Angriffe an der Tagesordnung

345 Flüchtlinge durch Attacken im vergangenen Jahr verletzt / Dokumentation belegt Gewalt gegen Schutzsuchende

Während in Politrunden über die Gefahren diskutiert wird, die Deutschland aus dem »Flüchtlingsstrom« erwachsen, sind Flüchtlinge realer Gewalt ausgesetzt, wie eine Dokumentation erneut belegt.

Eine brennende lebensgroße Strohpuppe, ein drei Meter hoher Galgen, ein Holzkreuz in Flammen oder aufgepflockte Schweinsköpfe vor Flüchtlingsunterkünften. Abscheuliche rassistische Vorfälle, doch schwerer als diese finden häufig Angriffe auf Flüchtlinge den Weg in die Medien. Seit 23 Jahren sammelt die Antirassistische Initiative Berlin (ARI) Fälle von Gewalt gegen Flüchtlinge – von institutioneller wie solcher, die Flüchtlingen auf der Straße entgegenschlägt; sie nennt ihre Dokumentationen die »Folgen der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik«. Die Arbeit der Aktivisten hat mit den jüngsten Entwicklungen eine neue Aktualität erfahren. In ihrer 23. aktualisierten Ausgabe haben sie eine erschreckende Entwicklung mit vielen Beispielen und Zahlen untermauert.

Die Anzahl der Gewalttaten mit Verletzungs- oder Tötungsabsicht gegen Geflüchtete ist in einigen Bundesländern immens angestiegen – und damit auch die Anzahl der Opfer. »Bei Angriffen auf Wohnunterkünfte und auf der Straße wurden im vergangenen Jahr mindestens 345 Flüchtlinge verletzt. Diese Zahl ist dreimal höher als im Jahre 2014 und elfmal höher als 2013«, heißt es in der Dokumentation. Durch Brandstiftungen, Werfen oder Schießen von Gegenständen wie Molotow-Cocktails, Böllern, Steinen, Flaschen, Metallkugeln, Silvester-Raketen auf bewohnte Flüchtlingsunterkünfte und Wohnungen und durch direkte tätliche Angriffe in den Wohnbereichen kamen nach ARI-Recherchen im letzten Jahr mindestens 107 Bewohner körperlich zu Schaden. Diese Zahl ist im Vergleich zum Vorjahr 2,7-fach höher, im Vergleich zu 2013 15,3-fach. Auch durch Angriffe auf der Straße, in Bussen, an Haltestellen, in Straßenbahnen oder Supermärkten wurden mindestens 238 Flüchtlinge zum Teil schwer verletzt. Das sind dreimal so viele wie noch 2014 und zehnmal mehr als 2013. Wie in den vergangenen 23 Jahren werden in der aktualisierten Dokumentation überdies die verschiedenen Formen staatlicher Gewalt gegen Flüchtlinge dokumentiert.

Sechs Suizide und 94 Selbstverletzungen und Suizidversuche von Flüchtlingen im letzten Jahr sind für Elke Schmidt von der ARI die Folgen eines anhaltenden staatlichen Drucks auf Schutzsuchende. »Existenzielle Angst vor der Abschiebung, jahrelanges traumatisierendes Warten und die zerstörerischen Lebensbedingungen im Rahmen der Asylgesetze nehmen den Menschen die Hoffnungen auf ein Leben in Sicherheit«, so Schmidt gegenüber »neues deutschland«.

Exemplarisch hat die ARI für den Monat September 2015 die verschiedenen Fälle von Gewalt gegen Flüchtlinge einzeln aufgelistet. Fast jeden Tag gibt es unterschiedliche Formen von Gewalt. Am 25. September wird zwei Geflüchteten, die in Dresden mit ihren Fahrrädern unterwegs sind, eine brennende Flüssigkeit ins Gesicht gesprüht. Sie müssen ambulant behandelt werden.

Auch Todesfälle, die öffentlich kaum wahrgenommen wurden, finden Eingang in die Dokumentation. So wurde am 1. September 2015 eine stark verweste Leiche unter einer Autobahnbrücke in Bayern gefunden. Dank der Dokumente in seinem Rucksack konnten der Tote identifiziert und die Todesumstände verifiziert werden. Es handelt sich um einen 17-Jährigen aus Afghanistan. Er gehörte zu einer Flüchtlingsgruppe, die Mitte Juli 2015 nachts auf der Autobahn unterwegs war. Vermutlich um einer Polizeikontrolle auszuweichen, kletterte der Mann über die Leitplanke und stürzte 20 Meter in die Tiefe. Für Elke Schmidt ist die Dokumentation ein Spielbild der Verhältnisse, denen Geflüchtete in Deutschland ausgesetzt sind. »Anhand von über 8000 Einzelgeschehnissen wird der gesetzliche, behördliche und gesellschaftliche Druck deutlich, den nur die wenigsten Flüchtlinge unbeschadet überstehen können«, betont Schmidt.

Wie bei allen bisherigen Dokumentationen ging der Präsentation der neuesten Aktualisierung ein langwieriger Rechercheprozess voraus. Alle Daten wurden gründlich gegenrecherchiert. Anfragen bei Polizei und Behörden sind nach Schmidts Angaben oft sehr zeitaufwendig und werden manchmal auch schlicht ignoriert. Im Zeitraum zwischen den 1.1.1993 und dem 31.12.2015 starben 188 Geflüchtete durch Selbstmord oder starben bei dem Versuch, der Abschiebung zu entgegen. 22 Flüchtlinge kamen in dieser Zeit bei rassistischen Angriffen ums Leben.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1011616.angriffe-an-der-tagesordnung.html

Von Peter Nowak