mieter/innen auf.

Den Treffpunkt bildete das neue Luxusbauprojekt „Carré Sama Riga“ der CGGroup in der Rigaer Straße 71. In den Wochen zuvor war es wiederholt zu Protesten gegen den Nobelbau gekommen. Am Vortag des Spaziergangs forderten ca. 80 Anwohner/innen bei einem vom Investor anberaumten Informationstag den Baustopp des Projekts. Als der Investor die Protestierenden als dumm und vernagelt beschimpfte und erklärte, er werde auf jeden Fall bauen, auch wenn ein Sicherheitsdienst das Gelände Tag und Nacht bewachen müsse, hatte er die Nachbarschaft endgültig gegen sich aufgebracht. Entsprechend viele dieser Anwohner/innen waren beim Kiezspaziergang wieder dabei. Entlang der Route berichteten Betroffene über unterschiedliche Formen der Verdrängung. Neben Mieter/innen sind von Verdrängung auch Betreiber/innen kleiner Läden, die sich die teure Miete nicht mehr leisten können, betroffen, hieß es in einem Redebeitrag. Eine Bäckerei, ein Blumenladen und ein Zeitungskiosk, die für die Versorgung der Bewohner/innen des Kiezes wichtig waren, mussten schließen. Diese Läden wurden ersetzt durch Schnellimbisse und Spätverkäufe, die Tourist/innen anlocken und für besonders prekäre Arbeitsbedingungen berüchtigt sind.

Gemeinsam gegen Verdrängung

An mehreren Orten berichteten Bewohner/innen verschiedener Häuser vom erfolgreichenWiderstand gegen Verdrängungsversuche. Die Voraussetzung sei dabei immer gewesen, dass sich die Betroffenen organisierten und gegenüber den Vermietern geschlossen auftraten. Von diesen Erfahrungen berichteten auch die Bewohner/innen verschiedener ehemals besetzter Häuser in der Rigaer Straße und der Liebigstraße. Auch die Mieter/innen eines Hauses in der Schreinerstraße konnten erfolgreich eine Modernisierung verhindern, nach der die Miete so stark gestiegen wäre, dass sie sich die Wohnungen nicht mehr hätten leisten können. Sie hatten sofort nach der Ankündigung der Modernisierung mit der Berliner Mieter Gemeinschaft Kontakt aufgenommen und eine Hausversammlung organisiert (siehe Seite 25). Von solchen Erfahrungen können Nachbar/innen profitieren, die sich aktuell gegen Vertreibung wehren. Dazu gehören etwa die Mieter/innen der nur wenige Meter entfernten Schreinerstraße 57. Seitdem sich das Haus im Eigentum der Fortis Wohnwert GmbH und Co. befindet, werden die Mieter/innen zum schnellen Auszug gedrängt. Dabei wird auch auf die Dienstleistungen des Entmietungsspezialisten AMB Agentur für Mieter und Bauherren GmbH zurückgegriffen (siehe MieterEcho Nr. 377/ Oktober 2015). Gegen Ende des Spaziergangs schilderte eine ehemalige Bewohnerin der Voigtstraße 39, wie dort im vergangenen Jahr Menschen rabiat aus ihren Wohnungen vertrieben wurden, die sie über mehrere Jahre still besetzt und eingerichtet hatten. Eines Morgens kam ein privater Sicherheitsdienst und erklärte ihnen, sie hätten die Wohnungen innerhalb von zwei Stunden zu verlassen. Persönliche Gegenstände wurden aus dem Fenster geworfen und vernichtet. Einige der Vertriebenen sind noch heute obdachlos. „Wir hatten damals keine Kontakte und wussten nicht, wo wir Unterstützung bekommen können“, beschreibt die ehemalige Bewohnerin die damalige Hilflosigkeit. „Der Kiezspaziergang soll auch dazu dienen, dass sich die Nachbarschaft besser
kennenlernt und es möglich wird, gegen Vertreibung Widerstand zu leisten“, lautete der Wunsch eines anderen Anwohners.
Aufgrund der positiven Resonanz sind weitere Kiezspaziergänge in Planung. Interessierte sind herzlich eingeladen, zu den Treffen der Bezirksgruppe (siehe Seite 31) zu kommen und an der Vorbereitung mitzuwirken.

http://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2016/me-single/article/kiezspaziergang-in-friedrichshain.html

MieterEcho 382 August 2016

Peter Nowak

Agenda des Protests

M99 Aktionen sollen Zwangsräumung verhindern

Am 9. August soll der Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf (M99) in der Manteuffelstraße geräumt werden. Damit würde der Ladenbetreiber Hans Georg Lindenau, der auf  einen Rollstuhl angewiesen ist, auch seine Wohnung verlieren. In den nächsten Tagen wollen seine UnterstützerInnen mit Aktionen und Kundgebungen gegen die Räumung mobilisieren. Am Mittwochabend trafen sich etwa 100 UnterstützerInnen auf Einladung des Bündnisses „Zwangsräumung verhindern“ im Berliner S0 36, um die Protestagenda zu koordinieren. Am 7. August soll eine Kiezdemonstration um 16 Uhr am Heinrichplatz beginnen, um den Betreiber Lindenau, der auch HG genannt wird, zu unterstützen. Im Stadtteil haben sich zahlreiche Läden und Projekte für seinen Verbleib eingesetzt. Auch die Stadtteilinitiativen Bizim Kiez und Kotti und Co. unterstützen ihn. Zur Demonstration haben sich auch UnterstützerInnen aus anderen Städten und aus dem Ausland angekündigt. Eine Arbeitsgruppe
möchte Schlafplätze für die auswärtigen UnterstützerInnen organisieren. Am 9. August sollen sich ab 8 Uhr die Menschen rund um das M99 versammeln. „Wir wollen so viele sein, dass für die Gerichtsvollzieherin, die die Räumung vollstrecken will, kein
Durchkommen mehr ist und sie unverrichteter Dinge wieder abziehen muss“, sagte ein Unterstützer von HG. Auf diese Weise konnten in der Vergangenheit mehrere Zwangsräumungen zumindest aufgeschoben werden. Sollte die Räumung nicht verhindert werden können, will Hans Georg Lindenau in einen Hungerstreik treten und gemeinsam mit UnterstützerInnen
den Verkauf seiner Waren mittels eines Containers organisieren.

aus: TAZ, 29. JU LI 2016

Peter Nowak
■■Mehr Infos: http://berlin.zwangsraeumungverhindern.org/2016/07/21/m99-termine/

Autonomes Filmprojekt

Berlin. Eine Crowd-Funding-Kampagne für das Filmprojekt „Decknamen Jenny“ von der selbstverwalteten Berliner Filmhochschule filmarche e.V. läuft noch bis Anfang August. Ein Team der Filmhochschule will  diesen Film gemeinsam mit LeihendarstellerInnen drehen, heißt es auf der Internetseite des Films , auf der bereits einzelne Rollen zur Besetzung ausgeschrieben  sind.  Der Plot zeichnet die Geschichte der jungen autonomen Mary, die nach einer gescheiterten militanten Aktion mit den Auswirkungen von staatlicher Repression konfrontiert ist. Den Soundcheck liefert die Band Guts Pie Eartshot (https://www.startnext.com/deckname-jenny).

aus Neues Deutschland vom 27.7.2016

http://www.pressreader.com/

Peter Nowak

„Für arme Leute scheint eine freie Wahl des Wohnortes nicht gewollt zu sein“

„Dem Jobcenter die Zähne ziehen“, lautete die Parole auf einem Transparent, mit dem am 25.Juli Mitglieder der Erwerbsloseninitiative Basta vor dem  Jobcenter Mitte gegen die vielfältigen Hindernisse protestierten, mit denen Hartz IV-Empfänger/innen an einen Wohnungswechsel gehindert werden. Zeitgleich besetzten Jobcenter-Aktivist/innen das Jobcenter und verteilten Flyer, die  größtenteils mit Sympathie aufgenommen wurden, an die Wartenden.  Eine Frau sagte spontan: „Es ist gut, dass ihr gekommen seid“. Im Gespräch stellte sich heraus, dass ihre Tochter nicht umziehen kann, weil sich das Jobcenter querstellt. Für Basta-Aktivistin Gitta Schalck ist es nur ein weiterer Beweis für eine Entwicklung, die sie bei ihren wöchentlichen Beratungen immer wieder macht. „Eine freie Wahl des Wohnortes armer Leute scheint nicht gewollt zu sein. Das zeigt der Berg an Hürden, den wir vor Abschluss eines Mietvertrages beim Jobcenter bewältigen müssen.“ “ An der Erlaubnis zum Umzug  hängen die Bewilligung der Umzugskosten, der Kaution und der Mietkosten“, schrieb die Initiative in einem Offenen Brief an das Jobcenter, den MieterEcho-Online veröffentlichte (http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/basta-jobcenter.html). Besonders zwei Punkte standen auch bei der Besetzung im Fokus ihrer Kritik.

Nach der Räumungsklage werden die ALGII-Leistungen gestrichen
„Wiederholt verschleppt die Behörde die Bearbeitung der Zusage nach Übernahme der Wohnkosten. Die ist aber die Voraussetzung zum Abschluss eines Mietvertrags. Auch die Übernahme von Kautionen bei Untermietsverträgen seien vom Jobcenter Mitte in mehreren Fällen verweigert worden. Damit werde das Recht von Erwerbslosen  verletzt, ihren Wohnort selber wählen zu können, moniert Schalk. Sie forderte von der Behörde, dass über die Übernahme der Wohnkosten sofort entschieden wird  und auch die Kaution für Untermietsverträgen generell übernommen werden soll. „Die Umsetzung unseres Anliegens würde den durch chronischen Geldmangel,  Bevormundung und Schikanen geprägten Alltag vieler ALGII-Berechtigter in  einem kleinen, aber wichtigen Teilbereich ein wenig entlasten“, begründete Schalk die Konzentration auf die beiden Forderungen. Derweil hat Basta an einen  weiteren Beispiel deutlich gemacht, wie einkommensschwache Menschen unter Druck gesetzt werden. Walter Sch. (vollständiger Name der Redaktion bekannt) sah einer Räumungsklage seiner Vermieters mit großer Sorge entgegen. Dann erhielt der Hartz IV-Empfänger  ein Schreiben des Jobcenter Mitte, das ihn noch mehr beunruhigte. „Ihre Leistungen wurden vorläufig eingestellt, weil Ihre Wohnung zum  6.7.2016 geräumt wird und Sie Ihren gewöhnlichen Aufenthalt eventuell nicht mehr im Bezirk der für Sie bisher zuständigen, im Briefkopf genannten Stelle, haben dürften“, wurde dem Mann mitgeteilt. Neben dem drohenden Verlust seiner Wohnung musste S. so auch noch befürchten, dass ihm die finanziellen Leistungen gestrichen werden. Der Pressesprecher des Jobcenter Mitte Andreas Ebeling blieb gegenüber MieterEcho-Online sehr allgemein. Die Behörde  bearbeite Anträge auf Übernahme der Wohnkosten als Sofortfälle, wenn die Dringlichkeit klar ist. Der Umgang seiner Behörde mit Anträgen auf die Übernahme einer Kaution bei Untermietverhältnissen sei in der Ausführungsverordnung  Wohnen  geregelt. Ebeling betonte, das Jobcenter halte das Gesprächsangebot gegenüber Mitgliedern von Basta ebenso aufrecht, wie die Strafanzeige gegen die TeilnehmerInnen der Besetzungsaktion.

http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/jobcenter-basta.html

MieterEcho online

Peter Nowak

Die Niederlage emanzipatorischer Bewegungen

In einer Welt von faschistischen Einzeltätern werden die strafende Polizei und die heilende Psychiatrie wieder zu vermeintlichen Rettern

Im Interesse der Sicherung ihrer Pfründe unterlassen die christlichen Großkirchen nicht jede Kritik am Islam. Sie sind sogar beriet, ihm Terrain – geistliches, ideologisches, materielles zu überlassen. Dazu passt, dass der Ramadan, der islamische Fastenmonat, in Deutschland mittlerweile wie ein nationales Ereignis zelebriert wird, bei dem sich sogar der Bundespräsident medienwirksam in Szene setzt. Fast könnte man meinen, die „Unterwerfung“ (was „Islam“ auf deutsch heißt), die der französische Schriftsteller Michel Houellebecq in seinem gleichnamigen Roman fiktonal-dystopisch thematisiert, sei bereits im Gange.

Eine solche Islamkritik ist in Deutschland an vielen Stellen zu lesen. Erstaunlich ist eher die Quelle des Textes[1], aus dem dieser Abschnitt stammt. Verfasst hat ihn Ingolf Bossenz, Experte für Religion der Tageszeitung Neues Deutschland, die sich ganz klar gegen Rassismus und Rechtspopulismus positioniert.

Auch in der Wochenzeitung Jungle World, die sich gegen jegliche Form von Rassismus einsetzt, waren in einem Interview[2] mit dem Vorstandsmitglied der NGO Eziden weltweit[3], Mizgin Saka, eher ungewohnte Töne für die Zeitung zu lesen:

Die Lage in deutschen Flüchtlingsheimen beschäftigt uns sehr und ich höre oft von Übergriffen muslimischer Geflüchteter auf religiöse Minderheiten. Letztes Jahr gab es einen solchen Fall in Bielefeld, wo es Messerattacken gegen einen yezidischen Flüchtling gab, weil er während des Ramadan nicht fasten wollte. Das ist kein Einzelfall, sondern steht für die bedrohliche Lage religiöser Minderheiten in deutschen Flüchtlingsheimen.

Beinahe ohne Ausnahme gingen alle Übergriffe von radikalen Muslimen aus, die ihre Opfer als „Ungläubige“ betiteln und als Rechtfertigung für diese diskriminierende Gewalt ihren Glauben heranziehen.Wir bemerken einen drastischen Anstieg dieser Gewalttaten – und auch die momentane Flüchtlingssituation in Europa und im Nahen Osten deutet nicht darauf hin, dass mit einem Rückgang zu rechnen ist.

Wir fühlen uns im Stich gelassen – die Bundesregierung muss endlich konsequenter und umsichtiger vorgehen. Oftmals sind Sicherheitspersonal oder Dolmetscher Komplizen dieser Attacken – die Sicherheitsvorkehrungen und Kontrollmechanismen müssen verbessert werden. Nicht nur Yeziden, sondern auch Juden und Christen sind durch islamistische Attacken bedroht sind.

Saka spitzt ihre Kritik sogar noch zu:

Mittlerweile schäme ich mich manchmal, deutsche Staatsbürgerin zu sein, weil wir tagtäglich erfahren, dass islamischen Kulturvereinen viel zu viel Raum gegeben wird und ihren diskriminierenden Weltanschauungen

Nun kann man auf viele Widersprüchlichkeiten der beiden Zitate eingehen. So versucht sich Bossenz von rechts abzugrenzen, in dem er eine „freie, offene, sachliche und schonungslose Debatte“ fordert, weil „der Islam zu Deutschland gehört“. Warum führt er dann aber in seiner Kritik an, dass das Fastenbrechen als nationales Ereignis zelebriert wird?

Und Mizgin Saka will aus den Yeziden eine Nation kreieren und argumentiert mit allen Ausgrenzungen, die dazu gehören, wenn man ethnonationalistisch argumentiert. Da muss natürlich die eigene Ethnie immer das Opfer  sein. Über die Unterdrückung von Frauen in der yezidischen Community[4] findet sich natürlich bei Saka kein Wort.

Auffällig sind ihre scharfen Angriffe in dem Interview auf die Kurden, die doch schließlich im letzten Jahr wesentlichen Anteil an der Rettung vieler Yeziden vor dem IS-Terror im letzten Jahr hatten, was natürlich für yezidische  Nationalisten ein Affront ist, weil sie ja den Mythos vom Verlass auf die eigenen Kräfte aufrecht erhalten wollen.

Ein gewisses Unbehagen in linksliberalen Milieu

Bemerkenswert ist, dass Bossenz und Saka in Medien veröffentlichen, die sich klar gegen Rassismus aussprechen und die Rechte von Geflüchteten  und Migranten verteidigen.  Auch die Besucher der Galerie Kurt Kurt[5] im Geburtshaus von Kurt Tucholsky im Berliner Stadtteil Moabit kann als Domäne der linksliberalen Menschen des Stadtteils gelten. Zumal dort in der aktuellen Ausstellung auch das nahe Landesamt für Gesundheit und Soziales[6], das als behördliche Erstaufnahmeeinrichtung für Migranten monatelang Schlagzeilen machte, mit in die aktuelle Ausstellung einbezogen wurde.

In einem Eck der Galerie befindet sich eine hölzerne Kammer mit einem Feldstecher, mit dem die Besucher direkt in die Büros des Lageso blicken und die Mitarbeiter am Schreibtisch, meistens aber nur Blumen beim Wachsen, beobachten kann.  Am 20.7. konnten die Galeristen mit Durs Grünbein und Via Lewandowsky zwei bekannte Künstler für einen Dialog über das Leben und das Reisen gewinnen. Schnell kamen beide auf das Thema Migration. Beide sind in Dresden geboren und haben sich  in ihrer politischen und künstlerischen Sozialisierung mit der DDR-Biographie gerieben.

Beide haben die  Migrationsbewegung am Ende der DDR sehr direkt miterlebt. Lewandowsky hatte  1989 selber die DDR verlassen.  Grünbein war Zeuge, wie der Zug mit den zunächst nach Ungarn Geflüchteten nach dem Willen der DDR-Oberen den Weg in die BRD über das Territorium der DDR nehmen musste. Was für die SED-Nomenklatura eine Bekräftigung ihrer Staatsautorität  darstellen sollte, trug nach Grünbeins Beobachtung dazu bei, dass sich die Opposition in der DDR  erst richtig entzündete.

Beide Künstler äußerten eine Grundsympathie mit den Geflüchteten und wandten sich auch gegen die Einteilung in politische und wirtschaftliche Flüchtlinge. Grünbein hob besonders hervor, dass es durch die Migrationswelle doch vielen kranken Menschen möglich wurde, sich in Deutschland medizinisch behandeln zu lassen. Unabhängig von der Frage, ob das so stimmt, weil es immer wieder Berichte gibt, dass nur medizinisch dringend notwendige Behandlungen übernommen werden,  sollte positiv hervorgehoben werden, dass Grünbein und Lewandowsky, aber auch das Publikum, es als einen Fortschritt bezeichneten, dass die Menschen ihr Recht auf Gesundheit wahrnehmen können.

Das hebt sich sehr angenehm von dem Lamento derer ab, die über die Einwanderung in deutsche Sozialsysteme lamentieren. Doch in der Gesprächsrunde äußerten beide Dialogpartner auch ein gewisses Unbehagen angesichts von Migranten, die sich in Deutschland unkontrolliert aufhalten. Das Bild von offenen Grenzen, die Menschen ohne Kontrolle passierten, macht offenbar Angst. Grünbein und Lewandowsky verwiesen demgegenüber auf die lückenlosen Kontrollen, mit denen DDR-Flüchtlinge im Aufnahmelager Marienfelde konfrontiert waren.

Dort waren neben vielen anderen Institutionen auch Polizei und BND vertreten. Das linksliberale Publikum teilte größtenteils die geäußerten Ansichten, was eben deutlich macht, dass offene Grenzen ohne Kontrollen auch Personen, die sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzen und die die Einteilung der Migranten in politische und solche, die nur ein besseres Leben wollen, ablehnen, zumindest Unbehagen bereiten.

Die Illusion über die Sicherheit durch Grenzen und die Renaissance der staatlichen Ordnung

Durch die Serie von Anschlägen der letzten Zeit wird sich dieses Gefühl noch verschärfen. Dass es dabei eher um einen Placebo-Effekt handelt, ist klar, aber es geht um das Gefühl von Sicherheit und nicht um mit Zahlen untermauerte Fakten. Wie Menschen in geschlossenen Räumen besser schlafen können, auch wenn sie nicht wirklich gesichert sind, so wirkt allein die Vorstellung, alle Menschen, die nach Deutschland kommen, sind durch irgendwelche Beamten kontrolliert worden, beruhigend. Dabei dürfte klar sein, dass Menschen, die, von wem auch immer organisiert, nach Deutschland eingeschleust werden, mit falschen Dokumenten die Grenzen überwinden können. Hängen bleiben die Migranten, die ihre Papiere verloren haben und nicht organisiert sind.

Die vielen Anschläge der letzten Wochen aber schaffen ein Gefühl der Unsicherheit und fördern Einstellungen, die dann Grenzen, massive Polizeipräsenz, aber auch den Einsatz der Bundeswehr im Innern plötzlich auch bei Menschen akzeptabel erscheinen lassen, die sich politisch lange dagegen wandten. In einer ruhigen Minute werden sie auch weiterhin zugeben, dass dies Placebos sind, aber sie beruhigen.

Die Stunden der Ungewissheit, als in München Menschen in Supermärkten per Smartphone ihr Testament machten, weil sie der Überzeugung waren, dass jetzt das islamistische Armageddon gekommen ist, sind in dieser Beziehung aufschlussreich. Hier handelte es sich auch um Reaktionen von Menschen, die bisher überzeugt waren, eher rational zu sein und nicht gleich in Panik zu verfallen. Da nun die gerade die sozialen Medien die Panik förderten, wird dann auf einmal die  bayerische Polizei – und in Reserve noch die Bundeswehr als Institution, die für Ruhe und Ordnung steht – gelobt.

Dass es immer wieder Beispiele gab, wo sich in Krisensituationen die Menschen selber organisieren und auch dafür sorgen, dass sie aus einer lebensbedrohlichen Situation entkommen, wird dabei ausgeblendet. Ein gutes Beispiel war die Situation nach der Naturkatastrophe Katrina[7] in den USA, als der Staat ganze Gebiete verlassen hatte und sich die Menschen selbst halfen[8]. Die Frage, wie sich Menschen im Alltag organisieren können, damit das auch bei Anschlägen, von wo immer sie kommen, möglich ist, wäre die wichtige Diskussion, die geführt werden muss. Die Erfahrung, nicht nur in den Stunden der Angst in München zeigen, dass da die sozialen Medien, Twitter etc. keinesfalls eine Unterstützung sind.

Amok, Terror, Anschlag – eine unergiebige Diskussion

Doch statt solche Diskussionen zu führen, wird in den Medien darüber gestritten, ob ein Amoklauf wie München Terror ist, ob es eine Beziehungstat oder ein islamistischer Anschlag ist, wenn ein Reutlingen ein Mann seine ehemalige Freundin mit einem Dönermesser umbringt. Dabei wird übersehen, dass die Grenzen fließend sind und dass in diesen Tagen, wo die Nachrichten immer mehr von Anschlägen der unterschiedlichen Art dominiert werden, Menschen ohne religiösen Hintergrund auf die Idee kommen, mit einen lauten Knall die Welt zu verlassen.

Das Beispiel München macht auch noch einmal deutlich, dass kein islamistischer Hintergrund nötig ist, um wahllos Menschen zu ermorden. Es braucht gar nicht den Breivik-Bezug um deutlich zu machen, was die Gemeinsamkeit bei allen Bluttaten der letzten Wochen ist. Es handelt sich um Faschismus in Aktion, dessen Kennzeichen ein Todeskult und der Vernichtungswunsch gegen alles Fremde bzw.  gegen Menschen sind, die zu individuellen Feinde erklärt werden.

Um ein weniger bekanntes Beispiel der globalen Serie faschistischer Einzeltäter herauszugreifen: Wenn in Japan ein Mann in eine Einrichtung für Behinderte eindringt, mindestens 20 Menschen ermordet und hinterher erklärt[9], er sei der Meinung, diese Menschen haben kein Lebensrecht, dann ist das Faschismus in Aktion. Ob der Täter durch den Koran oder Texte von Breivik oder Hitler dazu motiviert wurde, oder ob er  keine von ihnen kennt, mag die Justiz ermitteln.

Für eine politische Beurteilung ist diese Differenzierung nicht nötig. Genauso fatal ist der scheinbar rettende Ausweg, doch all die Einzeltäter für verrückt zu erklärten. Schon haben sie mit „uns“ und  „unserer Gesellschaft“ nichts mehr zu tun und neben der Renaissance der Polizei wird auch die heilende Psychiatrie wieder in ihr Recht gesetzt. Dagegen gilt es an den Grundsätzen  der Psychiatriekritik anzuknüpfen, dass nicht der Einzelne sondern die Gesellschaft verrückt ist  Die vielen so unterschiedlichen Einzeltäter reagieren mit faschistischen Methoden auf diese Verrücktheit der Welt.

Die meisten wollen damit nichts zu tun haben und rufen sichere Grenzen, die eigene Nation oder Religion als Schutzwall gegen die  Zumutungen der Welt auf. Die schwere Aufgabe wird es sein, eine emanzipatorische Antwort auf die verrückte Welt zu finden, die nicht die alten staatlichen Instanzen wieder in ihr Recht setzt. Die Psychiatriekritik war ein Teil des sozialen Aufbruchs der 1960er Jahre.

Die Terroraktionen der verschiedenen  faschistischen Einzeltäter aller Couleur sind eine Folge von gesellschaftlichem Niedergang, der globalen Niederlage emanzipatorischer Bewegungen und des scheinbar schrankenlos.

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48949/1.html

Peter Nowak 26.07.2016

Anhang

Links

[1]

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1019613.die-botschaft-des-bajazzos.html

[2]

http://jungle-world.com/artikel/2016/29/54534.html

[3]

https://www.facebook.com/eww.ev/posts/1023816384379768?comment_id=1023919111036162&comment_tracking=%7B%22tn%22%3A%22R%22%7D

[4]

http://www.welt.de/vermischtes/weltgeschehen/article13816274/Zwangsehe-und-sexuelle-Unterdrueckung-bei-Jesiden.html

[5]

http://www.kurt-kurt.de/html/Aktuell.html

[6]

https://www.berlin.de/lageso/

[7]

https://www.tagesschau.de/ausland/katrina-173.html

[8]

http://www.untergrund-blättle.ch/politik/ausland/usa_new_orleans_hurricane_katrina_3178.html

[9]

http://www.dw.com/de/n%C3%A4chtliches-massaker-an-behinderten-in-japan/a-19427145

Plötzlich Leistung weg

HARTZ IV Erwerbslose auf Wohnungssuche müssen mit Schikanen des Jobcenters rechnen

Walter S., der seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen will, war wegen einer Räumungsklage seines Vermieters ohnehin schon in Sorge. Dann erhielt der Hartz-IV-Empfänger ein Schreiben vom Jobcenter Mitte. Darin stand: „Ihre Leistungen wurden vorläufig eingestellt, weil Ihre Wohnung zum 6. 7. 2016 geräumt wird und Sie Ihren gewöhnlichen Aufenthalt eventuell nicht mehr im Bezirk der für Sie bisher zuständigen, im Briefkopf genannten Stelle haben dürften.“ Neben dem Verlust seiner
Wohnung musste S. nun befürchten, dass ihm die Leistungen gestrichen werden. Für Gitta Schalk von der Berliner Erwerbsloseninitiative Basta ist das Schreiben keine Ausnahme. „Unter dem scheinbar schönen Label „Bürokratieabbau“ werden von den Jobcentern ständig neue Schikanen gegen Erwerbslose ausgeheckt“, erklärt sie. Es handele sich um hausinterne Regelungen und Dienstanweisungen, die den Betroffenen nicht bekannt sind. Nur die Konsequenzen haben sie zu tragen. Besonders ein Wohnungswechsel sei für Hartz-IV-EmpfängerInnen im Jobcenter Mitte mit bürokratischen Hürden verbunden, berichtet Schalk aus ihrer täglichen Beratungstätigkeit.

Offener Brief

In einem offenen Brief an das Jobcenter hat Basta Kritik am Umgang mit wohnungsuchenden Hartz-IV-BezieherInnen geübt.
Wiederholt verschleppe die Behörde nach einer Zusage die Übernahme der Wohnkosten. Die ist aber die Voraussetzung
zum Abschluss eines Mietvertrags. Auch die Übernahme von Kautionen bei Untermietsverträgen sei vom Jobcenter Mitte
in mehreren Fällen verweigert worden. Damit werde das Recht von Erwerbslosen verletzt, ihren Wohnort selber zu wählen, moniert Schalk. Das müsse sich ändern. Der Pressesprecher des Jobcenters Mitte, Andreas Ebeling, sagte der taz, dass er den Brief von Basta und die konkreten Vorwürfe nicht kenne. Generell sei das Jobcenter dafür nicht die richtige Anlaufstelle. Es etze nur die vom Berliner Abgeordnetenhaus beschlossen Richtlinien um. Die ErwerbslosenaktivistInnen sehen  das anders: Die Praxis des Jobcenters ignoriere die Grundrechte einkommensschwacher Menschen.

TAZ. DIENSTAG, 26. JU LI 2016

Peter Nowak

40 Jahre nach Entebbe

vom 26. September 2023

Eine Flugzeugentführung unter deutscher Beteiligung und die Frage nach dem Verhalten deutscher Linker

In Israel hat der 27.Juni 1976 eine  große Beachtung gefunden. Die Entführung eines Flugzeugs, das auf dem Weg von Tel Aviv nach Paris war, durch ein multinationales Guerillakommando ist auch nach 40 Jahren nicht vergessen[1].

Überlebende und ihre Angehörigen kommen ebenso zu Wort wie…
„40 Jahre nach Entebbe“ weiterlesen

Transnational streiken – Arbeitskampf bei Amazon

striketogether

Ende März traten erneut Beschäftigte in mehreren deutschen Amazon-Standorten in den Ausstand. Hauptforderung ist die Bezahlung nach dem Flächentarif für den Einzelhandel. Doch der Amazon-Konzern bleibt bei seiner bekannten Linie und lehnt die Forderungen ab. Für das Management ist es eine Machtfrage, die Forderungen der Beschäftigten abzuwehren. In der Dienstleistungsgewerkschaft gab es bereits im letzten Jahr Überlegungen, den Kampf bei Amazon auslaufen zu lassen. Doch längst ist der Kampf bei Amazon über eine Auseinandersetzung zwischen Konzern und Verdi hinausgewachsen.

Solidarität an der Basis

Beschäftigte, die sich in den Streikauseinandersetzungen politisiert haben, sind in den Standorten ein wichtiger Faktor an der Basis. Seit mehr als zwei Jahren hat sich zudem eine außerbetriebliche Amazon-Streiksolidarität gegründet, die mit den Beschäftigten kooperiert. Ein weiterer zentraler Pluspunkt des Amazon-Streiks ist die transnationale Dimension. Seit mehr als einem Jahr sind im Amazon-Logistikzentrum Poznan Kolleg_innen in  der anarchosyndikalistischen Workers Initiative (IP) organisiert. Gemeinsam mit den Beschäftigten organisierte sie in den letzten Monaten zwei Solidaritätsaktionen mit den Streikenden in Deutschland. Vom Verdi-Apparat gab es dabei keinerlei Unterstützung, schließlich ist die polnische Partnergewerkschaft von Verdi im Amazon-Werk in Poznan kaum vertreten. Trotzdem ist eine Kooperation der Kolleg_innen aus Deutschland und Polen gelungen. Mit Unterstützung des Solidaritätskomitees wurden die Kontakte angebahnt. „Als  wir uns das erste Mal getroffen haben, merkten wir schnell, es ist die gleiche Arbeitshetze, die gleichen Methoden der Ausbeutung“, beschreibt ein Amazon-Kollege aus Bad Hersfeld die schnelle Verständigung unter den Kolleg_innen. „Als wir uns mit dem Arbeitskampf der Kolleg_innen in Deutschland solidarisieren, spielte die Frage der Gewerkschaft überhaupt keine Rolle. Wir unterstützen die streikenden Kolleg_innen“, erklärte auch eine Amazon-Beschäftige aus Poznan. Mittlerweile hat es mehrere Treffen gegeben, bei denen aktive Kolleg_innen aus beiden Ländern sich austauschten und auch überlegten, den Arbeitskampf über die Landesgrenzen auszuweiten.

Probleme benennen

Die IP hat dabei in einer Erklärung einige Aspekte, die für die Ausweitung des Arbeitskampfes von Bedeutung sind, benannt und dabei die Probleme nicht verschwiegen. So wird das Amazon-Modell des Heuern und Feuern als hinderlich für eine Organisierung benannt.

Die Spaltung in Fest- und Zeitarbeit schwächt die Arbeiter_innen deutlich. Sie erhöht den Druck auf alle, auch auf die Festangestellten, und beschränkt die Möglichkeiten zur Selbstorganisierung. Amazon stellt zu besonderen Stoßzeiten, beispielsweise vor den Weihnachts- oder Osterfeiertagen, viele Mitarbeiter_innen ein, die danach entlassen werden. Die Arbeiter_innen leben in täglicher Angst, ihre Einkommensquelle zu verlieren oder sogar abgeschoben zu werden. Die IP hat eine Kampagne gegen die Leiharbeit gestartet, um auch die Kurzzeitbeschäftigten mit einzubeziehen. Am 1. März 2016 hat sie anlässlich des europäischen Aktionstages gegen Grenzregime und prekäre Arbeit vor mehreren Zeitarbeitsfirmen in Polen Kundgebungen organisiert. Wie in den Wochen zuvor, nahmen an den Protesten neben Beschäftigten Unterstützer_innengruppen teil. Die IP hat in ihrer Erklärung alles Nötige gesagt: „Wir sollten von dem ausgehen, was uns verbindet, und so lernen, wie wir uns gemeinsam organisieren und für höhere Löhne und angemessene Arbeitsbedingungen ohne prekäre Verträge kämpfen können. Nur wenn wir zusammenhalten, können wir bekommen, was wir alle wollen: den ganzen Kuchen statt ein paar Krümel vom Tisch unserer Herren.“

Peter NowakDer Autor ist freier Journalist (peter-nowak-journalist.de) und Herausgeber des Buches „Ein Streik steht, wenn mensch ihn selber macht“

Link zur Streik-Solidarität Leipzig: streiksoli.blogsport.de

Link zur Streik-Solidarität Berlin: www.facebook.com/SolidaritaetMitDenAmazonStreiks

https://www.direkteaktion.org/verteilzeitung-mai/transnational-streiken

aus: Sonderausgabe der Direkten Aktion zum 1. Mai 2016

von Peter Nowak 

Runder Tisch zur Rigaer zeigt Redebedarf

Versammlung von Anwohnern rund um das Hausprojekt in Berlin-Friedrichshain brachte keine neuen Erkenntnisse / Weder Bewohner der Rigaer Straße 94 noch Polizeivertreter kamen

Rund 40 Anwohner der Rigaer Straße in Friedrichshain haben sich am Donnerstagabend im Rathaus des Bezirks versammelt. Ziel war die Vorbereitung eines Runden Tisches, bei dem die Eskalation rund um die Rigaer Straße Thema sein soll. Moderiert wurde die Veranstaltung von der Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) und Freke Over von der Linkspartei, der in den vergangenen 20 Jahren zwei Mal an Runden Tischen zur Rigaer Straße 94 beteiligt war.

Unter den Teilnehmern waren Vertreter einer Baugruppe und zivilgesellschaftlicher Initiativen. Ein Delegierter von der Gruppe »Friedrichshain hilft«, die sich für die Integration von Geflüchteten im Stadtteil einsetzt, begründete sein Engagement mit der Unterstützung der Bewohner der Rigaer Straße 94 für Geflüchtete vor allem in den vergangenen Monaten. Die Eigentümerseite war durch einen Anwalt vertreten, der lediglich zuhören und die gesammelten Eindrücke an seine Mandaten übermitteln wollte.

Weitere Angaben zu seinen Auftraggebern wollte er nicht machen, was unter den Teilnehmern für Unmut sorgte. »Sieht so der Dialog aus?« rief eine Frau. In den vergangenen Tagen hatte es immer wieder widersprüchliche Angaben über die Besitzverhältnisse der Rigaer Straße 94 gegeben.

Nicht anwesend waren Bewohner des Hausprojektes. Sie ließen aber einen Brief verlesen, in dem sie erklärten, sich nicht von der Politik instrumentalisieren lassen zu wollen. Alle an gemeinsamen Lösungen Interessierte seien eingeladen, sich an Stadtteilinitiativen zu beteiligen.

Entschieden wurde schließlich, dass für den ersten richtigen Runden Tisch am 3. August ein professioneller Moderator engagiert werden solle. Dann soll auch die Polizei teilnehmen und sich der massiven Kritik am Einsatz in der Rigaer Straße stellen, der am 22. Juni begonnen hatte. Gegen diesen bereitet Rigaer-Anwalt Lukas Theune derzeit eine Klage vor.

Nach Angaben des »Tagesspiegel« will der Eigentümer es nun juristisch korrekt versuchen: Seit dem 4. Juli laufe eine Räumungsklage gegen das zunächst illegal geräumte Erdgeschoss des Hinterhauses und eine gegen eine Wohnung im vierten Stock des Vorderhauses, das aber nicht zum Hausprojekt gehört.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1019608.runder-tisch-zur-rigaer-zeigt-redebedarf.htm

Peter Nowak

Briten sollen Spitzelei von Mark Kennedy untersuchen

Berlin fordert, Ermittlungen gegen »Mark Stone« auf Tätigkeiten in Deutschland auszuweiten

kennedy

Mark Stone alias Mark Kennedy
Foto: http://euro-police.noblogs.org

Mark Stone war in ganz Europa als linker Aktivist bekannt und hatte Freunde in vielen europäischen Ländern. Für sie war es ein Schock, als 2010 bekannt wurde, dass der Mann eigentlich Mark Kennedy heißt und ein Undercoveragent des britischen Geheimdienstes war. Seit über einem Jahr untersucht in Großbritannien eine Kommission unter dem Vorsitz des Sonderermittlers Christopher Pitchford die Einsätze des verdeckter Ermittlers in der linken Szene.

Ein Schwerpunkt der Ermittlungen sind die sexuellen Beziehungen, die der Agent mit mehreren Frauen in der linken Szene eingegangen ist. Eine Berliner Freundin von Stone bezeichnete die Aufdeckung seiner Spitzeltätigkeit als »lange, qualvolle Folter«. Doch bisher sind die Auslandsbeziehungen des Spitzels nicht Gegenstand der Untersuchungen der britischen Kommission, sondern lediglich sein Einsatz in Wales und England.

Dagegen will der in Berlin lebende Jason Kirkpatrick, der mit dem vermeintlich linken Aktivisten Stone mehrere Jahre befreundet war, jetzt juristisch vorgehen. Seine Rechtsanwältin Anna Luczak hat ein Schreiben an das britische Home Secretary, wie das Innenministerium in Großbritannien heißt, gerichtet, in dem die Einbeziehung der geheimdienstlichen Tätigkeit Stones in Deutschland gefordert wird.

Eine Verweigerung verstoße gegen mehrere Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention, heißt es in dem Schreiben, das die erste Stufe einer Klage darstellt. »Das Home Secretary hat jetzt 14 Tage Zeit zu reagieren, dann werden wir weitere juristische Schritte vorbereiten«, erklärte Kirkpatrick gegenüber »nd«. »Ich warte seit einem Jahr, dass unsere Fälle Teil der Untersuchung werden, und bin mit meiner Geduld am Ende«, begründete er den juristischen Schritt.

Die Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele (Grüne) und Andrej Hunko (LINKE) haben sich in einem Schreiben an das britische Justizministerium dafür eingesetzt, dass Kennedys Aktivitäten in Deutschland Teil der Untersuchung werden müssen. Konkret soll die britische Polizei darüber informieren, wie britische Undercoveragenten bei Protestaktionen in Baden-Württemberg, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern agierten.

Auch das Bundesinnenministerium unterstützt mittlerweile das Anliegen von Kirkpatrick. In einem »nd« vorliegenden Schreiben erklärt der Referatsleiter Peter Steck, man habe das Home Secretary »um Ausdehnung des Untersuchungsauftrages der sogenannten Pitchford Kommission auf verdeckte Einsätze britischer Polizeibeamter in Deutschland gebeten«.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1019403.briten-sollen-spitzelei-von-mark-kennedy-untersuchen.html

Peter Nowak

Archäologie des Widerstands

Die Zukunft der Freien Archive zwischen staatlicher Förderung und Autonomie.

„Niemals werden zwanzig Foliobände eine Revolution machen. Die kleinen Broschüren sind es, die zu fürchten sind“. Dieser dem französischen Philosophen Voltaire zugeschriebene Satz könnten sich  die  Freien Archive auf ihre Eingangstüren kleben. Schließlich sind  solche Broschüren „in den  Sammelstellen für die papiergewordenen Relikte der autonomen, antifaschistischen, feministischen und anderer außerparlamentarischen   Bewegungen“ in großen Mengen zu finden. So klassifiziert  der Leiter des  Archivs für alternatives Schrifttum  (afas)   Jürgen Bacia die ca. 100 Freien Archive, die  zurzeit noch in Deutschland existieren. Betrieben werden sie überwiegend von Menschen, die es sich zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben, die Hinterlassenschaften der sozialen Bewegungen, in denen sie selber aktiv waren, zu sammeln und aufzubewahren.

In den Hochzeiten der Bewegung wurde diese Tätigkeit eher belächelt. Flugblätter und Broschüren sollten unmittelbar in eine politische Auseinandersetzung einwirken. Dass diese  Produkte einmal historische Dokumente werden würden, war für viele der Beteiligten kein Thema. Doch das hat sich geändert. Viele der an sozialen Bewegungen Beteiligten haben im Alter ein großes Interesse daran, die Bewegungen, in denen sie viel Zeit und Engagement gesteckt hatten, vor dem Vergessen zu bewahren.  Daher wollen viele von ihnen ihre Sammlungen einen der Freien Archive überlassen.  So soll auch verhindert werden, dass Erb_innen nach den Tod von politischen Aktivist_innen die oft ungeordneten Materialen   entsorgen. Es ist oft eher ein Glücksfall, wenn sie in einen Freien Archiv  ihren Platz finden.

Deren Mitarbeiter_innen aber stoßen in vielerlei Hinsicht bei ihrer Arbeit an die Grenzen.  Die Finanzierung ist oft nicht gesichert und die Arbeit kann nur mit viel Selbstausbeutung aufrecht erhalten werden. Daher hat der Freiheitsbegriff für Bacia auch seine Ambivalenz. Der Freiheitsbegriff hat durchaus etwas Ambivalentes.  „Einerseits arbeiten die Freien Archive möglichst hierarchiefrei, zumeist kollektiv  und erliegen  weniger den Zwängen großer Institutionen. Andererseits sind  die Menschen, die dort arbeiten,  häufig frei von regelmäßigen Einkünften und arbeiten unter ökonomischen Bedingungen, die keine Gewerkschaft akzeptieren würde.“ Bacia hat zusammen mit der Mitarbeiterin  des Leitungsteams des Archivs der Deutschen Frauenbewegung in Kassel schon 2013 im Verlag des Archivs der Jugendkulturen unter dem Titel „Bewegung bewahren – Freie Geschichte von unten“ einen Band herausgegeben,   das einen guten Einblick in die Szene der Freien Archive und ihre aktuellen Probleme  gibt.

Vom Bewegungsarchiv zum Dienstleister

Dabei wird auch deutlich, wie sich  die Freien Archive im Zeitalter der Digitalisierung verändern Voltaires Bonmot hatte von den   Zeiten der Französischen Revolution bis zum Ende des 20. Jahrhunderts seine Gültigkeit. Doch im  Zeitalter der Digitalisierung ersetzen zunehmend Internetblogs die kleinen Broschüren. So müssen Menschen, die an aktuellen  politischen Themen interessiert wird, nicht mehr in alten Ordnern stöbern. Doch schon, wenn es um die Geschichte der sozialen Bewegungen vor 30 Jahren geht, stößt man bei einer Internetrecherche schnell an die Grenzen.     Es sei denn, deren Geschichte wird von Freien Archiven digitalisiert und online gestellt. So hat das im Umfeld der Westberliner  Hausbesetzer_innenbewegung   der 1980er Jahre entstandenen Bildarchiv Umbruch zahlreiche Fotos und Videos der Volkszählungsboykottbewegung  im Internet zugänglich gemacht. Wenn man in  Suchmaschinen hingegen die Begriffe  „Kamphofhütte   Bielefeld“ eingibt erhält man einen Treffer.  Dabei  war die Errichtung dieser Hütte Mitte der 1980er Jahre im ostwestfälischen Bielefeld, ein frühes Beispiel einer „Recht auf Stadt-Bewegung“ und prägte für mindestens 2 Jahre einen großen Teil der außerparlamentarischen Linken  Ostwestfalens. Das Beispiel zeigt, dass ohne das Engagement der Freien Archive  Aktivitäten der außerparlamentarischen Linken dem Vergessen anheimfallen.

Staatsknete oder Widerstand?

Um   diese Aufgaben weiter erfüllen zu könne, brauchen die Freien Archive und ihre Mitarbeiter_innen eine staatliche Förderung bei Wahrung ihrer politischen Autonomie, ist die Meinung eines Kreises von Freie Archivar_innen, die Konzepte für eine langfristige Sicherung der Sammlungen erarbeiten. Sie verweisen auf die Archive der DDR-Opposition,  wie das Robert Havemann Archiv in Berlin oder das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte Matthias Domaschk“,, die großzügig gefördert werden. Cornelia  Wenzel kann   auf  solche Beispiele auch bei der Frauenbewegung  verweisen.         Doch Kritiker_innen fragen kritisch nach, ob noch von einer Autonomie der Freien Archive geredet werden kann. So wird in den Archiven der DDR-Oppositionsbewegung nur noch am Rande erwähnt, dass die dokumentierten    Gruppierungen keine Wiedervereinigung sondern eine reformierte DDR anstrebten.  Und bei den Erfolgen der Archive der Frauenbewegung sollte nicht vergessen werden, wie mit dem Nachlass  der engagierten Antifaschistin und Pazifistin Fasia Jansen in Oberhausen  umgegangen wird. „Bis heute sind die Materialien teilweise im Rathaus in Kartons untergebracht, andere in einem großen Raum im Infozentrum Gedenkhalle. ein Ort, der für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist“, schreibt Jansens langjährige Mitstreiterin  und Freundin Ellen Diederich. Deswegen sind viele in der Freien Archie-Szene skeptisch, wenn es um die Forderung nach staatlicher Unterstützung geht.  Das Berliner Bildarchiv Umbruch, das im Umfeld der Instandbesetzer_innenbewegung der 1980er Jahre entstanden ist,  empfiehlt hingegen, die Freien  Archive sollten  zu den Idealen der Freien Archive   zurückkehren.  Schließlich seien die  gegründet worden,  um den Nachgeborenen Unterstützung  bei ihren  Protesten  zu geben.   Wenn die Miete für die Archivräume steigt, sei es daher sinnvoller,  gemeinsam mit den  Nachbarinnen den Widerstand zu  organisieren, als mehr Unterstützung vom Staat zu fordern

aus ak 617 vom 21.Juni 2016

https://www.akweb.de/

Peter Nowak