Es gibt kein Recht auf Faulheit, Genossen!

Das bedingungslose Grundeinkommen hat in Deutschland viele Gegner. Zu den schärfsten Kritikern gehören die Gewerkschaften.

Das bedingungslose Grundeinkommen hat in Deutschland in großen Teilen der Linken einen guten Ruf, schließlich scheint es einer Arbeitsethik zu widersprechen, nach der nicht essen soll, wer nicht arbeitet. Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens ist, dass alle Menschen ein Recht auf ein Mindesteinkommen haben, unabhängig davon, ob sie einer Lohnarbeit nachgehen oder nicht. Doch Gewerkschafter gehören zu den entschiedenen Kritikern eines bedingungslosen Grundeinkommens. Nicht nur der SPD nahe stehenden DGB-Funktionäre, auch Basisgewerkschafter und Mitglieder kleiner Gewerkschaften außerhalb des DGB sprechen sich mit unterschiedlichen Argumenten gegen das bedingungslose Grundeinkommen aus. Gewerkschaftsnahe Wissenschaftler wie die Ökonomin Friedrike Spiecker bezeichnen die Forderung nach einen bedingungslosen Grundeinkommen als Irrweg und argumentieren dabei vor allem realpolitisch und ökonomisch. »Das Grundeinkommen zerstört die ökonomische Basis, aus der heraus es bezahlt werden soll, durch sein Konstruktionsprinzip«, begründet Spiecker im Interview mit dem Onlinemagazin Telepolis ihre Ablehnung. Wenn sie dann ergänzt, mit dem Grundeinkommen bestehe »ein Anreiz, sich auf dieser Leistung des Staates in dem Sinne auszuruhen, dass man um den Betrag weniger arbeitet, den man automatisch vom Staat erhält«, können ihr Befürworter mit Recht vorwerfen, dass sie retorisch den Arbeitsfetisch poliert. Spiecker vertritt hier durchaus den Mainstream der Kritik am bedingungslosen Grundeinkommen, wie sie auch von vielen DGB-Gewerkschaftern geäußert wird. Der ehemalige Landtagsabgeordnete der Grünen in NRW und Attac-Mitglied Friedrike Spieckerz setzt sich mit den linken Befürwortern des Grundeinkommens ebenfalls kritisch auseinander. Es werde völlig verkannt, »dass Lohnarbeit nicht bloß Mühsal und Plage ist, sondern auch ein zentrales Moment gesellschaftlicher Teilhabe«, schreibt Kreutz in einem auf der Internetplattform Labournet veröffentlichen Beitrag.

Auch linke Basisgewerkschafter außerhalb des DGB kritisieren das Konzept. So schrieb der Mitbegründer von Industrial Workers of the World (IWW), Heiner Stuhlfauth, in der libertären Zeitschrift Graswurzelrevolution: »Die Forderung nach dem BGE ist nationalstaatlich gedacht, verkennt die globalisierte Welt in ihrem Kern, sie ist borniert.« Zudem moniert Stuhlfauth, dass beim bedingungslosen Grundeinkommen der Ansprechpartner der Staat ist. Er stellt die Begeisterung auch Teile der außerparlamentarischen Linken für das Grundeinkommen in den Kontext der großen Schwierigkeiten bei der Organisierung von Erwerbslosen und Prekären: »Es wäre besser, einen Moment innezuhalten und diese Niederlage zu begreifen, sie an sich heran zu lassen, sich als arbeitsloser Teil der gesamten arbeitenden Klasse zu begreifen, anstatt direkt die nächste Kampagne zu reiten und sich damit hoffungslos auf dem Feld parlamentarischer Politik zu verrennen.«

Tatsächlich sind die Kritiker des bedingungslosen Grundeinkommens ebenso heterogen wie die Befürworter, die schließlich auch völlig unterschiedliche Modelle vertreten, die unterschiedliche politische und soziale Folgen hätten. So weist die linke Schweizer Wochenzeitung Vorwärts, die nichts mit dem SPD-Blatt gleichen Namens zu tun hat, darauf hin, dass auch bekannte Unternehmer zu dem Entwurf für ein bedingungsloses Grundeinkommen stehen, über den am 5. Juni 2016 in der Schweiz abgestimmt wird. In einer Broschüre beziehen sich die Befürworter positiv auf den wirtschaftsliberalen US-Ökonomen Milton Friedman. In Finnland bereitet eine rechte Regierungskoalition ein zeitlich befristetes Experiment mit einem bedingungslosen Grundeinkommen vor.

Diese Modelle haben aber nur den Namen mit den politischen Konzepten gemein, die in operaistischen Kreisen unter dem Namen Existenzgeld schon vor Jahrzehnten diskutiert wurden. Dass Kompromisse zwischen Gegnern und Befürworten des bedingungslosen Grundeinkommens möglich sind, zeigte schon vor mehr als einem Jahrzehnt der Arbeitslosenverband Mecklenburg Vorpommern mit der Parole »Von Arbeit muss man leben können, ohne Arbeit auch«.

http://jungle-world.com/artikel/2016/19/53981.html

Peter Nowak

Streit um Nobelprojekt im Sama-Kiez

Die Rudimente einer Kiezkultur sollten erhalten bleiben, sagen die Betreiber eines Clubs, der mit den Investoren kooperiert. Andere sehen die Kulturbetreiber als Feigenblatt des Kapitals.

Die alte Möbelfabrik in der Rigaer Straße 71-73 ist eine der größten Brachen in Friedrichshain. Doch bald soll dort mit dem »Carré Sama-Riga« etwas Nobles entstehen. »In einer der gefragtesten Kiez-Lagen von Berlin – im Samariter-Viertel – bereitet die CG Gruppe ein weiteres, anspruchsvolles Projekt vor«, heißt es auf der Homepage des Immobilienunternehmens.

Im Kiez regt sich Widerstand. »Wer wird von den teuren Lofts profitieren? Die, die oft nicht wissen, wie sie das Geld zum Überleben bekommen, sicher nicht«, heißt es in einer Einladung zu einem Vorbereitungstreffen zu einem Kiezspaziergang. Er soll zu Orten führen, an denen Geringverdiener verdrängt werden. »Schließlich müssen auch im Samaviertel immer mehr Menschen im Niedriglohnsektor überleben« so ein langjähriger Bewohner, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Nun befürchten viele Mieter, dass durch das »Carré Sama-Riga« die Mieten in dem Kiez weiter steigen.

»Ein von der Bevölkerung und Unterstützern durchgesetztes Bauverbot für Investoren wäre für alle Gegner ein Grund zum Feiern«, heißt es in Flyern und auf Plakaten, die im Stadtteil zu lesen sind. Denn in den ehemals besetzten Häusern in der Rigaer Straße und Umgebung gibt es noch linke Strukturen, die den Widerstand gegen den Neubau forcieren wollen.

Doch man streitet über das Wie. So wird den Betreibern des Clubs Antje Øklesund, der auf dem Gelände sein Domizil hat, vorgeworfen, sich von der CG-Gruppe einspannen zu lassen, um das Image des Neubaus aufzuwerten. Die Scheiben eines Projektraums in der Rigaer Straße waren vor einigen Wochen eingeschlagen worden. Hajo Toppius, der Geschäftsführer des Vereins Stadtraumnutzung, der den Laden und den Club betreibt, erklärt gegenüber »nd«, dass es der Initiative darum gehe, zumindest die Rudimente einer Kiezkultur auch in dem Neubau zu erhalten. Manchmal zweifle er selber, ob das gelingen könne. Unverständnis äußert Toppius, warum der Widerstand erst jetzt beginnt. »Wir haben mehrere Jahre versucht, im Kiez eine Diskussion über die Zukunft des Grundstücks anzuregen.« Geländebegehungen, Ausstellungen und Umfragen in der Nachbarschaft hätten wenig Resonanz gebracht. Jetzt sei der Bauantrag so gut wie unter Dach und Fach und noch in diesem Sommer solle der Bau beginnen.

Peter Nowak

Kann der rechte Sektor der Union den Aufstieg der AFD bremsen?

Es ist wahrscheinlicher, dass es in 10 Jahren von der CDU und der AfD gestellte Landesregierungen als eine bundesweite Ausbreitung der CSU gibt

In diesen Tagen wurde eine politische Mumie wieder ausgegraben, die CSU als bundesweite Partei. Soll ein Projekt, das selbst Franz Josef Strauß nicht verwirklichen konnte, von Seehofer und Co. wieder aufgegriffen werden?

Zumindest gibt es Anzeichen dafür, dass manche in der CSU den Aufstieg der AfD dafür nutzen wollen, um die CSU als Partei wieder ins Spiel zu bringen, die so weit rechts sein muss, dass die extreme Rechte keine Chancen auf eigenständige Organisierung hat – das war die Devise der CSU seit Jahrzehnten.

„Garant, dass Merkel ihren Kurs nicht einfach fortsetzen kann“

Die CSU werde in diesem Fall nicht als Unterstützerin der CDU in die Wahl ziehen, sondern als Garant dafür, dass Merkel ihren Kurs nicht einfach fortsetzen könne, erklärte[1] Seehofer laut Spiegel auf einer Strategiekonferenz der CSU. Nun ist nicht zu erwarten, dass die CSU tatsächlich den Alleingang unternimmt.

Zu groß ist die Gefahr, dass die CDU in Bayern kandidiert und der CSU die absolute Mehrheit abnimmt. Diese Sorge war es ja auch, die selbst einen F.J. Strauß den bundesweiten Alleingang zurücknehmen ließen. Zudem bleibt Seehofers jüngste Erklärung betont schwammig und vieldeutig. Wenn es heißt, falls die CDU in der Auseinandersetzung mit der AfD seinem Kurs nicht folge, müsse die CSU zur Not einen eigenen Wahlkampf bestreiten, dann ist das keinesfalls eine Erklärung für eine Trennung.

Vielmehr könnte die CSU eben mit ihren betont konservativen Stil genau die Wähler für die CDU/CSU werben, die mit der Linie der konservativen Mitte nicht zufrieden sind. So wäre die Ankündigung von Seehofer keine Kampfansage an die Merkel-CDU, sondern der Aufruf zu einer Arbeitsteilung.

Zudem hatte Seehofer in der Vergangenheit mehrmals betont, dass Merkel in der Flüchtlingsfrage still und heimlich auf seinen Kurs eingeschwenkt sei. Also könnte Seehofer hier betonen, dass Merkel bereits seinen Kurs folgt.  Damit würde er auch Zustimmung von seinen sozialdemokratischen Koalitionspartnern bekommen. Sigmar Gabriel hat erst jüngst in einem Spiegel-Interview[2] betont, Merkel habe in der Flüchtlingsfrage eine Kehrtwende um 180 Grad hingelegt.

„Es gab zur Entscheidung der Kanzlerin, im vergangenen September die deutsche Grenze für die Flüchtlinge aus Ungarn zu öffnen, keine Alternative“, sagte Gabriel dem Magazin. Nur habe Merkel ihre Politik inzwischen komplett geändert. Gabriel weiter:

Nachdem Österreich, Ungarn und Slowenien die Balkanroute geschlossen haben, sagt sie: Wir nehmen keine Flüchtlinge aus Idomeni auf, weil die Menschen sich dort eine Wohnung suchen könnten. Mit Verlaub: Das ist eine Wende um 180 Grad.

Gabriels und Seehofers Lesart ist jedenfalls näher an der Realität, als manche grünennahe Propaganda, die in Merkel noch immer die Freundin der Geflüchteten imaginiert. Wenn die linksliberale Taz kürzlich titelte „Grenzen offen, Seehofer ruhig“[3] dann wird deutlich, dass manche grünennahen vermeintlichen Flüchtlingsfreunde vor allem die Sorge umtrieb, auch in Deutschland würde wieder kontrolliert und die eigene Reiseaktivitäten wären tangiert.

Wenn die Grenze an der Peripherie der EU aufgerichtet wird und dadurch erfolgreich die Geflüchteten am Weiterreisen gehindert werden, ist man schnell beruhigt. Schließlich bleibt die Grenze in der Nähe offen.

Die europäischen Konservativen – nach rechts offen

Wie gut sich die vermeintliche liberalere und die autoritäre Linie in der konservativen Flüchtlingsabwehr ergänzen, zeigte sich beim Abschiedsbesuch des ungarischen Ministerpräsidenten Orban bei Ex-Kanzler Helmut Kohl. Was in manchen Medien als Affront gegen Merkel gewertet wurde, wurde offiziell als Familientreffen der europäischen Konservativen zelebriert.

Da konnte der flüchtlingspolitische Hardliner Orban, der Seehofer in Festungsmentalität noch weit in den Schatten stellt, zufrieden feststellen, dass Merkel auf seine Bedenken eingegangen ist und ihre Politik geändert hat. Von Merkel und ihrer Umgebung kam kein Protest. Warum auch?

So wird das Signal versandt, auch gestandene Rechtskonservative können ihr Kreuz noch bei der Union machen und darum geht es schließlich im beginnenden Vorwahlkampf. Orbans Kohlbesuch hat noch einmal klargestellt, dass auch ein Orban, der nicht nur in der Flüchtlingsfrage Positionen hat, die sich in Deutschland in der AfD wiederfinden, doch noch zur europäischen Familie der Konservativen gehört.

Die verschiedenen Formationen rechts von den europäischen Konservativen können sich dann als ihren Erfolg anrechnen, dass allein ihre Existenz schon die Politik nach rechts getrieben hat. Auch Gabriel hat mit seinem Interview, in dem er Merkel ihre Kehrtwende in der Flüchtlingsfrage vorhält, wahlpolitische Zwecke im Sinn. Er will der CDU nicht die Stimmen aus dem liberalen und grünennahmen Lager gönnen, die sich in den letzten Monaten als Merkel-Freunde outeten.

Da es dabei weniger um die Flüchtlingsfrage, sondern um ihr Ankommen in der Mitte der Gesellschaft geht, dürften auch noch so viele Argumente über Merkels Politik nichts an dieser neuen Liebe ändern.

Auch der Berliner Kreis[4], in dem sich die Konservativen in der CDU treffen, hat sich kürzlich zu Wort gemeldet und wieder einmal vor einer Sozialdemokratisierung der Union und einer Linksdrift gewarnt. Das ist nun nicht besonders überraschend, sondern gehört seit Jahren zum Markenkern des Berliner Kreises.

Nur bekommt er in Zeiten des fFD-Aufstiegs mehr politisches Gewicht. Schließlich haben die Rechtskonservativen jetzt eine parteipolitische Alternative mit Karrierechancen außerhalb der Union. Mit Alexander Gauland ist einer der langjährigen Mitglieder des Berliner Kreises zum AFD-Spitzenpolitiker geworden und fordert seine ehemaligen Parteifreunde auf, ihm zu folgen.

Doch viele werden erst abwarten, wie die Kräfteverhältnisse in einer Union nach Merkel aussehen und ob sich die AfD in der Parteienlandschaft behaupten kann. Dann ist es nur die Frage einer Legislaturperiode bis es zu ersten Absprachen, Bündnissen und Koalitionen mit der AfD kommt. Die Union wird aus machttaktischen Gründen darauf nicht verzichten, wenn die AfD sich als dauerhafter Faktor in der Parteienlandschaft erweist.

Aus den gleichen machttaktischen Gründen haben die Parteien neben der Union und der AfD aber das vitale Interesse, ein solches Bündnis zu be- oder verhindern. Jedenfalls ist es wahrscheinlicher, dass in 10 Jahren Landesregierungen von Union und AfD bestehen, als dass das es eine bundesweite CSU gibt.

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48247/1.html

Peter Nowak 

Anhang

Links

[1]

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/horst-seehofer-plant-eigenen-csu-wahlkampf-a-1091093.html

[2]

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/sigmar-gabriel-sieht-kehrtwende-in-angela-merkels-fluechtlingspolitik-a-1092201.html

[3]

http://www.taz.de/!5299557

[4]

http://www.berlinerkreisinderunion.de

Angriffe an der Tagesordnung

345 Flüchtlinge durch Attacken im vergangenen Jahr verletzt / Dokumentation belegt Gewalt gegen Schutzsuchende

Während in Politrunden über die Gefahren diskutiert wird, die Deutschland aus dem »Flüchtlingsstrom« erwachsen, sind Flüchtlinge realer Gewalt ausgesetzt, wie eine Dokumentation erneut belegt.

Eine brennende lebensgroße Strohpuppe, ein drei Meter hoher Galgen, ein Holzkreuz in Flammen oder aufgepflockte Schweinsköpfe vor Flüchtlingsunterkünften. Abscheuliche rassistische Vorfälle, doch schwerer als diese finden häufig Angriffe auf Flüchtlinge den Weg in die Medien. Seit 23 Jahren sammelt die Antirassistische Initiative Berlin (ARI) Fälle von Gewalt gegen Flüchtlinge – von institutioneller wie solcher, die Flüchtlingen auf der Straße entgegenschlägt; sie nennt ihre Dokumentationen die »Folgen der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik«. Die Arbeit der Aktivisten hat mit den jüngsten Entwicklungen eine neue Aktualität erfahren. In ihrer 23. aktualisierten Ausgabe haben sie eine erschreckende Entwicklung mit vielen Beispielen und Zahlen untermauert.

Die Anzahl der Gewalttaten mit Verletzungs- oder Tötungsabsicht gegen Geflüchtete ist in einigen Bundesländern immens angestiegen – und damit auch die Anzahl der Opfer. »Bei Angriffen auf Wohnunterkünfte und auf der Straße wurden im vergangenen Jahr mindestens 345 Flüchtlinge verletzt. Diese Zahl ist dreimal höher als im Jahre 2014 und elfmal höher als 2013«, heißt es in der Dokumentation. Durch Brandstiftungen, Werfen oder Schießen von Gegenständen wie Molotow-Cocktails, Böllern, Steinen, Flaschen, Metallkugeln, Silvester-Raketen auf bewohnte Flüchtlingsunterkünfte und Wohnungen und durch direkte tätliche Angriffe in den Wohnbereichen kamen nach ARI-Recherchen im letzten Jahr mindestens 107 Bewohner körperlich zu Schaden. Diese Zahl ist im Vergleich zum Vorjahr 2,7-fach höher, im Vergleich zu 2013 15,3-fach. Auch durch Angriffe auf der Straße, in Bussen, an Haltestellen, in Straßenbahnen oder Supermärkten wurden mindestens 238 Flüchtlinge zum Teil schwer verletzt. Das sind dreimal so viele wie noch 2014 und zehnmal mehr als 2013. Wie in den vergangenen 23 Jahren werden in der aktualisierten Dokumentation überdies die verschiedenen Formen staatlicher Gewalt gegen Flüchtlinge dokumentiert.

Sechs Suizide und 94 Selbstverletzungen und Suizidversuche von Flüchtlingen im letzten Jahr sind für Elke Schmidt von der ARI die Folgen eines anhaltenden staatlichen Drucks auf Schutzsuchende. »Existenzielle Angst vor der Abschiebung, jahrelanges traumatisierendes Warten und die zerstörerischen Lebensbedingungen im Rahmen der Asylgesetze nehmen den Menschen die Hoffnungen auf ein Leben in Sicherheit«, so Schmidt gegenüber »neues deutschland«.

Exemplarisch hat die ARI für den Monat September 2015 die verschiedenen Fälle von Gewalt gegen Flüchtlinge einzeln aufgelistet. Fast jeden Tag gibt es unterschiedliche Formen von Gewalt. Am 25. September wird zwei Geflüchteten, die in Dresden mit ihren Fahrrädern unterwegs sind, eine brennende Flüssigkeit ins Gesicht gesprüht. Sie müssen ambulant behandelt werden.

Auch Todesfälle, die öffentlich kaum wahrgenommen wurden, finden Eingang in die Dokumentation. So wurde am 1. September 2015 eine stark verweste Leiche unter einer Autobahnbrücke in Bayern gefunden. Dank der Dokumente in seinem Rucksack konnten der Tote identifiziert und die Todesumstände verifiziert werden. Es handelt sich um einen 17-Jährigen aus Afghanistan. Er gehörte zu einer Flüchtlingsgruppe, die Mitte Juli 2015 nachts auf der Autobahn unterwegs war. Vermutlich um einer Polizeikontrolle auszuweichen, kletterte der Mann über die Leitplanke und stürzte 20 Meter in die Tiefe. Für Elke Schmidt ist die Dokumentation ein Spielbild der Verhältnisse, denen Geflüchtete in Deutschland ausgesetzt sind. »Anhand von über 8000 Einzelgeschehnissen wird der gesetzliche, behördliche und gesellschaftliche Druck deutlich, den nur die wenigsten Flüchtlinge unbeschadet überstehen können«, betont Schmidt.

Wie bei allen bisherigen Dokumentationen ging der Präsentation der neuesten Aktualisierung ein langwieriger Rechercheprozess voraus. Alle Daten wurden gründlich gegenrecherchiert. Anfragen bei Polizei und Behörden sind nach Schmidts Angaben oft sehr zeitaufwendig und werden manchmal auch schlicht ignoriert. Im Zeitraum zwischen den 1.1.1993 und dem 31.12.2015 starben 188 Geflüchtete durch Selbstmord oder starben bei dem Versuch, der Abschiebung zu entgegen. 22 Flüchtlinge kamen in dieser Zeit bei rassistischen Angriffen ums Leben.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1011616.angriffe-an-der-tagesordnung.html

Von Peter Nowak

„Nationales Slubice“ ohne Resonanz

Enttäuschend verlief für die extreme Rechte in Polen am Samstag ein flüchtlingsfeindlicher Marsch in der Grenzstadt Slubice.

Statt der erwarteten mehreren tausend Flüchtlingsgegner waren am 7. Mai nur knapp 150 ultranationalistische Demonstranten in die Stadt Slubice gekommen, die durch die Oderbrücke von Frankfurt/Oder getrennt ist. Sie demonstrierten gegen die europäische Flüchtlingspolitik und die Europäische Union.

Bartosz Janowicz vom extrem rechten Bündnis „Nationales Słubice“ führte gegenüber dem Sender rbb an: „Wir kämpfen gegen die Islamisierung Europas und wollen, dass sich die Kulturen nicht vermischen. Polen soll polnisch bleiben, die Ukraine ukrainisch, Deutschland deutsch“. Die Ablehnung der EU wurde auch durch die zahlreichen polnischen Fahnen symbolisiert, die auf der Demonstration getragen wurden. Die polnischen extremen Rechten agierten mit Ressentiments, wie sie auch in Deutschland bei Pegida und ähnlichen Bewegungen zu hören sind. So behaupteten einige der Aktivisten, in Slubice würden  Frauen von den Flüchtlingen belästigt. In Słubice selbst gibt es keine Flüchtlinge und auch in Polen ist ihre Zahl äußerst gering. Auf die 38 Millionen Einwohner in Polen kommen knapp 5000 Asylanträge.

Vergeblich um „Frankfurt wehrt sich“ bemüht

Krzysztof Wojciechowski, der Leiter des Collegium Polonicum, geht davon aus, dass diejenigen, die Angst schüren wollen, passende Geschichten erfinden. „Wir haben in Polen eine kleine, aber extreme Bewegung, die sich dadurch aufwertet, dass sie ultranationalistische Parolen klopft und sich Schlechtes über die Europäische Union und Deutschland ausdenkt“, sagte Wojciechowski dem rbb.

Die polnischen Rechten hatte sich im Vorfeld der Aktion bemüht, die Unterstützung des flüchtlingsfeindlichen Bündnisses „Frankfurt wehrt sich“ aus der brandenburgischen Nachbarstadt zu gewinnen. Doch von dort gab es keine Resonanz. Ein länderübergreifender Schulterschluss zwischen den Flüchtlingsgegnern aus Deutschland und Polen kam nicht zu Stande. Der Grund dürfte in den antipolnischen Ressentiments liegen, die es in rechten Gruppen in Frankfurt/Oder gibt und die in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer wieder deutlich wurden. Die polnische Rechte sieht die Demonstration als Beginn einer längeren Mobilisierung. In einem offenen Brief drohte die extrem rechte Gruppierung „Nationales Slubice“ dem  Bürgermeister der Stadt Tomacz Ciszewicz indirekt mit Abwahl. Dieser hatte gemeinsam mit Frankfurts Oberbürgermeister Wilke zu Toleranz und Respekt gegenüber Flüchtlingen aufgerufen.

http://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/nationales-slubice-ohne-resonanz

Peter Nowak

Die Folgen von Zwangsräumung

WIDERSTAND Die Fotoausstellung „Ob Nuriye, ob Kalle, wir bleiben alle!“ im FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum

„Ich mag keine Räumungen“ hatte ein Jugendlicher auf das Schild gemalt, mit dem er am 2. April 2014 gegen eine Zwangsräumung in der Neuköllner Wissmannstraße protestierte. Das Motiv ist Teil der Fotoausstellung „Ob Nuriye, ob Kalle – wir bleiben alle!“, die bis zum 12. Juni im FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum zu sehen ist. Fotos von fünf FotografInnen werden präsentiert, die Aktionen von Berliner MietrebellInnen der letzten drei Jahre dokumentieren. In der vom Umbruch Bildarchiv kuratierten Ausstellung sind Arbeiten der FotografInnen Andrea Linss, Christina Palitzsch, neuköllnbild, Hermann Bach und Peter Homann zu sehen. Mehrere Fotos erinnern noch
einmal an die massiven Proteste gegen die Zwangsräumung der Familie Gülbol im Februar 2013 in Kreuzberg – der Widerstand hatte Signalwirkung. Danach wehrten sich MieterInnen nicht nur in Kreuzberg, Friedrichshain und Neukölln sondern auch in Spandau, Staaken und Charlottenburg gegen ihre Vertreibung. Neben den Fotos finden sich
kurze Angaben über die Hintergründe der Räumung und die Situation der betroffenen Menschen. Häufig haben sie mehrere Jahrzehnte in der Wohnung gelebt und stehen nun auf der Straße. Oft werden die menschlichen
Tragödien hinter den Räumungen erkennbar. So sind Proteste gegen die „Räumung einer vierköpfigen Familie nach Eigentümerwechsel“ am 31. März 2014 in der Neuköllner Jahnstraße dokumentiert. Auf einen anderen Foto sieht man einen Mann in einem weißen Gewand, der von einen Dach springen will. Es ist der Besitzer von Ali Babas Blumenladen, der am 14. 10. 2014 in Spandau geräumt wurde. Seine UnterstützerInnen konnten den Mann vom Selbstmord abhalten. Auf einem Foto ist die Beerdigung der Rentnerin Rosemarie F. dokumentiert, die zwei
Tage nach ihrer Räumung am 11. April 2013 gestorben ist. Daneben sieht man auf einen Bild jubelnde DemonstrantInnen einige Wochen zuvor. Sie haben gerade erfahren, dass ein erster Räumungsversuch der Rentnerin
verschoben worden ist. Der Fotograf Hermann Bach vom Umbruch Fotoarchiv will mit der Ausstellung darüber
informieren, dass Protest und Widerstand möglich sind. „Ich denke, dass täglich Läden verschwinden, dass Menschen gekündigt werden, das ist bekannt. Was nicht so bekannt ist: dass es Proteste dagegen gibt und dass der Protest zunimmt. Und dass es noch nicht entschieden ist, ob das so weitergeht oder nicht“. Eine Fotografie zeigt den akut
von Räumung bedrohten Betreiber des Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf M99, Hans Georg Lindenau. Er ist bei einer Kundgebung zu sehen, in seinem Rollstuhl. Mittlerweile haben zahlreiche NachbarInnen in einer Erklärung den Erhalt des Ladens gefordert.

aus Taz-Berlin, 9.5.2016
Peter Nowak
■■Ausstellung „Ob Nuriye, ob Kalle, wir bleiben alle“, bis zum 12. Juni, Treppenhaus des FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum, Adalbertstraße 95a, Dienstag bis Sonntag 10 bis 19 Uhr, Eintritt frei

Höchste Eisenbahn

Die Beschäftigten des Eisenbahnausbesserungswerks in Bellinzona in der Schweiz kämpfen um die Einhaltung einer 2013 mit der Schweizer Bundesbahn getroffenen Vereinbarung. 2008 hatten sie bereits gegen die geplante Betriebsschließung gestreikt, an diesen Erfolg wollen sie nun anknüpfen. Sie werden dabei von einer internationalen Solidaritätskampagne unterstützt.

»Giù le mani dall’Officina« (Hände weg von der Werkstatt) lautete die Parole der europäischen Solidaritätsbewegung mit den Beschäftigen des von Schließung bedrohten Eisenbahnausbesserungswerks in Bellinzona in der Schweiz. Ihr Streik begann am 7. März 2008: Der Direktor der Schweizer Bundesbahn (SBB), Nicolas Perrin, wurde von den 430 Beschäftigten vom Betriebsgelände geworfen, nachdem er sich für die Verlagerung des Ausbesserungswerks ausgesprochen hatte. Der anschließende 33tägige Streik wurde von vielen kämpferischen Gewerkschaften europaweit unterstützt. Die Begeisterung war groß, als die SBB die Schließungspläne zurückgenommen hatte. Auf einer Veranstaltung des Solidaritätskreises mit Bellinzona im IG-Metall-Haus in Berlin im Jahr 2011 betonten Gewerkschafter, dass die Beschäftigten der Officina Bellinzona eine geplante Betriebsschließung abwehren konnten, was in den vergangenen Jahren selten gelungen sei. Vor allem Basisgewerkschafter sahen in der Art und Weise, wie der Streik geführt wurde, ein Vorbild. Die Beschäftigten hielten während der Streiktage das Werk besetzt. Jeden Tag wurde auf einer Vollversammlung beraten, wie es mit dem Arbeitskampf weitergeht. »Der Arbeitskampf blieb bis zum Schluss die Sache der Beschäftigten und nicht der Gewerkschaftsfunktionäre«, erklärten Berliner Gewerkschafter auf der Solidaritätsveranstaltung 2011.

2008 ein voller Erfolg: Button der Solidarität

2008 ein voller Erfolg: Button der Solidarität (Foto: Reuters / Stefan Wermuth)

Seit einigen Wochen ist Bellinzona wieder im Blickpunkt von Gewerkschaftern. Die alten Solidaritätsstrukturen funktionieren noch. Wieder gibt es Informationsveranstaltungen, für die wie 2008 mit der Parole »Giù le mani dall’Officina« geworben wird. Denn seit einigen Wochen hat sich der Konflikt zwischen den Beschäftigten und der SBB erneut zugespitzt. Die Schweizer Bahn hatte nach langen Verhandlungen 2013 mit der Gewerkschaft eine Vereinbarung geschlossen, die vorsah, dass es für das Ausbesserungswerk Bellinzona ein mit den Vorjahren vergleichbares Auftragsvolumen geben soll. Zudem sollte dem Werk mehr Autonomie eingeräumt werden.

Diese Abmachungen seien von der SBB nicht eingehalten worden, moniert Gianni Frizzo von der Schweizer Gewerkschaft Unia. Er hatte dem Unternehmen im Namen der Beschäftigten ein Ultimatum gestellt: Bis zum 15. April sollte das Unternehmen konkrete Maßnahmen zur Umsetzung der Vereinbarungen in die Wege leiten. Die SBB reagierte nicht. Daraufhin diskutierten die Beschäftigten am 18. April auf einer Vollversammlung ihr weiteres Vorgehen. Doch ein neuer Streik wurde bisher nicht ausgerufen. Der einzige konkrete Schritt bestand darin, dass die Belegschaftsvertreter ihre Mitarbeit im 2013 geschaffenen Kompetenzzentrum einstellten, das strittige Fragen einvernehmlich mit der SBB klären sollte. Außerdem wurde die Regierung aufgefordert, die SBB zur Einhaltung ihrer vertraglich vereinbarten Verpflichtungen zu bewegen. Eine Demonstration zum Sitz der Regierung des Kantons Tessin sollte die Forderung bekräftigen.

Gemessen an den klassenkämpferischen Tönen beim vorherigen Arbeitskampf wirkten diese Schritte sehr realpolitisch, bemerkten einige Gewerkschafter, die sich seit Jahren in der ­Solidaritätsbewegung mit Bellinzona engagieren. Dazu gehört auch der Schweizer Basisgewerkschafter Rainer Thomas. Das Klima auf der Vollversammlung der Belegschaft beschreibt er im Gespräch mit der Jungle World als »eine Mischung aus Wut und Enttäuschung«. »Das Ziel der SBB ist die Rückkehr zur ›Normalität‹, was im Klartext nichts anderes bedeutet als die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über ihre Lohnsklaven, während die Arbeiter versuchen, möglichst viel von der im März 2008 errungenen Macht zu erhalten«, betont Thomas.

Dabei könnten auch neue Mittel zum Einsatz kommen. Auf die Frage eines Schweizer Fernsehsenders, ob während der Einweihungsfeier des neuen Gotthard-Tunnels am 1. Juni Proteste der Beschäftigten von Bellinzona zu erwarten seien, antwortete Ivan Cozzaglio, der 2008 Mitglied des Streikkomitees war, kürzlich: »Der Metallkeil, mit dem während des Arbeitskampfes vor acht Jahren die Zufahrtsgleise zugeschweißt wurden, passt perfekt auf die Schienen des Alpen-Transit.«

http://jungle-world.com/artikel/2016/18/53958.html

von Peter Nowak


„Ich hätte nicht hier sein sollen“

Der Film „A War“ ist ohne einen explizit politischen Anspruch eine einzige Anklage gegen die modernen Zivilisationskriege, weil er deren Lügen aufdeckt

Die gestresste Mutter im komfortablen Reihenhaus kümmert sich rund um die Uhr um ihre drei Kinder. Doch dann passiert es doch. Während sie den Älteren beim Einschlafen hilft, schluckt das Jüngere einige Tabletten. Sofort wird es mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht. Nachdem der Magen ausgepumpt wurde, wird festgestellt, dass die Prozedur medizinisch nicht nötig war. Aber im Zweifel für die Sicherheit, lautet die Devise im dänischen Kleinbürgeridyll.

Wenn am Abend, kurz bevor die Kinder einschlafen, das Telefon klingelt, wissen alle Familienmitglieder, dass es der Ehemann und Vater ist. Dann hat er einige ruhige Minuten, um zumindest telefonisch mit seiner Familie in Kontakt zu sein. Doch Carl Michal Pedersen ist kein schwer beschäftigter Manager, der seine Zeit bis tief in die Nacht im Büro verbringt und daher seine Familie nicht sehen kann. Die Hauptfigur des preisgekrönten Films „A War“[1] ist Kommandeur des dänischen Militärkontingents in Afghanistan. Die ist in einen Gebiet stationiert, in dem die Taliban ihr Unwesen treiben.

Der Film lebt vom Widerspruch zwischen diesen beiden Welten: der dänischen Kleinbürgeridylle, wo die größte Sorge darin besteht, dass sich der Sohn in der Schule prügelt, und der Alltagssituation des Ehemannes, der an einem Militärengagement teilnimmt, das keine Probleme löst, sondern neue schafft, zumindest für die afghanischen Bewohner.

Wenn die Bevölkerung zu Tode geschützt wird

Das wird in vielen Szenen deutlich. Zunächst werden die Soldaten, die an ihrem Einsatz zu zweifeln beginnen, weil sie merken, dass sie dabei auch umkommen können, auch von Pedersen mit den üblichen Propagandafloskeln motiviert. „Wir sind hier, um die Menschenrechte und die Zivilisation der afghanischen Bevölkerung zu verteidigen.“ Nur hat man jeder Begegnung zwischen dieser Bevölkerung und den Soldaten den Eindruck, hier begegnen sich Kolonialherren und Kolonisierte.

Eine besonders eindringliche Szene ist die Durchsuchung eines Fahrzeugs, in dem drei Passanten sitzen, darunter ein älterer Mann. Sie werden rüde aus dem Wagen gezerrt, geduzt, beleidigt, gedemütigt. Sie müssen sich auf den Boden legen, dem Mann wird das Handy entrissen. Als sich herausstellt, dass es sich um ungefährliche Zivilisten handelt, werden sie ohne Erklärung und Entschuldigung aufgefordert, schnell zu verschwinden.

Besonders verhängnisvoll ist die Kolonialherrenperspektive für eine afghanische Familie, die mit den Soldaten kooperiert. Damit gilt sie den Taliban als Todfeinde und die meinen es ernst. Als die Familie nach den Drohungen in das Militärlager flieht und um Asyl bittet, wird sie von Pedersen rüde zurückgeschickt. Auch der schüchterne Einwand einer Soldatin, dass doch für die Familie genug Platz wäre, wird zurückgewiesen. Der Kommandant pocht auf die Vorschriften, und die sehen nun mal nicht vor, dass afghanische Bauern auch nur für eine Nacht dort verbringen können, wo die europäischen Zivilisationsbringer leben.

Als die Soldaten am nächsten Tag zum Bauernhof kommen, haben die Taliban die Familie grausam ermordet. Zudem wurden sie in eine Falle gelockt und die Islamfaschisten beginnen einen Angriff, bei dem abermals ein dänischer Soldat schwer verwundet wird. Daraufhin befiehlt Pedersen die Unterstützung durch die Luftwaffe, die, wie sich später herausstellt, ein Gebäude bombardiert, wobei zahlreiche Zivilisten ums Leben kommen.

Ihr Tod ist im Film nicht zu sehen. Die Zuschauer erfahren erst davon, als die Militärpolizei Ermittlungen aufnimmt, weil Pedersen einige Regeln zum Einsatz der Luftwaffe verletzt hatte. Er hatte versäumt, sich bestätigen zu lassen, dass es sich um ein militärisches Ziel handelt. Kurz sehen wir den Kommandanten zweifeln, aber bevor er vielleicht sogar die Konsequenzen zieht und seinen Fehler bekennt, wird er von seinen Kameraden und seiner Frau bearbeitet. Er solle einfach lügen und vor Gericht aussagen, er habe die die Bestätigung gehabt, könne sich nur nicht mehr erinnern, von wem.

Großer Schlachter rettet Pedersen

Dann kommt der Gerichtsprozess mit einer Staatsanwältin, die ihren Job ernst nimmt und die Aussage des Kommandanten als die Lüge erkennt, die sie auch war. Sie holt sämtliche in Frage kommenden Soldaten in den Zeugenstand und fragt sie, ob sie die Urheber der Bestätigung sind.

Zunächst verneinen alle, doch am Ende findet sich ein Soldat, um Pedersen mit einer Lüge vor einer Haftstrafe zu bewahren. Er trägt bezeichnenderweise den Spitznamen Schlachter. „Großer Schlachter, kleiner Schlachter“, sagt er lächelnd vor Gericht. Weiter will er sich nicht äußern. Mit seiner Aussage hat die Staatsanwaltschaft ihren Trumpf verloren. Sie zweifelt weiterhin den Wahrheitsgehalt an, hat aber bei so viel Korpsgeist keine Chance. Der Freispruch in allen Punkten wird von der versammelten Einheit gebührend gefeiert. Auch Pedersen stimmt in das Lachen und den Jubel ein.

Die afghanischen Opfer sieht man nicht

Dabei bekamen die afghanischen Opfer erst vor Gericht ein Gesicht. Es wurden Fotos gezeigt, die dokumentieren, wie es in dem bombardierten Gebäude aussah. Man sah entstellte Gesichter, aufgeplatzte Gedärme, Arme und Beine ohne Körper. Pedersen und seine Kompanie guckten gequält. Doch als der Kommandant die Möglichkeit hatte, ein letztes Wort vor der Urteilsverkündung zu sprechen, verzichtete er. Er hatte wohl kein Bedürfnis, sich zumindest persönlich, unabhängig vom juristischen Ausgang, bei den Angehörigen der Opfer zu entschuldigen.

Aber der Freispruch entlockte ihm doch Gefühle, wie sich in der letzten Szene zeigte. So zeigt der Film mit seiner fiktiven Handlung sehr viel über den Charakter des Militärs und der Menschenrechtseinsätze in Afghanistan und anderswo. Jede Szene zeigt das Gefälle zwischen erster und dritter Welt. Wenn seine Kameraden vor Gericht Pedersen bescheinigen, er sei ein guter Soldat gewesen, weil er sich von der Devise leiten ließ, dass er keinen Kameraden zurück lässt, so ist das sehr entlarvend. Das Leben eines dänischen Soldaten zählt eben mehr als das von afghanischen Zivilisten.

Der ständige Wechsel zwischen dem dänischen Kleinfamilienidyll und dem afghanischen Alltag zeigt viel darüber, wie unvernünftig die Welt heute eingerichtet ist. Für die rundum versorgten dänischen Kinder ist jede kleine Prellung ein Ereignis. Die Opfer der Bomben der Zivilisationsbringer sieht man nur für einige Sekunden. Sei bleiben namenlos wie die Opfer von Oberst Klein in Kunduz und die Toten vieler anderer Kollateralschäden.

Wenn dann wieder ins dänische Reihenhaus gewechselt wird, fallen einem die Bilder der US-Künstlerin Martha Rosler[2] ein. In der Serie Bringing The War home[3] entwirft sie ähnlich komfortable Reihenhäuser und Idyllen und projiziert[4] Bilder von Kriegen, von Bränden und Versehrten darauf.

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48172/1.html

Peter Nowak

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48172/1.html

Anhang

Links

[0]

http://www.dfi.dk/faktaomfilm/film/da/90953.aspx%3Fid%3D90953

[1]

http://www.imdb.com/title/tt3830162/

[2]

http://www.martharosler.net/

[3]

http://www.martharosler.net/reviews/cottingham.html

[4]

http://www.martharosler.net/photo/war2/war1.html

Knasterfahrung

Alternative Bewegungen in Russland stehen zwischen Integration und Gefängnis

»Wer sich einer gesellschaftlichen Situation nähern will, tut gut daran, sich die Lage derer zu vergegenwärtigen, denen die Teilnahme an ihr untersagt oder beschränkt ist«, heißt es im Vorwort eines Buches, das sich unter dem Titel »Isolation und Ausgrenzung« mit der parteiunabhängigen Linken und alternativen Bewegungen in Russland und Belarus befasst. Die Beiträge in diesem Buch geben einen Überblick über eine politische und künstlerische gesellschaftlich marginalisierte Szene, deren Protagonisten in ständiger Gefahr leben, im Gefängnis zu verschwinden.

Drei ebenfalls in diesem Band abgedruckte Gefängnisbriefe sind daher wichtige Dokumente und Zeugnisse von Repression und Widerstand in Russland. Darunter der Brief von Alesej Gaskarow, der sich seit Jahren zur außerparlamentarischen Linken in Russland zählt. Bereits 2010 saß er für mehrere Monate in Untersuchungshaft, weil er sich an den Protesten gegen die Abholzung des Chimki-Waldes bei Moskau beteiligt hatte. Die Aktionen spielten für die außerparlamentarische Linke in Russland eine sehr wichtige Rolle. Im Oktober 2012 wurde Gaskarow in den Koordinationsrat der russischen Opposition gewählt. In dem 45-köpfigen Gremium koordinierten sich auf dem Höhepunkt der Proteste gegen Putins Wiederwahl die Gegner des Präsidenten. Das Spektrum im Koordinationsrat reichte von Nationalisten bis hin zu außerparlamentarischen Linken, die Gaskarow vertrat. Am 28. April 2013 wurde er wegen Störung der öffentlichen Ordnung zu einer Haftstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, eine wichtige Rolle bei der Organisierung von Demonstrationen gegen Putins Wiederwahl gespielt zu haben. Dabei hatten Aktivisten trotz verhängter Demonstrationsverbote Plätze in Moskau und anderen russischen Städten besetzt. Dass die Regierung neben der Kriminalisierung der radikalen Teile auch Integrationsangebote an die außerparlamentarische Bewegung macht, beziehungsweise einigen Massenprotesten bereits nachgegeben hat, beschreibt Galina Mihaleva in ihrem Aufsatz: So wurde ein als korrupt geltender Gouverneur von Kaliningrad nach Protesten Tausender Stadtbewohner abberufen. In Sankt Petersburg wurde der Bau des Hochhausturms »Gasprom City« nach anhaltenden Widerstand der Bevölkerung gestoppt.

Herausgegeben wurde das Buch von dem belorussischen Wissenschaftler Luca Bublik, dem Berliner Historiker Johannes Spohr und der russischen Publizistin Valerie Waldow. Das Trio ist seit Jahren in der Arbeitsgruppe Russland (AGRu) aktiv, die zum Jugendbildungsnetzwerk der Rosa-Luxemburg-Stiftung gehört. Seit mehreren Jahren hält die AGRu Kontakt zu unterschiedlichen künstlerischen, politischen und sozialen Projekten vor allem in Nordwestrussland. Dies kam jetzt der vorliegenden Veröffentlichung zu Gute. Der Band »Isolation und Ausgrenzung« liefert in knapper Form einen guten Einstieg in die Thematik der hierzulande noch weitgehend unbekannten russischen Protestbewegungen.

Isolation und Ausgrenzung als post/sowjetische Erfahrung. Trauerarbeit. Störung. Fluchtlinien. Hg.: Luca Bublik / Johannes Spohr / Valerie Waldow. Assamblage 2016, 128 Seiten, Broschur, 12,80 Euro.

Peter Nowak

Erinnerung an ein Stück Computersozialismus

In Chile wurde unter dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende versucht, eine computergesteuerte Planwirtschaft umzusetzen. Im Roman «Gegen die Zeit» von Sascha Reh stehen die MitarbeiterInnen dieses Projekts im Mittelpunkt.

Langsam verblasst die Erinnerung an die knapp dreijährige Regierungszeit der Unidad Popular unter Präsident Salvador Allende in Chile. Im Herbst 1970 wurde der linke Präsident ins Amt gewählt und im Anschluss immer heftiger von der chilenischen Konterrevolution
und ihren Verbündeten in den USA, aber auch in lateinamerikanischen Nachbarstaaten attackiert.

„Erinnerung an ein Stück Computersozialismus“ weiterlesen

Geht es wirklich nur um Menschenrechte, wenn Erdogan kritisiert wird?

Manche finden das gestiegene Interesse ein bisschen heuchlerisch – zur Sonderausgabe der deutsch-türkischen Taz

Wer schon immer die Türken vor Berlin stehen sieht, kann sich heute bestätigt fühlen. Die linksliberale Taz erscheint heute in deutsch-türkischer Version: Die taz.die günlük gazete[1] ist ein Beitrag der Taz-Redaktion in enger Kooperation mit linksliberalen und linken türkischen Medien zum Internationalen Tag der Pressefreiheit. Beim Durchblättern bekommt der Leser einen guten Überblick über den Stand der Pressefreiheit aktuell in der Türkei.

So sind bis 2015 unter der AKP-Regierung 2.211 Journalistinnen und Journalisten entlassen worden. 31 Journalisten waren 2015 in der Türkei inhaftiert. Mindestens 150 Beschlüsse zu Nachrichtensperren gab es zwischen 2010 und 2014 in dem Land.  110.464  Webseiten wurden in den letzten Jahren in der Türkei geblockt. Auf 16 Seiten versuchen linke und linksliberale Journalisten  in Deutsch und Türkisch darzulegen, wie der Alltag eines kritischen Medienarbeiters heute in der Türkei aussieht.

So beschreibt die Journalistin Pinar Ögünc von der liberalen türkischen Tageszeitung Cumhuyriyet, was sich zwischen dem Beginn und dem Schluss dieses Artikels, also wohl in einer relativ kurzen Zeit ereignet hat:

In den wenigen Stunden zwischen Anfang und Textes war viel geschehen: „Bilal Güldem, Reporter der Nachrichtenagentur Diha, wurde verhaftet. Die Diha-Reporter arbeiten in den kurdischen  Provinzen unter andauernden Gefechten. ….. Gleichzeitig wurde die türkisch-niederländische  Journalistin und Kolumnistin Ebru Umar in Kusadasi festgenommen. Der Vorwurf: Sie soll den Staatspräsidenten Erdogan in Tweets und in einem Artikel in der Zeitung Metro beleidigt haben“. Gleichzeitig wurde in griechischer Fotograf am Flughafen von Istanbul  an der Einreise in die Türkei gehindert worden.

So ist taz.die günlük gazete ein gutes Beispiel für eine transnationale zivilgesellschaftliche Aktion, um auf verfolgte Journalistinnen und Journalisten aufmerksam zu machen.

Die Rolle der Pool-Medien

Bereits am Vortag gab es im überfüllten Taz-Café die Vorstellung des deutsch-türkischen Zeitungsprojekts für einen Tag. Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yüksel machte dort anschaulich klar, was gemeint ist, wenn in der Türkei von regierungsnahen Medien die Rede ist. Er sprach von den Pool-Medien, die nicht nur ideologisch der AKP-Regierung und der Erdogan-Präsidentschaft nahestehen.

Sie haben von der Regierung eingesetzte Verwalter und werden von Freunden, Geschäftspartnern und Verwandten des Präsidenten regelrecht aufgekauft.  Die Medien, die noch nicht davon betroffen sind, wagen gar nicht erst, kritische und oppositionelle Artikel zu veröffentlichen. Zu groß ist die Angst, sonst ebenfalls zu den Pool-Medien gehören.

Bei der Taz-Veranstaltung stand natürlich der deutsch-türkische Deal zur Abwehr von Migranten zur Diskussion und in der Kritik. Dass dabei auch parteipolitische Konflikte ausgetragen wurden, war schon durch die Anwesenheit der bekannten Grünen-Politikern Claudia Roth[2] garantiert. Sie wurde eingeladen, weil sie seit mehreren Jahrzehnten Kontakt zur Opposition in der Türkei hält.

Ihr erster Besuch aber galt, ganz stilecht „grün“, der Rettung einer bedrohten Schildkrötenart. Danach hätten türkische Oppositionelle sie gefragt, ob nicht die Rettung von verfolgten Linken, Gewerkschaftern und Intellektuellen eine höhere Priorität haben müsste.  Dass Roth noch vor wenigen Jahren die Wahl der AKP unter Erdogan begrüßt hat, sieht die Politikerin heute als Fehler.

Sie habe damals gehofft, dass die Erdogan-Regierung  gemeinsam mit der EU die Türkei demokratischer mache, so ihre Begründung. Damit war Roth nicht allein. Viele Medien und auch Politiker, die heute das Thema Menschenrechte in der Türkei entdecken, haben lange Zeit die AKP-Regierung verteidigt.

Tatsächlich hat sie sich im Kampf gegen die alte kemalistische Elite auch mit einer Menschenrechtsrhetorik geschmückt und in gewissen Bereichen Lockerungen der autoritären Herrschaft veranlasst. Was bei dieser Debatte allerdings nicht verschwiegen werden sollte: Die besonders wirtschaftsliberale AKP-Regierung war genau deshalb auch vielen politischen Kräften ein willkommener Partner beim Schleifen der Restbestände von staatlicher Sozialgesetzgebung aus der kemalistischen Zeit.

Zudem gab und gibt es eine Repression gegen politische Oppositionelle in der Türkei, die von der EU nicht nur nicht kritisiert, sondern aktiv unterstützt wird. Gemeint ist die Verfolgung von türkischen und kurdischen Linken. Mehrere dieser Gruppierungen sind wie die PKK oder DHKP/C in der Türkei und in Deutschland verboten. Vermeintliche oder tatsächliche Mitglieder dieser Gruppierungen sitzen in beiden Ländern im Gefängnis und die Justiz unterstützt sich gegenseitig.

Deutsches Exportprodukt Isolationshaft

Ein prägnantes Beispiel für die deutsch-türkische Kooperation  ist der „Export der Isolationshaft“[3], die in den 1970er Jahren in Deutschland und anderen EU-Staaten eingeführt wurde – gegen heftigen Widerstand der Gefangenen, die darauf mit Hungerstreiks reagierte.   Kürzlich  hat die Schweizer Journalistin Sabine Hunziker[4] im Unrast-Verlag unter dem Titel Protestrecht des Körpers[5] ein Buch herausgeben, das einen Überblick über diese Kampfform gibt. Als Ende der 1990er Jahre die Isolationshaft auch in den türkischen Gefängnissen eingeführt werden sollte, begann der wohl längste Hungerstreik von  Gefangenen dagegen, der 130 Menschen das Leben kostete (Der Kampf gegen den stillen Tod[6]).

Die Hungerstreiks begannen noch unter der Ägide der autoritären kemalistisch-nationalistischen Regierungen der Türkei, die innenpolitisch in einen erbitterten Machtkampf mit der aufstrebenden AKP standen. So zerstritten sie auch sonst waren, in der Praxis der Verfolgung oppositioneller Bewegungen waren sie sich einig. Als der Hungerstreik im Jahr 2006 beendet wurde, war die AKP schon an der Regierung. Für die Hungerstreikenden und ihre Unterstützer hatte sich, was die Verfolgung und Repression anbelangt, nichts verändert.

Von der EU gab es für sie keine Unterstützung, weil die schließlich die neuen Haftbedingungen als durchaus EU-konform ansah. Daher  fragen sich manche türkische Oppositionelle aktuell auch, warum die Kritik an der aktuellen Repression in  ihrem Land jetzt so besonders laut wird. Ist es wirklich die Sorge um die weitere Einschränkung der Menschenrechte oder spielen dabei auch wirtschaftliche und politische Gründe eine Rolle?

Der türkische Satiriker Gözde Kazaz beantwortet  in der aktuellen taz die günlük gazete die Frage so:

Um ehrlich zu sein, finde ich das gestiegene Interesse ein bisschen heuchlerisch. … Erdogan ist ja nicht erst seit gestern an der Macht. Er steht seit vierzehn Jahren an der Spitze des Landes.

Davor aber   war die Politik der Unterdrückung und Repression um keinen Deut besser, hätte er noch hinzufügen können.

Streit um das erste Genozid im 20. Jahrhundert

Für konservative  Kräfte wie die CSU zumindest ist die Kritik an der Menschenrechtssituation in der Türkei ein Vehikel, um das Land aus der EU herauszuhalten. Sie waren schon immer der Meinung, dass das Land nicht zu Europa gehört. Ein weiterer Konflikt mit der türkischen Regierung steht demnächst an.

Es geht um eine geplante Resolution im Bundestag, in der das Massaker an der armenischen Bevölkerung zwischen 1915 und 1918 als Genozid bezeichnet werden soll. Die türkische  Regierung reagiert bereits im Vorfeld mit Protesten[7].  Bereits in den vergangenen Jahren hatten ähnliche Initiativen in  Frankreich und anderen Ländern  zu Verstimmungen zwischen der Türkei und den jeweiligen Ländern geführt.

Auch hier spielen politische Erwägungen mit hinein, die wenig mit den Menschenrechten zu tun haben. Zunächst wäre es ja gerade für den deutschen Bundestag interessant, die Rolle der damaligen deutschen Führung und ihrer Dependance in der Türkei  in den Mittelpunkt zu stellen. Schließlich wäre das Massaker an den Armeniern ohne deren Unterstützung[8] kaum möglich gewesen.

Es gab bereits damals zeitgenössische Stimmen, die davor warnten. Aber sie wurden übergangen oder sogar zum Schweigen gebracht. Wen zudem in der Resolution suggeriert werden soll, dass das Massaker an den Armeniern das erste Genozid des 20.Jahrhunderts gewesen ist, dann wird außer Acht gelassen, dass das Massaker an den Herrero und Nama im Jahr 1904 zeitlich ebenfalls im 20.Jahrhundert liegt. Es wurde von deutschen Kolonialtruppen verübt[9].

Es gibt viele Zeugnisse, die beweisen, dass die verantwortlichen Militärs ein Großteil der aufständischen Bevölkerung bewusst in eine wasserlose Wüste getrieben und der Vernichtung preisgegeben haben.

Seit Jahren gibt es Initiativen, die eine Entschädigung für die Nachkommen der Opfer fordern[10] und die das Massaker als Genozid bezeichnen. Stünde es nicht dem Bundestag gut an, diese Vernichtung als ersten Genozid im 20.Jahrhundert zu bezeichnen, sich dafür offiziell zu entschuldigen[11] und die Nachkommen zu entschädigen?

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48147/2.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://www.taz.de/!p5010/

[2]

http://claudia-roth.de/

[3]

https://www.nadir.org/nadir/initiativ/kombo/k_45/k_45trlib.htm

[4]

http://www.septime-verlag.at/autoren/hunziker.html

[5]

http://www.unrast-verlag.de/neuerscheinungen/protestrecht-des-koerpers-detail

[6]

http://www.heise.de/tp/artikel/11/11433/

[7]

http://www.welt.de/politik/deutschland/article154940380/Tuerkei-warnt-Bundestag-vor-Armenien-Resolution.html

[8]

http://www.deutschlandfunk.de/deutsche-beteiligung-am-voelkermord-an-den-armeniern.730.de.html?dram:article_id=102524

[9]

http://www.spiegel.de/politik/ausland/deutschlands-erster-voelkermord-das-roecheln-der-sterbenden-verhallte-in-der-erhabenen-stille-a-313043.html

[10]

http://www.az.com.na/politik/entschdigung-war-kein-thema.139056.php

[11]

http://genocide-namibia.net/alliance/appellpetition

Unmut im Unterbau

Lohndumping und Outsourcing gehören zum fragwürdigen Geschäftsmodell deutscher Universitäten. Um dies zu ändern, hat sich in Frankfurt am Main eine neue Basisgewerkschaft gegründet.

Lange haben Studierende und Beschäftigte an Universitäten nicht mehr mit Streiks auf sich aufmerksam gemacht. Das könnte sich ändern, zumindest in Frankfurt am Main. Dort hat sich in der vergangenen Woche eine Hochschulgewerkschaft gegründet, die sich Unterbau nennt. Dass es sich nicht um eines der vielen linken Hochschulprojekte handelt, die die Semesterfe­rien nicht überleben, zeigt schon der lange Vorlauf. Über ein Jahr lang hätten knapp 50 Beteiligte die Gründung vorbereitet, berichtet die Pressesprecherin von Unterbau, Anna Yeliz Schentke, im Gespräch mit der Jungle World. Ihr Kollege Manuel Müller betont, dass die neue Gewerkschaft basisdemokratisch organisiert sei, womit die Bürokratisierung verhindert werden solle. Damit unterscheide sie sich von den beiden DGB-Gewerkschaften Verdi und GEW, die im Bildungsbereich tätig sind. Zudem habe die neue Gewerkschaft ein Ziel, das über die reine Tarifpolitik hinausgeht. »Ziel ist eine Transformation der Universität, die nur durch ein Infragestellen der be­stehenden Machtstrukturen umsetzbar wird«, so Müller.

Schentke ergänzt, dass das Konzept von der basisdemokratischen Freien Arbeiterinnen- und Arbeiterunion (FAU) inspiriert sei. Die Gründung von Unterbau betrachten Schentke und Müller nicht als Versuch der Spaltung der bestehenden Gewerkschaften: »Wir machen lediglich Gebrauch vom Recht auf Gewerkschaftspluralismus und Koalitionsfreiheit, wie es allen Arbeitnehmern gesetzlich zusteht.« Sie wünschen sich eine Kooperation der Gewerkschaften. Tatsächlich haben sich bei Unterbau neben Mitgliedern von DGB-Gewerkschaften und der FAU auch Beschäftigte organisiert, die vorher noch keine Gewerkschaftsmitglieder waren.

Die Gründung der neuen Basisgewerkschaft ist ein Zeichen des Hegemonieverlusts der DGB-Gewerkschaften auch im Bildungsbereich. Der Arbeitsrechtler Rolf Geffken hat in einer 2015 erschienenen Broschüre mit dem Titel »Streikrecht, Tarifeinheit, Gewerkschaften« den Monopolanspruch des DGB kritisiert, der weder historisch noch politisch zu begründen sei. Geffken plädiert für eine Gewerkschaftseinheit in konkreten Arbeitskämpfen. Das kommt den Vorstellungen der Gründer von Unterbau sehr nahe.

Diese könnten über Frankfurt hinaus Nachahmer finden. Denn längst sind die Hochschulen zu Wissenschaftsunternehmen geworden, deren Verantwortliche beim Outsourcing und bei Dumpinglöhnen Pionierarbeit leisten. Davon sind Wissenschaftler, Dozenten und studentische Hilfskräfte ebenso betroffen wie das Reinigungspersonal und Beschäftigte in der Mensa. In Berlin sind es derzeit die Beschäftigten des zur Freien Universität gehörenden Botanischen Gartens, die soziale Forderungen auf dem Campus wieder zu Gehör gebracht haben und von studentischen Gruppen unterstützt werden (Jungle World 52/2015).

Dem Konzept von Unterbau zufolge sollten unterschiedliche Statusgruppen in einer Gewerkschaft kämpfen und, wenn nötig, gemeinsam die Hochschule bestreiken. Doch die Bereitschaft von Studierenden, sich zu organisieren, ist bisher nicht besonders hoch. Zudem gehen sie an der Universität keiner Lohnarbeit nach, es sei denn als Hilfskraft, was ihren Status fundamental von dem der Beschäftigten unterscheidet. Der von der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten zur basisdemokratischen IWW übergewechselte Gewerkschafter Harald Stubbe kritisiert linke Studierende in seinem politischen Umfeld, »die immer überlegt haben, wen sie organisieren« könnten. In dem Buch »Dabei geblieben. Aktivistinnen erzählen vom Älterwerden und Weiterkämpfen« schreibt er: »Nur nicht sich selbst wollten sie organisieren. Obwohl sie alle prekäre Jobs hatten und viel weniger Risiko eingingen als eine Küchenhilfe, die davon leben muss.« Auch Studierende, die sich an einer von GEW und Verdi unterstützten Initiative für die Durchsetzung eines neuen Tarifvertrags für studentische Hilfskräfte an Berliner Hochschulen beteiligen, kritisierten das geringe Engagement ihrer Kommilitonen. Unterbau kann nun den Beweis antreten, dass eine basisdemokratische Gewerkschaft die Organisierungsbereitschaft erhöht.

http://jungle-world.com/artikel/2016/17/53913.html

Peter Nowak

Ganz neue Töne aus Neukölln

Im Konflikt zwischen den MieterInnen der Friedelstraße 54 und der Wiener Immobilienfirma Citec sind ganz neue Töne zu vernehmen.

In der gemeinsamen Presseerklärung der Hausgemeinschaft und des dortigen Kiezladen F54 heißt es: „Zwar konnten nicht alle Interessenkonflikte und Meinungsverschiedenheiten aus der Welt geschaffen werden, dennoch wurde der Wille zur friedlichen und einvernehmlichen Lösung von beiden Seiten betont.“ Zur Erinnerung: Die Wiener Immobilienfirma Citec hatte das Haus gekauft und eine energetische Sanierung angekündigt. Die MieterInnen fürchteten hohe Mieten und Vertreibung und mobilisierten die Öffentlichkeit. Seit Monaten war auf vielen Plakaten und Flugblättern die Parole „Friedel bleibt“ zu finden. Das könnte jetzt Wirklichkeit werden. In der letzten Woche fand im Rathaus Neukölln ein Runder Tisch statt. Moderiert von der Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) berieten VertreterInnen der Hausgemeinschaft und des vom Kiezladen gegründeten Vereins Akazie-Berlin e. V. mit der Citec über den Verkauf des Hauses. Strittig ist eigentlich nur der Preis. „Wir haben in unserem Angebot die Kaufsumme von 1,2 Millionen genannt, die Citec ist mit 1,85 Millionen in die Verhandlungen gegangen“, sagte der Pressesprecher des Kiezladen F54 Matthias Sander. Beide Seiten seien aber kompromissbereit. Noch sei der Vertrag nicht unterschrieben, doch Sander rechnet mit einer baldigen Einigung. Um moderate Mieterhöhungenwerde man wohl nicht herumkommen. Aber es sollen alle bisherigen MieterInnen wohnen bleiben können. BewohnerInnen mit einen höheren Einkommen sollen mehr Miete bezahlen. Sie streben eine Mitgliedschaft im  Mietshäusersyndikat an, von dem sie bei den Verhandlungen juristisch beraten werden. „Uns hat die schnelle Verhandlungsbereitschaft selbst überrascht“, betont Sander. Das Kaufangebot hatte er gemeinsam  mit etwa 60 UnterstützerInnen der Friedelstraße persönlich bei der Citec überbracht. Am 18. März hatten sie einen Bus nach Wien gechartert und beim Management vorgesprochen. Damals wurden sie nicht empfangen, aber schon wenige Tage später hatte die Citec Gesprächsbereitschaft erklärt. Ein Erfolg, der Schule machen könnte. In den letzten Wochen
haben sich zweimal MieterInnen von Citec-Häusern in Berlin getroffen.

aus Taz vom 3.5.2016

Peter Nowak

Die Linkspartei muss sich nach dem Aufstieg der AfD neue Strategien überlegen

Lager der Solidarität statt Bündnisse mit SPD und Grünen?

Wenn die beiden Vorsitzenden der Linkspartei Katja Kipping und Bernd Riexinger das Wort Revolution in die Debatte werfen, müsste das eigentlich die mediale Aufregung groß sein. Es ist schließlich erst einige Jahre her, dass die damalige Parteivorsitzende Gesine Lötzsch große Empörung auslöste, als sie über die Perspektive Kommunismus[1] auf einer öffentlichen Veranstaltung diskutierte (Der Weg zum Kommunismus wird weiter beschritten[2]).

Als Riexinger und Kipping unter dem Motto „Revolution für soziale Gerechtigkeit und Demokratie“[3] Vorschläge für die innerparteiliche Debatte vorlegten, dürften sie vielleicht sogar auf etwas Pressewirbel gehofft haben. Doch der hielt sich in engen Grenzen. Schließlich wird heute ja in Wirtschaft, Werbung und Kultur jedes Lüftchen zu einer Revolution hochgejazzt. Und auch Kipping und Riexinger wollten nun weder die Pariser Kommune noch den Roten Oktober 1917 wiederholen.

Allerdings wurde in der Erklärung deutlich hervorgehoben, dass die Linkspartei auf den Aufstieg der AfD nicht mit Anpassung an deren Programm reagieren darf, aber auch nicht deren Wähler pauschal als Rassisten abschreiben darf. In dem Text wird der sächsische Linksparteivorsitzende Rico Gebhardt[4] mit den Worten zitiert:

Den größten Beitrag, den wir als Linke gegenwärtig gegen den Rechtstrend leisten können, ist, wenn wir die Arbeiterschaft und die Arbeitslosen zurückgewinnen. Das ist eine soziale Herausforderung mit hohem antifaschistischem Effekt!Rico Gebhardt

Rico Gebhardt

Nun bestünde ja eigentlich die größte Frage darin, wie es der Linkspartei gelingen kann, Gewerkschaftsmitglieder, prekär Beschäftigte und Erwerbslose, die bei den letzten Wahlen für die AfD gestimmt haben, zurückzuholen, ohne deren Diskurse und Programmpunkte auch nur ansatzweise zu übernehmen. Zudem hat gerade Gebhardt in Sachsen bisher einen besonders ausgeprägten Mittekurs gefahren und seine letzte Wahlkampagne auf ein Bündnis mit SPD und Grünen ausgerichtet.

Dass diese Pläne an dem Wahlergebnis gescheitert sind, ist das eine. Damit ist kein Politikwechsel verbunden, wenn man nur die Tatsachen zur Kenntnis nimmt, dass es schlicht in noch mehr Bundesländern keine Grundlage mehr für ein sogenanntes rot-rot-grünes Bündnis, also die Koalition mit Linkspartei, SPD und Grünen, gibt.

Privatsphäre für Höcke oder auch für die Roma-Flüchtlinge?

Diese Tatsache zu benennen, ist für die Linkspartei sicher schmerzlich, weil sie ja erst im letzten Jahr ihren ersten Ministerpräsidenten Ramelow als Pilotprojekt ausgerufen hat. Wie die Grünen ihren Winfried Kretschmann zum politischen Rollenmodell aufbauen, wollten auch die Linken mit Bodo Ramelow ihren Kurs Richtung Mitte fortsetzen.

Dass Ramelow erst vor wenigen Tagen persönlich[5] eine geplante Demonstration[6] von Thüringer Antifaschisten vor dem Haus des AFD-Rechtsaußen Björn Höcke in die Nähe von Naziaktionen rückte[7], macht nur einmal mehr deutlich, dass Linken an der Regierung immer eine besondere Vorleistung an Anpassung abverlangt wird.

Wenn Ramelow sich um die Privatsphäre von Höcke mehr sorgt, als um die der Roma, die jahrelang in Thüringen lebten und abgeschoben[8] wurden, zeigt bei aller antirassistischen Rhetorik, dass auch der erste Ministerpräsident der Linkspartei die Rechte von Menschen, die in Deutschland leben, unterschiedlich gewichtet. Die durchaus diskutable Kritik, Proteste auch an die Privatadresse von Funktionsträgern aus Wirtschaft und Politik zu tragen, hätte nur dann Glaubwürdigkeit, wenn man den Menschen ohne deutschen Pass diese Privatsphäre auch ausdrücklich und explizit zubilligt. An solchen Fragen wird sich aber erweisen, ob die Bildung eines Lagers der Solidarität, das Kipping und Riexinger einfordern, mehr als ein Lippenbekenntnis ist.

Ein anderer zentraler Punkt ist der Umgang mit Grünen und SPD. Dazu werden in dem Papier Fakten benannt, die seit Jahren bekannt sind:

SPD und Grüne sind von sozialer Gerechtigkeit derzeit weiter entfernt als je zuvor, es gibt kein linkes Lager der Parteien mehr. Mehr noch: SPD und Grünen haben sich offenbar mit ihrer Rolle als Mehrheitsbeschaffer in einer „marktkonformen Demokratie“ (Merkel) abgefunden.Kipping/Riexinger

Kipping/Riexinger

Nur müsste dann die Frage kommen, hatte Rico Gebhardt in Sachsen und Wulff Gallert in Sachsen-Anhalt diese Rolle von SPD und Grünen vergessen, als sie unbedingt mit diesen Parteien die neue Regierung bilden wollten? Und wer sagt eigentlich dem Berliner Landesverband der Linkspartei, dass es kein linkes Lager gibt? Die will bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen nach den Wahlen in Berlin gerne wieder mitregieren, obwohl sie sich gerade erst von den Blessuren zu erholen beginnt, die sich die Partei beim Mitverwalten der kapitalistischen Krise in Berlin geholt hat. In der Erklärung aber, darüber darf das Gerede von einer Revolution nicht hinwegtäuschen, werden neue Regierungsbündnisse mit SPD und Grünen explizit nicht ausgeschlossen.

Von Sanders, Corbyn und Podemos lernen und Tsipras schon vergessen?

Dieser Kurs wird im letzten Abschnitt noch bekräftigt, wenn nun empfohlen wird, von Sanders und Corbyn zu lernen, die beide regieren wollen.

Podemos in Spanien hat zumindest zunächst eine totale Kapitulation abgelehnt, den die spanischen Sozialdemokraten ihr als Preis für eine Tolerierung abverlangen wollten. Nun muss sich zunächst zeigen, ob sie bei den Neuwahlen in Spanien gestärkt werden und so gegenüber den Sozialdemokraten legitimieren können. Werden diese doch wieder stärker oder gehen gar die spanischen Konservativen erfolgreich aus den Wahlen hervor, könnte der Druck auf Podemos wachsen, ihre Prinzipien über Bord zu werfen.

Hier kommen eben die Mechanismen einer Orientierung auf Wahlen zum Tragen, denen nur monolithische Parteien wie die Kommunistische Partei Griechenlands trotzen können. Die ist allerdings trotzdem nicht in der Lage, eine zeitgemäße linke Programmatik zu entwickeln und hat auch keine Strategie für einen außerparlamentarischen Kampf über Parteigrenzen hinweg. Podemos zumindest hat sich mit ihren Zugehen auf die alte Linke, der sie bei den letzten Wahlen noch die kalte Schulter gezeigt hat, als in bündnispolitischen Fragen flexibel erwiesen. Auffällig ist, dass Syriza und deren Vorsitzender nicht explizit als Vorbild die Linkspartei erwähnt wurden.

Schließlich waren er und seine Partei nach den Wahlen vom Januar 2015 für einige Monate der große Held. Hier greift eine Kritik des Publizisten Linkspartei-Politikers Dominik Heilig[9], der in einer Kolumne im Neuen Deutschland moniert[10];

Es ist ein wiederkehrendes Schauspiel, das die Linke in Europa von einer Euphorie zur nächsten Niederlage treibt. Mit großer Aufmerksamkeit werden emanzipatorische und progressive Phänomene wie die Indignados, Nuit debout oder die Regierungsübernahmen in Athen und Lissabon zur Kenntnis genommen und sogleich zu Vorbildern erklärt. „Man müsste“, „man sollte“, „so funktioniert es“, hallt es dann in vielen Papieren und auf Parteitagen. Selten aber gelingt die Übersetzungsleistung auf die eigenen gesellschaftlichen Problemstellungen.Dominik Heilig

Dominik Heilig

Wie organisiert man sich mit den Prekären?

Die zentrale Frage aber beantwortet auch er nicht. Wie kann sich eine Linkspartie mit Menschen organisieren, die in prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen die AFD wählen? Schließlich ist nicht nur die Klassenlage und ihre soziale Situation entscheidend, sondern auch die Frage, wie die Menschen sich diese Lage erklären. Wer nun die AfD wählt, muss nicht zwangsläufig Rassist sein, aber doch zumindest Erklärungsansätze für akzeptabel halten, die auf Ausgrenzung und Hierarchisierung beruhen.

Wie aber passt das zu einer Linkspartei, die ihren Anspruch Ernst nimmt, soziale und politische Rechte nicht an Hautfarbe, Pass und Herkunft festzumachen? Das ist im Kern auch der Auseinandersetzung mit Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine, wenn man sie vom innerparteilichen Flügelstreit löst. Der drückt sich schon darin aus, dass Wagenknechts Äußerungen zur Obergrenze für Geflüchtete von Realpolitikern der Linkspartei heftig kritisiert werden, die sich nicht äußern, wenn in Thüringen Roma abgeschoben werden. Diese innerparteiliche Gemengelage hat der Publizist Raul Zelik im Neuen Deutschland so beschrieben[11]:

Parteilinke, die bisher v.a. für ihren Widerstand gegen falsche Kompromisse bekannt waren, pochen auf Realpolitik. Offene Grenzen seien unrealistisch, so sagen sie, wenn man nicht gleichzeitig den Kollaps des Sozialstaats in Kauf nehmen wolle. Ohne Umverteilung auf Kosten der Reichen werde die Zuwanderung nämlich die öffentlichen Haushalte überlasten und die Lebensverhältnisse der Unterschicht noch weiter verschlechtern. … Parteilinke, die bisher v.a. für ihren Widerstand gegen falsche Kompromisse bekannt waren, pochen auf Realpolitik. Offene Grenzen seien unrealistisch, so sagen sie, wenn man nicht gleichzeitig den Kollaps des Sozialstaats in Kauf nehmen wolle. Ohne Umverteilung auf Kosten der Reichen werde die Zuwanderung nämlich die öffentlichen Haushalte überlasten und die Lebensverhältnisse der Unterschicht noch weiter verschlechtern.Raul Zelik

Raul Zelik

Zuwanderung auch eine Klassenfrage

Zelik geht dann sowohl auf die Argumente derer ein, dass die Zuwanderung für unterschiedliche Menschen unterschiedliche Auswirkungen hat.

Für die Putzkraft oder den ungelernten Arbeiter auf dem Bau erhöht Zuwanderung den Druck auf das Lohnniveau – weswegen man in diesen Tagen auch so manche türkische Migrantin über die Einwanderung stöhnen hören kann. Für den urbanen Akademiker, der trotz seiner Projekt-Prekarität eigentlich ganz gut über die Runden kommt (falls der Hedonismus nicht zu teuer wird), stellt Migration hingegen sicher, dass die frisch zubereitete Kokos-Tofu-Suppe im Schnellrestaurant auch in Zukunft für fünf Euro zu haben ist. Im Segment der Medienkreativen wird die Konkurrenz durch ZuwandererInnen erst einmal überschaubar bleiben.Raul Zelik

Raul Zelik

Zudem warnt er auch vor manchen linken Romantisierungen, die in den Migranten das neue revolutionäre Subjekt erkennen wollen. Aber gerade daraus zieht Zelik nicht die Schlussfolgerung, dass nun auch Linke für Abgrenzung und Obergrenzen eintreten müssen.

Trotzdem bleibt richtig, dass die Vielen, die als „Schwarm“ der Migration ein besseres Leben suchen, Proletariat im Marxschen Sinne sind. Ihre Situation ist zu flüchtig und unsicher, als dass ein handlungsfähiges politisches Subjekt aus ihnen werden könnte, aber das ändert nichts dran, dass diese Vielen ein grundlegendes soziales Recht einfordern: die Teilhabe am längst global produzierten gesellschaftlichen Reichtum. Die einzige mögliche Antwort von links kann hier lauten: „Wir alle haben ein Recht auf ein gutes Leben und das können wir nur gemeinsam und organisiert erkämpfen.“Raul Zelik

Raul Zelik

Daraus zieht er aber auch sehr konkrete und praktische Schlussfolgerungen. Es gehe darum, sich mit den Migranten zu organisieren und mit ihnen für gleiche soziale und politische Rechte zu kämpfen. Das kann in einen Mietenbündnis ebenso passieren wie in Erwerbslosengruppen oder in einer Gewerkschaft. Am Ende bringt er ein sehr anschauliches Beispiel von einem Ortsverband der Linken: „Ein Ortsverband in einer kleinen, rechts dominierten Stadt wie Suhl (Thüringen) zum Beispiel: Die meisten hier sind ältere Frauen. Mit großen Zweifeln an sich selbst und ihrer Arbeit organisieren sie Erwerbslosenfrühstück, Ämterbegleitung, Flüchtlingssolidarität, Anti-Pegida-Proteste.“ Was Zelik hier andeutet, könnte die Leerstellen in den Parteierklärungen und Dokumenten füllen. Dort wird immer betont, die Partei müsse die Menschen im Alltag erreichen, müsse ihnen zeigen, dass die AfD keine Alternative ist. Das geht aber nur in konkreten Alltagskämpfen gegen Vertreibung und Zwangsräumung, gegen Dumpinglöhne, gegen Sanktionen in Jobcentern. In diesen Auseinandersetzungen agieren Betroffene unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Alter, ihrer Religion. Dort könnte auch ein AfD-Wähler erkennen, dass es solidarische Alternativen gibt, mit den Zumutungen des kapitalistischen Alltags umzugehen.

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48122/2.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/2011/01-03/001.php

[2]

http://www.heise.de/tp/artikel/33/33986/

[3]

http://www.die-linke.de/nc/die-linke/nachrichten/detail/zurueck/nachrichten/artikel/revolution-fuer-soziale-gerechtigkeit-und-demokratie/

[4]

http://www.rico-gebhardt.de/

[5]

http://www.youtube.com/watch?v=ZEUPBjBVlJY

[6]

http://straighttohellbornhagen.wordpress.com/aufruf/

[7]

http://www.mdr.de/thueringen/ramelow-beschimpft-antifa-100.html

[8]

http://breakdeportation.blogsport.de/2016/01/17/pressemitteilung-von-roma-thueringen-zu-der-sammelabschiebung-vom-16-12-2015/

[9]

http://dominic.linkeblogs.de/

[10]

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1010099.man-muesste-reicht-nicht.html

[11] https://www.neues