»Alle sollen aufstehen«

Willi Hayek über die Dynamik der »Nuit debout«-Versammlungen.Willi Hayek ist Autor und in der basisgewerkschaftlichen Bildungsarbeit in Deutschland und Frankreich tätig. Er lebt und arbeitet in Marseille und Berlin.

Wieso gab und gibt es »Nuit debout«-Versammlungen in den vergangenen Wochen in so vielen Städten Frankreichs?

Diese Versammlungen gibt es seit dem 9. März, seit der ersten landesweiten Demonstration gegen das neue Arbeitsgesetz. Initiiert wurden sie von einer kleinen Gruppe von Filmemachern, Theaterleuten, Jugendlichen und Basisgewerkschaftern. Inzwischen haben sich die Besetzungen von öffentlichen Plätzen auf eine Reihe von Städten ausgeweitet. In den Regionen und Orten kommen die Initiatoren aus sehr unterschiedlichen Zusammenhängen. In den etablierten Medien wird zumeist nur von Paris und dem Platz der Republik gesprochen, wenn von der »Nuit debout«-Bewegung die Rede ist. Die Zusammensetzung der Versammlungen wie auch deren Themen sind aber sehr unterschiedlich. Gemeinsam ist die Debatte über das neue Arbeitsgesetz und eine Welt der immer weiter entregelten Lohnarbeit in allen Bereichen, wobei sich das Kräfteverhältnis immer mehr zugunsten des Kapitals verschiebt. Deshalb wird dieses Gesetz auch oft als loi du capital, als das Gesetz des Kapitals, bezeichnet. Aber bei »Nuit debout« treffen Akteure aus lokalen Kämpfen mit Akteuren aus der Region und landesweiten Bewegungen zusammen. Man lernt sich kennen und berichtet über die unterschiedlichen Kämpfe. Es gibt auch Inititativen wie »Psychiatrie debout« und »Hôpital debout«. Das ist ein Aufruf an alle, die in der Psychiatrie und in Krankenhäusern leben oder ihre Lohnarbeit dort verrichten.

Gibt es nach mehr als einen Monat nicht Ermüdungserscheinungen bei der Bewegung?

Alle diese Versammlungen sind Teil einer gemeinsamen politischen Bewegung, die das Ziel hat, die Regierung zur Rücknahme des geplanten neuen Arbeitsgesetzes zu zwingen. Daher können sich die Dynamik und das Potential von »Nuit debout« noch verstärken und ausweiten. Ob das geschieht, hängt von der Entschlossenheit der nächsten großen Streik- und Straßenaktionen am 28. April und in den folgenden Tagen ab. Ziel ist natürlich tous debout partout – alle sollen aufstehen, überall – und nicht nur nachts.

Welche Rolle spielt Militanz in der Bewegung?

Debatten über die Militanz des Widerstands und die unterschiedlichsten Aktionsformen finden auf den Versammlungen statt, aber die von den Medien und der Regierungen erwünschte Spaltung der Bewegungen sind für mich nicht sichtbar. Die Debatten haben eher dazu geführt, dass die Brutalität und die Gewalt der Polizeieinsätze gegen die Bewegung bekannt werden. Hier sind es gerade auch die militanten und kämpferischen Teile der Gewerkschaften, Sud-Solidaires, GGT sowie unabhängige bekannte Persönlichkeiten, die mit Aufrufen und Plakaten die Gewalt der CRS (ein kasernierter Verband der französischen Polizei, Anm. d. Red.) und anderer Teile der polizeilichen Einsatztruppen anprangern und kritisieren.

Nach der Räumung des Flüchtlingscamps in Calais spielte auch das Thema Rassismus eine größere Rolle. Ist es bei »Nuit debout« Thema?

Sans papiers, Aktive aus der Flüchtlingsbewegung und dem Camp in Calais berichten auf den Versammlungen über die Zustände. Hinzu kommt aber eine wichtige Debatte über den Generalstreik in Mayotte, dem 101. französichen Überseedepartement. Er hat bisher zwei Wochen gedauert, ist seit Freitag vorübergehend ausgesetzt und hat als Streikforderung die reale Gleichheit der Inselbewohner mit den Bewohnern im europäischen Frankreich. Der Streik wurde sehr militant mit Straßen- und Hafenblockaden auf der ganzen Insel geführt. In den etablierten Medien wird dieser Arbeitskampf kaum beachtet, obwohl er in seiner Entschlossenheit sehr stark an den 44tägigen Generalstreik auf Guadeloupe vor einigen Jahren erinnert.

Wie reagierten die Gewerkschaften auf die neue Bewegung?

CGT und Sud versuchen natürlich, in ihren betrieblichen Zusammenhängen und zu agieren, vor allem die geplanten Streikaktionen vorzubereiten und zu stärken. Aber auch Treffen und Versammlungen vor Ort wie bei Renault in Billancourt werden zusammen mit Studenten und Jugendlichen initiiert. Eine wichtige Aufgabe haben die Eisenbahner, die in Vorbereitung des nächsten Streiktags am 28. April schon am Dienstag mit einem Streik beginnen. Eine weitere agile Gruppe in der Bewegung sind die prekären Kulturarbeiter, die intermittents, die durch Besetzungen von Theatern wie in Montpellier und Bordeaux ein sehr dynamisches und mutiges Element in dieser sozialen Bewegung verkörpern.

Haben die Proteste überhaupt einen emanzipatorischen Charakter oder ist es eher ein Ritual, wie es in einigen Erklärungen libertärer Gruppen heißt?

Seit Beginn der Aktionen im März durchzieht das Land ein rebellischer Geist, genau der wird auch spürbar auf all den Versammlungen, Aktionen und Debatten, die ich in den letzten Wochen an unterschiedlichen Orten und in sehr verschiedenen Zusammenhängen erlebt habe. Bei diesen Debatten kommt es natürlich auch zu Konflikten, aber das gehört zu einer lebendigen, demokratischen Kultur dazu.

Sind diese Proteste ein Neuaufguss der »Occupy«-Bewegung in Frankreich?

Gemeinsam ist das Aneignen der öffentlichen Räume, der Ausbruch aus der alltäglichen Ordnung, die vielfältigen Initiativen, das Erleben einer solidarischen Gesellschaft. Eine übergreifende, gemeinsame gesellschaftliche Bewegung gegen ein Arbeitsgesetz, die die unterschiedlichsten Teile der Lohnarbeit, der Erwerbslosen, der Migranten, der rebellischen Gesellschaft zusammenbringt, unterscheidet die Proteste in Frankreich von der Occupy-Bewegung.

Es gibt Versuche, »Nuit debout« auf verschiedene europäische Länder auszuweiten. Warum zündet der Funke nicht?

Die jetzige Bewegung in Frankreich hat eine Vorgeschichte. Es haben in den vergangenen Monaten an vielen Orten in den unterschiedlichsten Bereichen lokale Streiks und Aktionen stattgefunden, so bei der Post-Telekom, Air France und der französischen Bahn. Aber zu einer landesweiten Bewegung war es nicht gekommen. Alle warteten auf den auslösenden Funken. Jetzt ist er da. Das verändert das gesellschaftliche Klima und das ist nicht nur in den großen Städten spürbar. Eine solche Bewegung lässt sich nicht einfach in andere Länder übertragen, aber das Lernen voneinander ist wichtig.

So wurde mit großen Interesse verfolgt, wie die linke Stadtregierung in Barcelona mit einem Streik der Busfahrer in der Stadt umgegangen ist. Auch die Berichte über die internen Widersprüche und Machtkämpfe innerhalb der Podemos-Bewegung in Spanien stoßen auf großes Interesse.

Könnte aus der aktuellen Bewegung eine Art französische Podemos entstehen?

In der Bewegung gibt es eine starke Abneigung gegen Vereinnahmungsversuche durch politische Parteien, Gewerkschaften und repräsentative Persönlichkeiten, die diese Bewegung für ihre politischen Projekte nutzen wollen. Es gibt ein starkes Bedürfnis, sich vor Ort gesellschaftlich zu verankern, handlungsfähig zu werden, das soziale Klima und das Kräfteverhältnis zu verändern. Man will sich nicht repräsentieren lassen.

In dieser Situation haben Aktive aus dem Umfeld der Gewerkschaften Sud und CGT die Initiative zur Gründung einer neuen Tageszeitung ergriffen, die Le progrès social heißt.

http://jungle-world.com/artikel/2016/17/53904.html

Interview: Peter Nowak

Facebook zensiert im Interesse der türkischen Regierung

An den konkreten Anlässen für die Sperren zeigt sich, dass sie in Deutschland oder Großbritannien keine strafrechtliche Relevanz haben

„Wir haben etwas entfernt, was Du gepostet hast“ oder „Konto gesperrt“ – solche Meldungen hat der Referent für Gewerkschaftsfragen bei der Rosa Luxemburg Stiftung[1],  Florian Wilde[2] immer wieder über seinem  Facebook-Account erhalten. Die Gründe sind beliebig. Allerdings ist auffällig, dass die Anträge von der türkischen Justiz kommen und die von ihr inkriminierten Texte und Bilder in Deutschland  nicht strafrechtlich relevant sind.

So kassierte Wilde eine siebentägige Sperre bei Facebook, weil er Fotos aus einer Dokumentation über eine türkeikritische Demonstration in Hamburg gepostet hat. Dabei habe er nach vorherigen Sperren schon darauf geachtet, dass Symbole der kurdischen Arbeiterpartei PKK oder Forderungen nach der Freilassung von deren Vorsitzenden Öcalan nicht unter dem geposteten Material waren. Das waren schließlich die Gründe für die vorigen Sperren.

Das macht auch deutlich, wie disziplinierend sie wirken. Doch übersehen hatte er, dass für die türkische Justiz neben der kurdischen Nationalbewegung auch diverse linke Parteien und Gruppierungen relevant sind und sie verfolgt werden. Obwohl die im Unterschied zur PKK in Deutschland nicht verboten sind, führt Facebook auf Zuruf von türkischen  Behörden die Internetsperre durch. Für die Nutzer gibt es kaum Möglichkeiten, sich davor zu schützen, betont Wilde.

Türkeikritische Dokumentationen auf Facebook sind kaum möglich

„Da es von Facebook keine Listen gibt, aus denen hervorgeht, was genau verboten ist und was nicht, sind Fotodokumentationen zu türkeikritischen Demonstrationen in Deutschland auf Facebook unmöglich geworden,“ resümiert er. Das ist schließlich auch das Ziel der türkischen Justiz und der Regierung.

So viel freiwillige Kooperation von Facebook ist natürlich besonders vorteilhaft für die türkische Regierung. Damit kann sie auch außerhalb der Türkei bestimmen, welche Inhalte die Facebook-Nutzer zu sehen bekommen. Nun ist Wilde kein Einzelfall.

Viele Menschen, die sich mit der kurdischen Sache oder mit der türkischen Demokratiebewegung  befassen, sind ebenfalls mit solchen Facebook-Sperren konfrontiert. Dazu gehört der in München lebende Student Kerem Schamberger[3] , der seine Facebook-Sperren dokumentierte[4].

Von den Sperren sind nicht nur Facebook-Nutzer in Deutschland betroffen. Eine britische Journalistin hat sich ausführlich[5] mit dem Thema befasst.

Kann die Internetgemeinde Facebook nicht unter Druck setzen?

„Wir reagieren auf berechtigte Ansprüche im Zusammenhang mit strafrechtlichen Fällen. Jede einzelne Anfrage, die wir erhalten, wird auf ihre rechtliche Relevanz geprüft“, schreibt[6] Facebook zur Praxis des Sperrens. Nun zeigt sich an den konkreten Anlässen für die Sperren, dass sie in Deutschland oder Großbritannien keine strafrechtliche Relevanz haben.

Es werden also die restriktiven Bestimmungen der Türkei zur Grundlage für die Sperren gemacht. Allerdings ist es keineswegs überraschend, dass Weltkonzerne, genauso wie viele Regierungen sehr gut mit unterschiedlichen diktatorischen Regimen, kooperieren. Sie verkaufen Abhörtechnik an solche Länder und kooperieren mit den Repressionsorganen. Nun stellt sich trotzdem die Frage, ob eine große weltweit agierende Internetgemeinde Facebook nicht mit einer konkreten Forderung unter Druck setzen kann.

Der Konzern müsste aufgefordert werden, einsehbare überprüfbare und an den Menschenrechten orientierte Kriterien für die Sperren zu entwickeln und auch einzuhalten. Es wäre auch eine Probe aufs Exempel, ob die vielzitierte Internet-Gemeinde sich in einer menschenrechtlichen Frage koordinieren und entsprechend handeln kann. Gerade in einem Land, wo wochenlang über den Fall Böhmermann  diskutiert wird, müsste es doch einfacher sein, einen solchen Druck aufzubauen.

Es ist allerdings bemerkenswert, dass kaum Medien über die Facebook-Sperren im Interesse des Erdogan-Regimes berichten. Hier geht es schließlich tatsächlich um den politischen Kampf, um Menschenrechte, und nicht um ein unpolitisches Gedicht und einen sich damit profilierenden Journalisten.

http://www.heise.de/tp/druck/mb/artikel/48/48105/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

https://www.rosalux.de/gesellschaft/thema/arbeitgewerkschaften/2611/400.html

[2]

https://www.facebook.com/florian.wilde

[3]

http://www.kerem-schamberger.de/

[4]

http://www.kerem-schamberger.de/2016/01/07/warum-facebook-tuerkei-kritik-sperrt/

[5]

https://www.buzzfeed.com/saraspary/facebook-in-dispute-with-pro-kurdish-activists-over-deleted?utm_term=.atKX7QmNj#.lsRaZlKvm

Der lange Kampf der Tessiner Bahnarbeiter

In Bellinzona könnte es wieder zu Streiks kommen

Vor acht Jahren hatten Bahnarbeiter die Schließung des Ausbesserungswerkes in der Schweizer Stadt Bellinzona verhindert. Nun steht es erneut vor dem Aus.

Das Städtchen Bellinzona im Schweizer Kanton Tessin steht für den erfolgreichen Kampf gegen eine Werkschließung. 2008 hatten 400 Beschäftigte der Schweizer Bundesbahn (SBB) das von der Schließung bedrohte Ausbesserungswerk besetzt. Die große Unterstützung in der Region und die Entschlossenheit der Beschäftigten führten nach Jahren zum Erfolg: Die SBB nahm die Pläne zurück. In einer 2013 abgeschlossenen Vereinbarung verpflichtete sie sich, für ein mit den Vorjahren vergleichbares Auftragsvolumen zu sorgen. Zudem sollte dem Werk eine größere Autonomie eingeräumt werden.

Nur eingehalten hat die SBB die Abmachung nicht, moniert Gianni Frizzo. Der UNIA-Gewerkschafter war 2008 als Stimme des Widerstands über die Schweiz hinaus bekannt geworden. Ein neuer Arbeitskampf scheint wahrscheinlich, nachdem die SBB ein Ultimatum der Belegschaft ignoriert hatte. Bis zum 15. April sollte das Unternehmen mit konkreten Maßnahmen beweisen, dass sie die Vereinbarungen künftig umsetzen wird.

In der vergangenen Woche diskutierten die Beschäftigten auf einer Vollversammlung die weiteren Schritte. Die Belegschaftsvertreter sind aus dem 2013 geschaffenen Kompetenzzentrum ausgetreten, in dem strittige Fragen einvernehmlich geklärt werden sollten. Außerdem wurde die Tessiner Regierung aufgefordert, die SBB zur Einhaltung ihrer vertraglich vereinbarten Verpflichtungen aufzufordern. Die Versammlung endete mit einer lautstarken Demonstration.

Acht Jahre nach dem letzten Streit gibt sich Frizzo kämpferisch: »Der Ball liegt bei der SBB. Auf unserer Seite gibt es eine große Entschlossenheit«, beantwortete der Gewerkschafter die Frage eines Fernsehreporters, ob die Beschäftigten von Bellinzona auch Kampfmaßnahmen außerhalb ihres Betriebs vorbereiten. Konkret wollte der Journalist wissen, ob während der Einweihungsfeier des neuen Gotthard-Tunnels am 1. Juni Proteste geplant sind. Frizzo ließ das offen. Deutlicher wurde Ivan Cozzaglio, der 2008 Mitglied des Streikkomitees war. Der Metallkeil, mit dem damals die Zufahrtsgleise zugeschweißt worden waren, passe perfekt auf die Schienen des Alpen-Transit, erklärte er.

»Die Unterstützung in der Region für die Forderungen der Beschäftigten ist unverändert groß«, erklärt Uwe Krug gegenüber »nd«. Der in der GDL organisierte Bahnbeschäftigte aus Berlin hatte im März eine Versammlung in Bellinzona besucht. Krug bezweifelt aber, dass ein Arbeitskampf wie 2008 heute in Bellinzona möglich ist. Die Basis der kämpferischen Beschäftigten habe sich kaum erweitert. Zudem sei die Solidarität in der Schweizer Bevölkerung bisher sehr gering. Es gebe einen Konkurrenzkampf unter den Ausbesserungswerken, so Krug.

Gewerkschafter im europäischen Ausland hingegen verfolgen die Entwicklung um Bellinzona mit großem Interesse – in mehreren Ländern gibt es Informationsveranstaltungen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1009928.der-lange-kampf-der-tessiner-bahnarbeiter.html

Peter Nowak

Ekelhafte Nazi-Pöbelei

Der aus Thüringen stammende mehrfach vorbestrafte Neonazi Christoph S. wurde vom Berliner Amtsgericht zu einer Freiheitsstrafe von 32 Monaten verurteilt.

Die Nachricht schaffte es im August vergangen Jahres sogar in die Auslandspresse. Zwei  betrunkene Neonazis beleidigten eine Frau mit Migrationshintergrund und ihre Kinder in der Berliner S-Bahn mit rassistischen Parolen. Dann soll einer der Männer seine Hose geöffnet und auf die Kinder gepinkelt haben, so berichteten es mehrere schockierte Augenzeugen. Mehrere Fahrgäste sagten später aus, dass die beiden Männer unter anderem gerufen hätten „Asylantenheime sollen brennen“. Eine Frau, die sich gegen die Hetze wandte, sei als „Judenschlampe“ beschimpft worden. In Berliner Medien machte das Wort vom Ekelnazi die Runde.

Jetzt hat das Berliner Amtsgericht den vielfach vorbestraften Christoph S. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 32 Monaten verurteilt. Der aus Thüringen stammende Mann gehört seit über 20 Jahren zur rechten Szene. In dem Verfahren wurden unterschiedliche Straftaten verhandelt. So soll S. am 27. März 2015 in der S-Bahn den deutschen Gruß gezeigt und Heil Hitler gebrüllt haben, einige Stunden später einen Mann, der sich gegen die Nazi-Sprüche verwahrte, geschlagen und getreten haben. Ob der Angeklagte tatsächlich auf die Kinder urinierte, ließ das Gericht offen. Belegt ist, dass er den Kindern sein Gesäß  und seine Genitalien präsentierte. „Die Mitreisenden waren so irritiert, dass ihre Aufnahmefähigkeit eingeschränkt war“, erklärte die Richterin.

Teilnehmer bei „Bärgida“-Aktionen

Bereits im Januar 2016 war Christoph S. zu einer Haftstrafe von 9 Monaten verurteilt worden, die nun zu seiner neuen Verurteilung zu einer Gesamtstrafe zusammengefasst werden. Damals war S. wegen Fahrens ohne Ticket, dem Diebstahl von Wodka und dem Zeigen des Hitlergrußes auf einer Kundgebung des Berliner Pegida-Ablegers „Bärgida“ verurteilt werden.

S. war im letzten Jahr mehrmals Teilnehmer der „Bärgida“-Aktionen. Ein Foto zeigt ihn am 3. August  in der Nähe des Leittransparents.  Auf einem weiteren Foto vom 22. August befindet sich S. in einer Gruppe rechter Hooligans, die ein Transparent mit der Aufschrift „Ein Bündnis für Deutschland“ tragen und „Kein Freiraum für linke Gewalt“ fordern.

http://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/ekelhafte-nazi-p-belei

Peter Nowak

Es gibt noch Revolutionsbedarf

PROTEST Die drohende Zwangsräumung des Geschäfts M99 könnte noch verhindert werden
Die drohende Zwangsräumung des in der linken Szene über Berlin hinaus bekannten Gemischtwarenladens mit Revolutionsbedarf
M99 könnte doch noch verhindert werden. Der Ladenbetreiber Hans Georg Lindenau (HG) hat in einem neuen Angebot an die Eigentümer zugesichert, dass er die Räume in der ersten Etage aufgibt. Dafür fordert er für die Räume im Erdgeschoss und Keller der Manteuffelstraße
99 einen neuen Mietvertrag. Die EigentümerInnen wollten sich gegenüber der taz nicht zu dem Angebot äußern. Gegenüber Lindenaus Anwalt hatten sie erklärt, die Räumung nicht mithilfe der Polizei durchsetzen zu wollen. Strittig dürfte vor allem Lindenaus Forderung sein, dass die Vereinbarung keinen Termin für ein endgültiges Verlassen der Räume enthalten soll. Die EigentümerInnen hatten vorgeschlagen, dass Lindenau die Ladenräume noch bis zum 31. 12. 2016 nutzen kann und anschließend sämtliche Räume verlassen
soll. „Ich sehe keine Möglichkeiten, an einem anderen Ort den Laden fortzusetzen“, begründet Lindenau gegenüber der taz seine Weigerung, ein konkretes Datum für einen endgültigen Auszug zu akzeptieren. Zudem will er nicht auf die Forderung der EigentümerInnen eingehen, auf weitere politische Aktivitäten gegen seine drohende Räumung zu verzichten. Mitte April hatte er eine
Kundgebung vor dem Büro des Hauseigentümers angemeldet. Dabei wurde auch der Aufruf „99 für M99“ übergeben. Dort hatten sich 99 NachbarInnen für einen Erhalt des Ladens eingesetzt. Dabei wurde auch Kritik an der Gentrifizierung Kreuzbergs deutlich. „Wir haben oft
gehört, dass sich die Menschen im Stadtteil nicht mehr sicher fühlen, wenn selbst ein so bekannter Laden wie der M99, der schließlich in mehreren Kreuzberg-Reisebüchern aufgeführt ist, von der Räumung bedroht ist“, erklärte David Schuster vom Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ gegenüber der taz. Das Bündnis gehört zu einem losen Bündnis verschiedener MieterInnen-und Nachbarschaftsinitativen,
die sich für den Erhaltdes Ladens einsetzen. Dass zwischen Lindenau und den HauseigentümerInnen weiter verhandelt wird, sieht Schuster als einen Erfolg der Mobilisierungen der letzten Wochen. Ende Februar war ein vom Bezirksamt Kreuzberg einberufener
Runder Tisch noch ohne Einigung auseinandergegangen. Nicht nur Schuster vom Zwangsräumungsbündnis sah damit alle Möglichkeiten einer Einigung beendet. Auch die Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain Kreuzberg Monika Herrmann (Grüne), die den Runden
Tisch leitete, erklärte: „Beim zweiten Treffen wollte der Anwalt des Besitzers nur noch über den Auszugstermin und nicht über den Auszug reden. Da war nichts zu verhandeln.“ Dass Lindenau einen Ersatzladen in Kreuzberg findet, hält Herrmann angesichts der Mietenentwicklung für unmöglich. Lindenau selbst hat derzeit gar keine Zeit, an einen Auszug zu denken. Sein Laden läuft im Vorfeld des 1. Mai besonders gut.
aus Taz: 27.4.2016
Peter Nowak

Werden auch TTIP-Gegner Obama nachtrauern?

Vom Dilemma der Freihandelsgegner angesichts der Präsidentenwahlen in den USA und des VW-Skandals

Der US-Präsident ist auf Abschiedstour in Europa und der deutsche Außenminister  Steinmeier erklärt[1] in den Medien: „Es kann sehr schnell kommen, dass wir Obama nachtrauern.“ Doch wer ist dieses Wir?

Zumindest die Kräfte innerhalb der Regierungskoalition, die sich den deutschen Aufstieg an der Seite oder zumindest in Kooperation mit den USA vorstellen, sind damit gemeint. Denn Obama hat immer deutlich gemacht, dass er  Deutschland als Führungsmacht in der EU anerkennt. Allein Obamas Agenda für seine Abschiedstour als Präsident in Europa macht das deutlich. Denn in Hannover ist nicht nur ein Ort für eine kurze Stippvisite. Es soll gleich einen kleinen Gipfel von Regierungsvertretern geben, die Deutschlands Machtanspruch verdeutlichen sollen.

Leere Drohungen Obamas in London

Es ist auch ein Affront gegen Großbritannien, wo Obama vor allem als der Staatsmann auftrat, der Ratschläge in Sachen EU-Mitgliedschaft erteilte und dabei Ankündigungen machte, die er nicht einlösen kann. Wenn er beispielsweise erklärt, dass es für Großbritannien nach einen EU-Austritt keine privilegierten Beziehungen mit den USA geben wird und sich das Land bei Verhandlungen hinten anstellen muss, können Brexit-Befürworter darauf verweisen, dass Obama genau hier unglaubwürdig ist.

Schließlich hätte er zumindest darauf hinweisen müssen, dass das für seine Amtszeit gilt und die läuft in wenigen Monaten aus. Seine möglichen Nachfolger aber haben sich darauf nicht festgelegt. Und so könnte sich die Drohung sogar als Pluspunkt für die Brexit-Gegner erweisen. Die können darauf verweisen, dass es eine leere Drohung aus Gefälligkeit gegenüber dem britischen Premierminister Cameron ist.

Sie stellt aber gleichzeitig Obamas Glaubwürdigkeit an diesem Punkt in Frage. Käme das Statement am Anfang von Obamas  Amtszeit, wäre es tatsächlich eine ernstzunehmende Drohung für die Brexit-Befürworter gewesen, aber nicht bei einem Präsidenten auf Abschiedstour. Die Brexit-Befürworter in Großbritannien und in anderen europäischen Ländern werden also nicht zu denen gehören, die Obama nachtrauen. Doch wie steht es mit den zahlreichen TTIP-Kritikern in Deutschland und Europa?

Trump – Hoffnung für TTIP-Gegner?

Erst am vergangenen Samstag sind in Hannover in Hannover in Vorfeld des Obama-Besuchs wieder mehrere Zehntausende[2] auf die Straße gegangen. Doch sie sind in einen Dilemma. Denn eigentlich müssen sie das Ende der Obama-Administration  begrüßen. Denn es scheint zurzeit fast so, als wäre er noch der letzte Garant, dass das TTIP-Abkommen überhaupt ratifiziert wird. Angesichts der ökonomischen Entwicklung ist die Stimmung in der Bevölkerung der USA längst nicht mehr freihandelsfreundlich, was sich auch in den Statements der Präsidentenanwärter widerspiegelt.

Ein konservativer TTIP-Gegner war seit jeher der US-Bewerber Trump, der  auch seinen Wahlkampf ganz stark auf den Widerstand gegen das Abkommen aufbaut. Seine Präsidentschaft  würde ziemlich sicher das Aus für TTIP bedeuten. Die rechten TTIP-Gegner, die es in allen Ländern gibt, machen ihre Sympathie mit Trump auch deutlich. Doch die Mehrheit der organisierten TTIP-Kritiker in Deutschland kommt eher aus der linken und gewerkschaftlichen Ecke. Sie haben in zentralen Fragen keine Sympathie mit den Positionen von Trump.

Sie würden sich sicher eher eine Präsidentschaft von Bernie Sanders wünschen, jenes US-Sozialdemokraten, der innerhalb der Demokratischen Partei  noch  immer der lange Zeit als gesetzt geltenden Hillary Clinton die Kandidatur streitig macht. Doch dass sich Sanders am Ende durchsetzt, ist ziemlich unwahrscheinlich. Es ist dagegen sehr wahrscheinlich, dass Clinton am Ende Präsidentschaftskandidaten der Demokraten wird. Ihre Haltung zu TTIP  ist widersprüchlich.

Lange Zeit gehörte sie wie Obama zu den Befürwortern des Abkommens. Erst als die Stimmung in der Bevölkerung der USA dem Freihandel gegenüber kritischer wurde und ihr innerparteilicher Konkurrent Sanders auch wegen seiner TTIP-Ablehnung punktete, distanzierte  sich auch Clinton halbherzig davon – ein Exempel jenes Opportunismus, der Clinton immer wieder vorgeworfen wird.  Es ist daher  ziemlich wahrscheinlich, dass die Präsidentin Clinton den Freihandelsvertrag nicht scheitern lassen wird und den neuerlichen Schwenk dann damit begründet, dass er nun schon ausverhandelt ist.

Nun ist eine Konstellation Trump versus Clinton bei den Präsidentschaftswahlen nicht unwahrscheinlich. Für die Mehrheit der organisierten TTIP-Gegner auch in Deutschland entsteht so eine paradoxe Situation. Sie müssten eigentlich auf einen Erfolg von Trump hoffen, der am ehesten den TTIP-Vertrag beerdigt, obwohl sie in vielen anderen Punkten mit ihm nichts zu tun haben wollen. Gestärkt würden auf jeden die rechten und rechtspopulistischen Freihandelsgegner, die dann realpolitisch argumentieren können, dass eine Präsidentschaft Trumps garantiert TTIP beerdigt.

Volkswagen-Affäre: Die Rechte der Verbraucher in den USA

In einer Zeit, in der in vielen Protestbewegungen solidarische, auf Egalität aller Menschen ausgerichtete Positionen, umkämpft oder auch ganz in der Minderheit sind, sind solche Positionen natürlich auch heute schon in der Bewegung  gegen den Freihandel, die historisch immer auch reaktionäre Züge trug, vertreten. Mit einer Kandidatur von Trump aber hätte sie eine realpolitische Komponente, so wie sich Gegner einer liberalen Flüchtlingspolitik auf einen Erfolg der FPÖ bei den Präsidentschaftswahlen in Österreich berufen können.

Wir haben ja gerade erlebt, dass in den USA die Rechte der Verbraucher und übrigens die Umwelt besser, effizienter geschützt wird als in Deutschland

Neben diesem strategischen Dilemma sind die der TTIP-Gegner auch durch den VW-Skandal argumentativ in die Defensive geraten. Denn ein Großteil der TTIP-Gegner warnt recht undifferenziert vor Verschlechterungen für Verbraucher,  Lohnabhängige etc.,  wenn die Verträge in Kraft treten. Dabei wurde gern übersehen, dass es beispielsweise beim Verbraucherschutz in den USA teilweise gesetzliche Rechte gibt, die auch für die EU ein Fortschritt wären. Das hat sich jetzt beim VW-Skandal gezeigt.

Selbst wirtschaftsnahen FDP-Politiker fällt auf, dass VW-Kunden in den USA rechtlich besser gestellt sind. Der niedersächsische Wirtschaftsminister Jürgen Bode wurde von einem Journalisten des Deutschlandfunk gefragt[3]: „Warum ist es eigentlich unmöglich, dass auch die deutschen Kunden so wie in den USA mit etwa 4.500 Euro entschädigt werden?“

Bode antwortet:

Das ist nicht unmöglich. Es ist scheinbar eine bewusste Entscheidung von Volkswagen, in Deutschland und Europa Kunden zweiter Klasse haben zu wollen, und ich bin schon überrascht, dass die Vertreter der Landesregierung im Aufsichtsrat auch auf Nachfrage erklärt haben, dass sie diese Position stützen.

Dass es sich dabei um unterschiedliche Verbraucherrechte in den USA und Deutschland handelt, erwähnt Bode natürlich nicht. Der ehemalige grüne Bundesumweltminister Jürgen Trittin erwähnt diese Unterschiede zumindest in seinem Deutschlandfunk-Interview[4].

Wir haben ja gerade erlebt, dass in den USA die Rechte der Verbraucher und übrigens die Umwelt besser, effizienter geschützt wird als in Deutschland. In Deutschland haben wir eine Kommission eingesetzt durch Herrn Dobrindt, von der man lange nicht wusste, wer da drinsitzt und nun feststellt, die gibt es zwar, aber was die rausbekommen haben, das ist bis heute der Öffentlichkeit vorenthalten worden.

Müsste das nicht ein Umdenken bei dem Teil der TTIP-Kritiker bewirken, die keine Option in einer Präsidentschaft Trumps oder eines anderen konservativen Freihandelsgegners sehen? Wieso wird nicht die Forderung erhoben, dass dort, wo die Verbraucher- und Umweltrechte in den USA fortschrittlicher als an der EU sind, sich die Unterhändler an diesen orientieren sollen?

Darüber hinaus machen die Dilemmata der TTIP-Kritiker deutlich, was schon Karl Marx beschäftigte[5]: eine Kritik am Freihandel, die den Kapitalismus nicht mit einbezieht, ist in der Regel eher konservativ als fortschrittlich. Zudem ist der Streit um den Freihandel immer eine Auseinandersetzung unterschiedlicher Kapitalfraktionen in den jeweiligen Ländern gewesen, die natürlich für ihre Argumentation immer das Wohlergehen der Subalternen heranzog

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48062/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

https://www.tagesschau.de/inland/bericht-aus-berlin-steinmeier-101.html

[2]

http://ttip-demo.de/home/

[3]

http://www.deutschlandfunk.de/vw-skandal-der-verbraucher-hat-in-deutschland-zu-wenig-macht.694.de.html?dram:article_id=352118

[4]

http://www.deutschlandfunk.de/vw-deal-in-den-usa-neurotische-dieselfixierung-beenden.694.de.html?dram:article_id=352067

[5]

http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_444.htm

Arbeit – Bewegung – Geschichte

Die Schweiz spielte keine unwichtige Rolle in der Geschichte der linken ArbeiterInnenbewegung. Die Zimmerwalder-Konferenz von 1915, zu der die sozialistischen GegnerInnen des 1. Weltkriegs zusammen kamen, ist ein bekanntes Beispiel. Kaum bekannt ist hingegen, dass die Schweiz vor über 40 Jahren auch eine wichtige Rolle in der europäischen Vernetzung der linken Betriebsintervention gespielt hat.

Anfang der 1970er Jahre wurde in Zürich ein internationales Koordinationsbüro für die länderübergreifende Unterstützung von Streiks und Arbeitskämpfe aufgebaut. Getragen wurde es von Gruppen der radikalen Linken, die durch den Aufbruch nach 1968 entstanden sind und sich weder der sozialdemokratischen noch der traditionskommunistischen Richtung zuordneten. Neben dem Pariser Mai 1968 war auch der italienische Herbst 1969 für diese Linke ein wichtiger Bezugspunkt. Denn in Italien beteiligten sich viele ArbeiterInnen im ganzen Land an Betriebsbesetzungen, Streiks und militanten Demonstrationen. Dort war der Funke des revolutionären Aufbruchs tatsächlich übergesprungen, von den Hochschulen auf die Fabriken. Linke AktivistInnen sowie kämpferische ArbeiterInnen aus vielen europäischen Ländern verfolgten die Entwicklung mit grossem Interesse. «In der historischen Forschung zu den Streikbewegungen und Arbeitskämpfen der 1960er und 1970er ist die internationale Zusammenarbeit von Strömungen und Gruppen, die sich an diesen Auseinandersetzungen in der Fabrik orientieren, noch wenig beachtet worden», schreibt der Berliner Historiker Dietmar Lange in der aktuellen Ausgabe von Arbeit – Bewegung – Geschichte, Zeitschrift für historische Studien.

Die Prophezeiung des heraufziehen den Postfordismus

Das Schwerpunktthema lautet «Linke Betriebsintervention, wilde Streiks und operaistische Politik 1968 bis 1988». Dietmar Lange, der gemeinsam mit Fabian Bennewitz, Ralf Hoffrogge und Axel Weipert die Zeitschrift herausgibt, forscht seit längerem zur Geschichte der linken Betriebsinterventionen der 1960er und 1970er Jahre. Dabei hat er auch einen Bericht über eine Internationale ArbeiterInnenkonferenz im April 1973 ausgegraben, die in Paris stattgefunden hat. Sie wurde wesentlich von dem Zürcher Koordinationsbüro vorbereitet und widmete sich den Klassenauseinandersetzungen in der Automobilindustrie. Anwesend ArbeiterInnen aus den wichtigsten Automobilkonzernen wie BMW, VW, Fiat, Opel, Alfa Romeo, Renault und Citroen. Aus der Schweiz waren Beschäftigte von Saurier vertreten. Auch verschiedene Linke aus Deutschland, Frankreich, Italien und Grossbritannien nahmen an der Konferenz teil. Aus der Schweiz waren AktivistInnen der Gruppe Klassenkampf nach Paris gekommen, die sich aus einer maoistisch orientierten Jugendbewegung in der italienischen Schweiz entwickelt hatte und Anfang der 70er Jahre ihren Einfluss auf die deutschsprachige Schweiz ausdehnte. Mitte der 70er Jahre löste sich die Gruppe auf. In dieser Zeit war die linke Betriebsintervention in eine Krise geraten geraten
und auch das Zürcher Koordinierungsbüro stellte die Arbeit ein. Die Vorbereitung der Pariser Konferenz war ihre wichtigste Arbeit. «Nur kurze Zeit nach der Konferenz in Paris vollzog ein Grossteil der beteiligten Gruppen einen Richtungswechsel oder löste sich auf», schreibt Dietmar Lange. In einem Interview mit dem Arzt und Historiker Karl Heinz Roth, der damals an der linken Betriebsintervention beteiligt war, spürt Lange den Gründen für den schnellen Zusammenbruch der transnationalen Solidaritätsarbeit nach, der zu einem langen Abschied der linken Bewegung vom Proletariat führen sollte. Roth erinnert sich an warnende Stimmen auf der Konferenz, die berichteten, wie durch Konzernstrategien das Konzept des kämpferischen Massenarbeiters untergraben wurde. «Diese Prophezeiung des heraufziehenden Postfordismus stand als Menetekel an der Wand des Kongresses», so Roth. Er begründet auch, warum das Koordinierungsbüro, dass neben der Gruppe Klassenkampf auch von der Berner und St. Gallener Ortsgruppen der Proletarischen
Front getragen wurden, in der Schweiz errichtet wurde: «Die Standortwahl lag nicht nur aus geographischen Gründen nahe, sondern hatte mit der damals leider noch sehr seltenen Mehrsprachigkeit der schweizerischen Genossinnen und Genossen zu tun».
Parallelen zu heutigen Auseinandersetzungen
Das Koordinierungsbüro habe sich zum Ziel gesetzt, die Selbstorganisation der am meisten marginalisierten Sektoren der europäischen ArbeiterInnenklasse zu fördern. Das ist eine sehr aktuelle Zielsetzung. Schliesslich gibt es zurzeit eine linke Betriebsintervention bei Amazon. Es gab bereits mehrere Treffen von Beschäftigten von Amazon-Werken in Deutschland und Polen. Deshalb weckt das Schwerpunktthema der Zeitschrift Arbeit – Bewegung – Geschichte nicht nur historisches Interesse. Die HerausgeberInnen weisen darauf hin, dass sich «in den hier publizierten Texten zahlreiche Aspekte finden, die Parallelen zu heutigen Auseinandersetzungen aufweisen». Nelly Tügel untersucht in ihren Beitrag, wie der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) auf gewerkschaftliche
Aktivitäten von ArbeitsmigrantInnen in Westdeutschland reagierte, die oft noch Klassenkampftraditionen einbrachten, die in Deutschland durch den Nationalsozialismus ausgelöscht worden waren. «Zum einen erging die Aufforderung an die Einzelgewerkschaften, jeweils einen Kollegen zu benennen, der in einen der Abteilung Organisation unterstellten Unterausschuss für die Betreuung ausländischer Kollegen entsandt werden sollte. Zum anderen wurde beschlossen, Materialen über die kommunistische und faschistische Unterwanderung durch ausländische Arbeitnehmer zusammenzustellen und allen Bundestagsabgeordneten zuzustellen». Sehr empfehlenswert sind auch die Beiträge in der Zeitschrift, die sich nicht mit dem Schwerpunktthema befassen. Auch dabei wird deutlich,
dass die Schweiz in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung eine wichtige Rolle spielte. So berichtet die Historikerin Miriam Sachse von einem Symposium, das sich mit der internationalen sozialistischen Frauenkonferenz 1915 in Bern befasste. Dabei betonte die Präsidentin der Schweizer Robert Grimm Gesellschaft, Monika Wick aus Zürich, dass die Konferenz, die in klarer Opposition zum sozialdemokratischen Kurs des Burgfriedens stand, auch männliche Unterstützer hatte. Dazu gehörte in der Schweiz Robert Grimm.

Arbeit – Bewegung – Geschichte.
Zeitschrift für historische Studien, Heft
1/2016, 230 Seiten, Bezug: www.metropolverlag.de

aus: vorwärts – 26. April 2016

http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/vorw1185.html

Peter Nowak

Sozialer Druck auf Senioren wächst

Senioren sind allerdings längst nicht nur die hilfebedürftigen Pflegefälle, die ansonsten nur noch für die Werbung interessant sind. In Ländern wie Spanien und Italien haben sich auch Senioren politisch engagiert. Vor einigen Jahren sorgten auch in Deutschland ältere Menschen, die ihre Seniorenbegegnungsstätte in der Stillen Straße [8] in Berlin-Pankow besetzten, um die drohende Schließung zu verhindern, und die Palisadenpanther [9], die massive Mieterhöhungen in einer Seniorenwohnanlage verhinderten, für Aufmerksamkeit. Der Druck auf die Senioren könnte auch dazu führen, dass solche Beispiele Schule machen.

http://www.heise.de/tp/news/Sozialer-Druck-auf-Senioren-waechst-3182050.html

Peter Nowak 23.04.2016

Links:

[1]

http://www.tagesspiegel.de/berlin/pflege-betrug-in-berlin-falsche-pflegefaelle-kosten-sozialkasse-50-millionen-euro/11530272.html

[2]

http://fachanwaelte-strafrecht-potsdamer-platz.de/de/news/arztstrafrecht-medizinstrafrecht/113-zahlreiche-ermittlungsverfahren-wegen-verdachtsfaellen-von-abrechnungsbetrug-bei-ambulanten-pflegediensten

[3]

http://www.tagesspiegel.de/berlin/pflege-betrug-in-berlin-falsche-pflegefaelle-kosten-sozialkasse-50-millionen-euro/11530272.html

[4]

http://www.focus.de/finanzen/altersvorsorge/staat-soll-fuer-sie-sorgen-zu-faul-zum-sparen-junge-menschen-wollen-zur-rente-gezwungen-werden_id_5458792.html

[5]

http://www.focus.de/finanzen/altersvorsorge/staat-soll-fuer-sie-sorgen-zu-faul-zum-sparen-junge-menschen-wollen-zur-rente-gezwungen-werden_id_5458792.html

[6]

http://www.fr-online.de/meinung/gastbeitrag-die-riesterrente-ist-ein-kolossaler-flop,1472602,29106408.html

[7]

http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2012/09/13/studie-beweist-riester-rente-war-ein-grosser-flop/

[8]

http://stillestrasse10bleibt.blogsport.eu/

[9]

http://palisaden-panther.blogspot.de/

Wer von Überwachung redet, darf vom Kapitalismus nicht schweigen

Eine Veranstaltungsreihe widmete sich einem in der überwachungskritischen Szene  vernachlässigtes Thema

„Die 1000 Augen der Jobcenter“   – so  lautete das Motto  einer Veranstaltungsreihe der   Berliner  überwachungskritischen               Gruppe Seminar für Unsicherheit (SaU) im März 2016. Damit hat die Gruppe einen wichtigen Aspekt in den Mittelpunkt von fünf Veranstaltungen gestellt, der in der überwachungskritischen Szene bisher unterbelichtet war. Vielen Menschen fallen beim Thema Überwachung noch immer vor allem Kameras im öffentlichen Raum sowie Telefon- und Internetdurchforschung ein.  Das zeigte sich an der Ausrichtung der großen Bündnisse, die in den letzten Jahren die Freiheit-statt-Angst-Demonstrationen organisieren. Die FDP gehört zu den Bündnispartner_innen und    so ist es auch nicht verwunderlich,  dass die Rettung  des Bankgeheimnisses zu den Forderungen der Überwachungskritiker_innen gehörte. Erwerbslosengruppen  gehörten nicht zu den Redner_innen auf den großen Demonstrationen. In den Aufrufen wurde mit der These mobilisiert, dass  Kontrolle und Überwachung „uns alle“ trifft. Diese Behauptung scheint auf den ersten Blick plausibel zu sein. Schließlich blickt das Auge der Kamera auf alle Passant_innen und auch viele andere Sicherheitsgesetze scheinen alle zu betreffen.  Auf den zweiten Blick wird aber deutlich, dass vor dem Sicherheits- und Überwachungsstaat eben nicht alle Menschen gleich sind.

Kein Bankgeheimnis für Hartz IV-Empfänger_innen

Schon lange bevor auch die Bankkonten der Vermögenden ins Blickfeld des Staates gerieten, wobei es meistens um den Vorwurf von Steuerhinterziehung und Geldwäsche geht, war für Sozialhilfeempfänger_innen und Erwerbslose das Bankgeheimnis abgeschafft. So müssen alle Antragsstellungen von Hartz IV-Leistungen, bei  denen es nicht nur um Erwerbslose sondern auch um Aufstocker_innen mit Teil- und Vollzeitarbeit handelt, zustimmen, dass die Behörden Einblick in  ihre Konten nehmen können. Die Kontrolle erstreckt sich auf die Wohnungen der Hartz IV-Empfänger_innen.  So  können sich  Sozialdetektiv_innen   in deren in Schlaf- und Badezimmer davon  überzeugen, ob die Angaben zu Bedarfsgemeinschaften, Wohnsituation etc. zutreffend sind. Wird den  Sozialdetektiv_innen  ein Zutritt zur Wohnung verweigert, kann das  Amit die Leistungen kürzen oder er ganz  streichen.

Zudem landen freiwillig und unwissentlich abgegebene Daten über Hartz IV-Bezieher_innen    in Computern der Arbeitsagenturen.  Dazu zählen die Ergebnisse der Profiling, mit denen die Betroffenen angeblich zur  besseren Jobvermittlung  viele auch sehr persönliche Angaben machen sollen. Zum Datenpool gehören auch alle Protokolle und Notizen, die sich die Behördenmitarbeiter_innen von den Besuchen mit den „Kund_innen“ machen, wie die Hartz IV-Empfänger_innen     im Amtsjargon genannt werden.   Dabei werden Personenprofile erstellt, mit denen amtsintern gearbeitet wird.  Wird die Person schnell nervös,  ist sie aufbrausend,  zurückhaltend,      unsicher?  Gilt sie als querulantisch?  Solche Beurteilungen geben Jobcentermitarbeiter_innen  die Möglichkeit, auf die Kund_innen ganz individuell zu reagieren. Da die in der Regel nicht wissen, was in den Protokollen steht, können sie auch nicht darauf reagieren. Seit einigen Jahren gibt es die Kampagne „Keine/r muss allein zum Amt“, wo  sich die Betroffenen beim Termin im Jobcenter von Personen ihrer Wahl begleiten lassen. Damit werden  zumindest tendenziell die  Ohnmachtsgefühle aufgehoben.

Datenschutz für das Jobcenter

Das ungleiche Machtgefälle hingegen bleibt bestehen Während die Ämter und ihre Mitarbeiter_innen über die Hartz IV-Empfänger_innen viele Daten haben, kennen die  „Kund_innen“ hingegen haben oft nicht einmal die Durchwahlnummern „ihrer“ Fallmanager_innen. Wenn sie beim Amt anrufen, landen sie in einer Telefonzentrale und damit meistens in der Sackgasse, weil ihr Anruf nicht an die Mitarbeiter_innen weitervermittelt wird, die die Anrufenden kontaktieren wollen. Genau das auch der Grund, warum aus den Behörden-Telefonnummern der Mitarbeiter_innen ein solches Geheimnis gemacht wird, dass auch juristisch durchgesetzt wird. Die Wuppertaler  Beratungsstell Tacheles  hatte Durchwahlnummern von  Jobcentermitarbeiter-innen  auf ihre Webseite gestellt und mussten sie nach Klagedrohungen der Agentur für Arbeit wieder                       runternehmen.  Auch die Fraktion der Berliner Piratenpartei, die danach die Telefonnummern veröffentliche,  musste sie nach Drohungen mit juristischen lagen  wieder entfernen. Das Berliner Landesamt für Datenschutz und Informationsfreiheit hatte die Piratenfraktion darauf hingewiesen, dass mit der e Veröffentlichung Datenschutzrichtlinien verletzen  werden könnten.   Besser kann man  gar nicht deutlich mache, wie sehr die Frage der Überwachung auch eine Frage von Machtgefälle und Klassenspaltung ist.   Während den    Hartz IV-Empfänger_innen sogar bis in den Schlafzimmern und in den Kühlschrank nachspioniert werden kann, sie ihre Kontobewegung von Anfang offen legen müssen,  wird schon die Veröffentlichung von  Dienstnummern der  Jobcentermitarbeiter_innen als Verletzung des Datenschutzes betrachtet.  Überwachung und   Kontrolle  betrifft also entgegen den Thesen vieler  Überwachungskritiker_innen  nicht alle gleich. „Wer von Überwachung redet, darf vom Kapitalismus nicht schweigen“  schreibt das Seminar für angewandte Unsicherheit. Aktive Erwerbslose aus unterschiedlichen Zusammenhängen waren an den Veranstaltungen beteiligt und zahlreiche Betroffene nahmen nicht nur an den Diskussionen teil. Sie hatten  viele konkrete Fragen und Gesprächsbedarf über ihre eigenen Erfahrungen mit Überwachung am Jobcenter.   Es ist zu hoffen, dass das  SaU mit der Veranstaltungsreihe Diskussionen in der überwachungskritischen Szene ausgelöst hat und es in Zukunft gemeinsame Aktionen gegen die gläsernen Hart IV-Empfänger_innen gibt.

aus: ak 615 vom 19.4.2016

https://www.akweb.de/

Peter Nowak

Klassenkampf am Campus

Beschäftigte des Botanischen Gartens an der FU Berlin bringen ihren Arbeitskampf  zurück in die Uni

Lang es ist es her, da verteilten linke Studierende vor den Fabriktoren Flugblätter, um die ArbeiterInnen zur Revolte oder gleich zur Revolution aufzurufen. In den letzten Wochen habensich Beschäftigte des Botanischen Gartens an Studierende und Asten gewandt. Sie suchen Unterstützung im Kampf gegen Outsourcing und Niedriglohn an der Freien Universität Berlin(FU). Letztere ist auch die Arbeitgeberin der Beschäftigten im Botanischen Garten, die in denletzten Wochen Vorreiter im Kampf gegen prekäre Arbeitsverhältnisse auf dem Campus geworden sind.Im Jahr 2003 wollte der Berliner Senat im Rahmen seiner Austeritätspolitik den Botanischen Garten schließen. Er war ihm schlicht zu teuer geworden. Proteste Tausender von GartenfreundInnen konnten die Schließung verhindern. Dafür wurde in der Folge bei den MitarbeiterInnen gespart. Im Jahr 2007 wurden Reinigung, Technik und Besucherservice von der „Betriebsgesellschaft für die Zentraleinrichtung Botanischer Garten und Botanisches Museum«, einer Tochtergesellschaftder FU, übernommen. Die Outgesourcten verdienen für dieselbe Arbeit bis zu72 Prozent weniger als ihre direkt bei der FU angestellten KollegInnen. Nun drohen weitere Verschlechterungen, weil die Arbeiten an noch billigere Fremdfirmen vergeben werden sollen. Betriebsbedingte Kündigungen für 31  Beschäftigte wären die Folge. Auf diese Weisekönnte auch eine Reihe  kritischer GewerkschafterInnen ihren Arbeitsplatz verlieren. Doch die wehren sich und haben damit einen Hauch von Klassenkampf auf den Campus zurückgebracht. Sie trugen ihren Protest in die Sitzungen der Hochschulgremien, tauchten unangemeldet bei Festveranstaltungen auf und führten mehrere Warnstreiks durch. Die erste Arbeitsniederlegung kam für die FU so überraschend, dass sie keine Ersatzarbeitskräfte anheuern konnten. So blieben an diesem Tag die Kassen unbesetzt und die BesucherInnen kamen in den Genuss eines Besuchs ohne Eintritt. Ende März eskalierte die Auseinandersetzung, nachdem die Geschäftsführung 22 der 50 Beschäftigten unter Fortzahlung der Bezüge von der Arbeit freistellen wollte. Der Betriebsrat hatte wegen des Arbeitskampfes dem Dienstplan für den Monat April nicht zugestimmt. Die zuständige ver.di-
Sekretärin Jana Seppelt sprach von Erpressermethoden. Tatsächlich versucht die Geschäftsführung, unterschiedliche rechtliche und soziale Situationen in der Belegschaft auszunutzen. Schließlich stimmte der Betriebsrat dem Dienstplan unter Protest zu, um keine Spaltungslinien aufzumachen. Ihren Kampf gegen das Outsourcing wollen die KollegInnen aber fortsetzen und haben neue Verbündete auch auf dem Campus gewonnen.
Bündnis mit Studierenden
In den vergangenen Wochen ist es ihnen gelungen, eine Debatte über Outsourcing anzuregen,das mittlerweile im öffentlichen Dienst zum Alltag gehört. Der Kanzler der FU, Peter  Lange,verteidigte sich mit dem Hinweis, dass überall an der Universität Tätigkeiten ausgelagert seien. Tatsächlich sind Hochschulen ein Labor der Prekarisierung in allen Bereichen, von der Reinigung bis zum Wissenschaftsapparat. Genau da setzen die Beschäftigten des BotanischenGartens an, unterstützt von der Dienstleistungsgewerkschaft  ver.di und der Berliner Aktiongegen ArbeitgeberInnenunrecht (Baga).  Mittlerweile wurde ein Solidaritätsbündnis gegründet, in dem auch  Studierendengruppenaus unterschiedlichen Berliner Hochschulen  mitarbeiten. Sie unterstützen den Kampf der KollegInnen vom Botanischen Garten und machen die Auseinandersetzung am Campus bekannt.Dabei  stellen sie auch den Zusammenhang zu den Arbeitsbedingungen der schlecht bezahltenWissenschaftlerInnen und wissenschaftlichen Hilfskräfte an den Hochschulen her. »Sie sind von den gleichen Methoden des Outsourcings betroffen wie die KollegInnen vom Botanischen Garten. Wenn ihr Kampf erfolgreich ist, wäre das auch für uns eineErmutigung«, begründet das Mitglied der studentischen Solidaritätsgruppe seine Unterstützung für die »Hartenvom Garten«, wie eine Berliner Zeitung die sich wehrenden Beschäftigten genannt hat. Die Betroffenen verstehen es als Lob.

https://berlineraktiongegenarbeitgeberunrecht.files.wordpress.com/2016/04/2016-04_nowak_klassenkampf-am-campus.pdf

aus: express Nr.04/2016
Peter Nowak
express im Netz unter:www.express-afp.info

Wer Erdogan als Diktator kritisiert, kann den Putschisten Al-Sisi trotzdem loben

Sigmar Gabriel in Ägypten: „Ich finde, Sie haben einen beeindruckenden Präsidenten“

„Ich finde, Sie haben einen beeindruckenden Präsidenten“. Diesen Satz wird Bundeskanzlerin Merkel bei ihrer Türkei-Visite wohl kaum auf dessen Präsidenten Erdogan gemünzt äußern. Doch Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, der  mit einer großen Wirtschaftsdelegation  in Ägypten weilte[1] , ließ sich die Phrase vom beeindruckenden ägyptischen Präsidenten entlocken.

Dass al-Sisi gegen eine demokratisch gewählte Regierung putschte, hat Gabriel wie ein großer Teil der sogenannten westlichen Welt dem Präsidenten nie übelgenommen. Schließlich war es eine Regierung der Moslembrüder, und da werden schon mal beide Augen zugedrückt, wenn dann demokratische Grundrechte beseitigt werden. Dass im Anschluss ein Massaker an größtenteils gewaltfrei demonstrierenden Gegnern des Putsches verübt wurde, ist ebenso vergessen wie die Massenfestnahmen von Oppositionellen jeglicher Couleur.

Unter al-Sisi ist Ägypten wesentlich repressiver als zu Zeiten von Sadat und Mubarak. Doch tote ägyptische Oppositionelle sind in der europäischen Öffentlichkeit kein Thema. Erst als ein italienischer Doktorand, der zur Geschichte der ägyptischen Gewerkschaftsbewegung arbeitete, vor einigen Wochen ermordet wurde, wurde in manchen Medien der ägyptische Staatsterror zum Thema. Gabriel blieb bei seinen Lob für al-Sisi ganz in der Tradition der deutschen Außenpolitik. Staatsterror und Diktatur waren nie ein Hinderungsgrund für ein gutes Verhältnis zu Deutschland.

Wichtig war, ob es ein Diktator ist, der die gemeinsamen Werte verteidigt oder nicht. Der Schah von Persien  gehörte lange Zeit zweifelsfrei zu den Diktatoren, die gemeinsame Werte  gemeinsam mit der Bonner Politik verteidigten. Daher war das Verhältnis zwischen deutschen und iranischen Politikern sehr innig.

So war es nur konsequent, dass auch satirische Kritik an den großen Freund von Westdeutschland unterbunden wurde. Ein Künstler wurde für eine  Karikatur  des iranischen Diktators Reza Pahlavi nach jahrelangem Prozess zu einer Geldstrafe verurteilt[2] Grundlage war übrigens der gleiche Paragraph 103, der nun beim Böhmermann-Erdogan-Konflikt plötzlich in die Schlagzeilen geraten ist.

Auch die argentinische Militärjunta stand in den 1970er Jahren auf Seiten des Westens und so sorgte auch der damalige Bundesaußenminister Genscher dafür, dass die Kritik an den verschwundenen Oppositionellen möglichst klein gehalten wird, selbst wenn sie wie im Fall von Elisabeth Käsmann[3] und Klaus Zieschank[4] deutsche Staatsbürger[5] waren.

„Er mag ein Schweinehund sein, aber er ist unser Schweinehund“

Für Politik und Justiz war damals klar, der Schah oder die lateinamerikanische  Generale  mögen keine großen  Freunde der Menschenrechte sein, aber sie standen  bedingungslos auf Seite des Wesens.  Da galt die in den USA gültige Devise. „Er ist ein Schweinehund sein, aber er  ist unser Schweinehund.“ Nach dieser Devise werden auch heute noch die Regenten in den verschiedenen Teilen der Welt sortiert. Deswegen ist das  Lob von Gabriel für den ägyptischen Diktator eigentlich Regierungsalltag.

Ungewöhnlich ist, dass er sich nun dafür rechtfertigen muss, weil die Erdogan-Debatte doch zeitlich so dicht dran liegt. Da fragen sich manche Journalisten, warum die SPD in der Erdogan-Debatte Merkel den Kotau vor einen Diktator vorgeworfen hat. Da wird dann schon mal angemerkt, dass im Vergleich zum ägyptischen Amtskollegen Erdogan noch als autoritärer Demokrat durchgehen kann.

Nur sagt niemand, warum hier scheinbar unterschiedlich gewichtet wird. Während der ägyptische Präsident,  wie einst der Schah[6],  sich nur mit Unterstützung aus dem Ausland an der Macht halten kann und die Unterstützung im Inland nur schwach ist, kann sich Erdogan auf eine eigene Machtbasis, die islamisch geprägte neue Bourgeoisie, in der Türkei stützen. Diese Machtbasis gibt ihm auch die Möglichkeit wesentlich unabhängiger gegenüber den  unterschiedlichen Akteuren im Ausland zu agieren.

So ist eben Erdogan kein Erfüllungsgehilfe von Deutschland oder anderer Staaten. Er und die hinter ihm stehenden Kräfte haben eine eigene politische Agenda, die sich in wesentlichen Punkten von den Interessen der EU und Deutschlands unterscheiden. Also kann er nicht als „unser Schweinehund“ gelten. Erdogan wurde vielmehr von verschiedenen europäischen Politikern bedeutet,  er solle die Migranten von der Festung Europas fernhalten und sich sonst gefälligst nicht in die Politik der EU-Staaten einmischen. Dass Erdogan sich in diese Rolle nicht fügen will, ist ein zentraler Grund für den Streit der letzten Tage.

Diktator oder Vorbild eines illiberalen Herrschers

Nun sind es nicht nur Politiker wie Gabriel, die hier in öffentliche Widersprüche geraten, wenn sie einmal lautstark die Meinungsfreiheit für Böhmermann verteidigen und im nächsten Moment den ägyptischen Diktator loben. Auch in rechten Kreisen weiß man nicht so recht, ob man Erdogan als islamistischen Diktator verdammen soll, der jetzt sogar noch in Deutschland mitbestimmen will, was erlaubt ist, oder ob man ihn nicht als Vorbild eines illiberalen Herrschers eigentlich loben müsste.

Wäre Erdogan kein Moslem, würde er sicher auch bei der AfD und Pegida als großes Vorbild hingestellt wie Putin und der ungarischen Ministerpräsidenten  Orban. Denn auch in Erdogans Herrschaftsbereich gilt, was man an Russland und Ungarn in rechten Kreisen so lobt.  Dort gilt noch die traditionelle Geschlechterordnung, Kinder und Jugendliche haben zu gehorchen und vor den Obrigkeiten hat man Respekt zu zeigen. Dass auch auf religiöse Zucht und Ordnung geachtet wird, ist den Rechten auch sehr angenehm.

Nur  vertritt Erdogan eben eine Religion, die die Rechten zum Feindbild erkoren haben und so müssen sie ihn nach außen zumindest verdammen. Doch der von Taz lancierte Aprilscherz, dass die AfD Erdogan nach Berlin  zur Wahlkampfunterstützung  einlädt[7], wurde zunächst in rechten  Kreisen durchaus ernst genommen und stieß auch nicht gleich auf Ablehnung.

Zudem  müssen die Rechten nun mit einem  Böhmermann fremdeln, der für sie als liberaler Kunst für vieles steht, was sie hassen.  Der neurechte Publizist Jürgen Elsässer hat das rechte Dilemma  im Streit Böhmermann/Erdogan benannt:

Politisch gesehen sind mir Böhmermann und Erdogan fast gleich unsympathisch. Der eine ist Arsch, der andere ist ärscher. Aber ich werde den Teufel tun, mich über ihr Gemächt oder ihre sexuellen Vorlieben auszulassen, und würde Genderboy Böhmermann dringend empfehlen, nicht aus dem Glashaus heraus mit Steinen zu werfen.

Dass Elsässer und Erdogan den gleichen Anwalt haben und der auch den Holocaustleugner David Irving[8] verteidigt hat, hat seinen Grund eben nicht einfach darin, dass es ein bekannter Anwalt ist. Es gibt linke und rechte Szeneanwälte.

So kann auch an einem Detail wie der Anwaltswahl manchmal besser als in der  Polemik im  politischen Alltagsgeschäft deutlich werden,  welche politischen Kräfte eigentlich mehr miteinander zu tun haben, als es auf den ersten Blick scheint.

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48016/1.html

Anhang

Links

[1]

http://www.bmwi.de/DE/Presse/pressemitteilungen,did=763414.html

[2]

http://www.taz.de/!5295982/

[3]

http://www.welt.de/politik/deutschland/article128745445/Warum-rettete-Genscher-deutsche-Studentin-nicht.html

[4]

https://www.jungewelt.de/2016/03-24/050.php

[5]

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/die-bravouroese-ard-dokumentation-das-maedchen-12972669.html

[6]

http://www.heise.de/tp/news/Ist-Al-Sisi-der-Schah-2015-2678765.html

[7]

http://www.taz.de/fileadmin/static/pdf/Rada_VonStorchhofftaufKalifen.pdf

[8]

http://www.spiegel.de/thema/david_irving/(http://www.spiegel.de/thema/david_irving/

Bewährungsstrafe für „III. Weg“-Funktionär

Der Brandenburger Neonazi Maik Eminger wurde wegen Volksverhetzung zu einer Strafe auf Bewährung sowie zu gemeinnütziger Arbeit und einer Geldbuße verurteilt.

Das Landgericht Potsdam hat am Dienstag Maik Eminger zu einer Bewährungsstrafe von drei Jahren wegen Volksverhetzung verurteilt. Zudem muss der Neonazi 50 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten und eine Strafe von 150 Euro an die Flüchtlingshilfsorganisation pro Asyl zahlen. Gegenstand der Anklage war eine Rede auf einer NPD-Kundgebung im Februar 2014 in Bad Belzig. Sie endete mit dem Bekenntnis. „Ein Schwarzer kann aus naturgesetzlichen Gründen niemals Deutscher sein, auch wenn er hier geboren ist oder er einen deutschen Pass hat. Wenn eine Katze zufällig in einer Hundehütte geboren wird, wird sie auch nicht zum Hund.“ Den Historiker Götz Dickmann, der als einziger Zeuge bei der Verhandlung gehört wurde,  erinnerten diese Passagen an die Diktion der NSDAP.

„Sie haben der die Menschenwürde anderer ganz erheblich verletzt. Und das gewollten sie auch“, sprach die Richterin den Angeklagten direkt an.  Eminger ist wichtiger Funktionär der Partei „Der III. Weg“, die der Verfassungsschutz als „strikt neonationalsozialistisch“ klassifiziert. Im vergangenen Jahr hat Eminger den Stützpunkt Potsdam-Mittelmark der braunen Kleinstpartei gegründet. Die Neonazi-Partei macht in verschiedenen Bundesländern gegen die Einrichtungen von Flüchtlingsunterkünften mobil. Zudem ist Eminger im Neonazi-Netzwerk „Gefangenenhilfe“ aktiv, das als Nachfolgeorganisation der 2011 verbotenen „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene“ (HNG) eingestuft wird.

Der Verteidiger des Angeklagten bezweifelte zunächst die Glaubwürdigkeit des Zeugen. Nachdem vor Gericht ein Mitschnitt der inkriminierten Rede  eingespielt wurde, und damit an  Wortlaut und der Diktion  kein Zweifel mehr möglich war, stellte der Jurist infrage, dass sein Mandat der Redner gewesen sei.  Schließlich  habe Eminger einen Zwillingsbruder, der ebenfalls seit Jahren in der rechten Szene aktiv ist und es in den letzten Jahren sogar zu bundesweiter Bekanntheit brachte. Er gehört zu den fünf Angeklagten im Münchner NSU-Prozess. Die Ermittler werden ihm Unterstützung   einer terroristischen Vereiinigung und Beihilfe zu verschiedenen Straftaten des NSU vor.

http://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/bew-hrungsstrafe-f-r-iii-weg-funktion-r

Peter Nowak

Kommunikationsguerilla rückt der Bundeswehr zu Leibe

Beim Adbusting werden Werbeplakate beklebt, bemalt und dabei satirisch verändert. Lieblingsziel der Adbuster ist derzeit das deutsche Militär

Die Bundeswehr wirbt in diesen Wochen mit einer gigantischen Plakatkampagne um Rekruten. Doch einige Menschen greifen nun zur Waffe der Gegenpropaganda.

»Deutschlands Freiheit wird auch im Cyberraum verteidigt«, heißt es in großen Lettern auf der Plakatwand. Wesentlich kleiner kann man erfahren, wer diese Botschaften in der Öffentlichkeit verbreitet. Es ist die Bundeswehr, die auf diese Weise Arbeitskräfte sucht. »Mach, was wirklich zählt« – dieses Motto findet sich in Zeitungsanzeigen ebenso wie auf den unterschiedlichen Plakaten im öffentlichen Raum wieder, mit denen sich die Bundeswehr als moderner Arbeitgeber präsentieren will. Lange Zeit brauchte sie sich nicht um Arbeitskräfte sorgen. Doch seitdem die Wehrpflicht in Deutschland am 1. Juli 2011 ausgesetzt wurde, fehlt bei der deutschen Armee der Nachwuchs. »Junge Menschen fragen heute immer mehr nach dem Sinn ihrer Arbeit und was ihnen diese neben einem Einkommen eigentlich bringt. Darauf haben wir in der Bundeswehr starke Antworten«, sagt der Pressebeauftragte für die aktuelle Werbekampagne, Dirk Feldhaus, auf der Homepage der Bundeswehr.

Doch einige junge Menschen wollen von propagandistischen Vereinnahmungsversuchen nichts wissen. Sie stellen den Sinn der Institution Bundeswehr als Ganzes in Frage und greifen zum Mittel der Gegenpropaganda. So wurde die Werbung der Bundeswehr bereits Ziel für vielfältige Adbusting-Aktionen, wie die Veränderung oder das Entfernen von Werbebotschaften im Bewegungsjargon genannt wird. Die Bandbreite ist groß. Manchmal werden Plakate überklebt oder übermalt, manchmal satirisch verändert. So findet man nun anstelle der Bundeswehrwerbung die folgende Mitteilung: »Hier wurde ein Bundeswehrplakat entfernt.«

Erst Anfang April sind Unbekannte in mehreren Berliner Stadtteilen auf diese Weise der Bundeswehrwerbung zu Leibe gerückt. In einer über die Netzzeitung »Indymedia« verbreiteten Erklärung wurde von einer Schlacht der »Kommunikationsguerilla« mit der Öffentlichkeitsabteilung der Bundeswehr gesprochen. »Vater Staat warnt uns vor den gesundheitlichen Folgen des Zigarettenkonsums. Genauso sehen wir uns in der Verantwortung, unsere Mitbürger_innen vor diesem visuellen Angriff zu schützen und vor den Risiken und Nebenwirkungen ausbeuterischer Konflikte zu warnen«, begründeten die unbekannten Aktivisten ihre Aktion im Netz.

Cornelia Mannewitz von der größten deutschen antimilitaristischen Organisation »Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner« (DFG-VK) sieht Adbusting als Teil der antimilitaristischen Praxis. Das bloße Entfernen oder Übermalen der Plakate sieht sie allerdings kritisch. Besser findet Mannewitz »ein pfiffiges Verfremden« und verweist auf ein von ihrer Organisation erstelltes Plakat. Dort wurde ein Motto der Bundeswehr – »Mach, was wirklich zählt« – genutzt, um die Toten des Kriegseinsatzes in Afghanistan zu zählen. Mannewitz sieht in solchen Adbusting-Aktionen mehrere Pluspunkte, um junge Menschen für eine antimilitaristische Kritik zu interessieren: »Bilder sowie ihre Verfremdungen treffen kurze, einprägsame Aussagen und sind auch gut im Netz weiterzuverbreiten.«

Für den 11. Juni plant die Bundeswehr einen deutschlandweiten Aktionstag. Auch bei diesem »Tag der Bundeswehr« wird die Rekrutenwerbung im Mittelpunkt stehen. Mannewitz hofft, dass im Vorfeld die Aktionen noch zunehmen. Strafrechtliche Verfolgung haben die Aktivisten im Moment kaum zu befürchten, denn die Bundeswehr selbst verspricht auf einem ihrer Werbeplakate vollmundig: »Wir kämpfen auch dafür, dass du gegen uns sein kannst.« Und das meint sie offensichtlich ernst. »Wir sehen bislang keinen Anlass, Strafanzeigen zu erstatten«, sagte der Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums, Jörg Franke, gegenüber »nd«. Die Bundeswehrplakatkampagne habe zum Ziel gehabt, »provokative Denkanstöße« auszulösen. Nun sorgten die Adbusting-Aktionen für Kontroversen, die wiederum dazu beigetragen haben, die Bundeswehrkampagne bekannter zu machen.

Peter Nowak

Das Proletariat wird transnational

Neue Publikationen beschäftigen sich mit linken Betriebsinterventionen in Europa infolge des Aufbruchs von 1968. Die länderübergreifende Solidarität in Arbeitskämpfen war damals programmatisch.

»Mit seinem Ketzerbuch ›Abschied vom Proletariat‹ ist er nun überraschend aus der St.-Marx-Kirche ausgetreten«, spottete der Spiegel 1981 über den linken französischen Soziologen André Gorz. Das Buch wurde damals vor allem bei der vom Aufbruch von 1968 geprägten Linken zum Bestseller und sein Titel zum Programm. Denn nun konnte manch altgedienter Maoist auch theoretisch begründen, warum sein Bemühen, die Fabrikarbeiter für die Revolution zu gewinnen, keinen Erfolg gehabt hatte. Von Gorz ist vielen heute nur »Abschied vom Proletariat« bekannt. Die Bücher, in denen er Brücken zwischen der alten Arbeiterbewegung und dem Aufbruch der Neuen Linken nach 1968 schlagen wollte, sind hingegen fast vergessen. Sie trugen ebenso programmatische Titel wie »Die Aktualität der Revolution« und »Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus«.

Klassenkampf überall. Eine Demonstration der Gruppe »Lotta Continua« in Mailand, Anfang der siebziger Jahre

Klassenkampf überall. Eine Demonstration der Gruppe »Lotta Continua« in Mailand, Anfang der siebziger Jahre (Foto: www.lalottacontinua.it)

Es könnte sein, dass die heute nur noch antiquarisch erhältlichen Bücher bald wieder stärkere Beachtung finden. In den vergangenen Jahren haben jüngere Historiker den lange vergessenen dissidenten Strömungen der Arbeiterbewegung Aufmerksamkeit gewidmet. Diese hatten in der Forschung zuvor höchstens in den Fußnoten Erwähnung gefunden. Konzentrierte sich die Forschung auf die großen Arbeiterparteien und Gewerkschaften, widmet man sich jetzt der Rätebewegung und untersucht die zahlreichen Gruppen, die sich weder der Sozialdemokratie noch dem Parteikommunismus zurechneten.

Kürzlich ist die erste Ausgabe der Zeitschrift für historische Studien „Arbeit Bewegung Geschichte“ mit dem Schwerpunktthema »Linke Betriebsintervention, wilde Streiks und operaistische Politik 1968 bis 1988« im Metropol-Verlag erschienen. Die Zeitschrift ist aus dem »Jahrbuch für Forschung zur Geschichte der Arbeiterbewegung«, das seine Wurzeln in der DDR hatte, hervorgegangen. Vor allem der transnationale Charakter der Betriebsinterventionen sei in der historischen Forschung bisher kaum beachtet worden, schreibt der Berliner Historiker Dietmar Lange von der Redaktion von „Arbeit Bewegung Geschichte„. Dabei habe es vor allem nach 1969 einen regen Austausch unter den linken Gruppen diverser europäischer Länder gegeben.

Neben dem Pariser Mai sei der heiße Herbst 1969 in Italien ein wichtiges Schlüsseldatum gewesen.Damit ist ein Zyklus von Kämpfen und Streiks gemeint, die ganz Italien erfasst hatten. Diese Auseinandersetzung wurde von Linken in Europa mit besonderem Interesse wahrgenommen, weil in Italien für einige Monate Realität wurde, was sich viele von ihnen in anderen Ländern vergeblich erhofften: Ein relevanter Teil der Lohnabhängigen beteiligte sich mit militanten Demonstrationen, Streiks und Fabrikbesetzungen an den gesellschaftlichen Kämpfen. Bereits 1969 kam es zu ersten Vernetzungstreffen linker Gruppen, Gewerkschaften und Solidaritätsinitiativen aus verschiedenen Ländern. Dabei wurden Fragen diskutiert, die erstaunlich aktuell scheinen. »Forciert wurde die Kontaktaufnahme nicht nur durch die geographische Nähe, sondern durch die zu dieser Zeit wachsenden Herausforderungen, wie die wachsende Kapitalverflechtung, die zunehmende Migration von Arbeitskräften und die zunehmende Integration im Rahmen des gemeinsamen europäischen Marktes«, schreibt Dietmar Lange. Er hat bei seinen Forschungen in italienischen Archiven einige bisher weitgehend unbekannte Quellen über diese transnationale Vernetzung erschlossen.

Das erste Treffen fand in Rom statt. Daran beteiligten sich Vertreter linkssozialistischer Gruppen und Parteien, die seit 1968 entstanden waren und sich weder dem Traditionskommunismus noch der Sozialdemokratie zuordnen wollten. Auch die beiden in Italien zeitweise einflussreichen linken Gruppen Lotta Continua und Autonomia Operaia, die sich auf unterschiedliche Fraktionen der dissidenten Linken bezogen, suchten und festigten ihre internationalen Kontakte. 1971 war in Zürich ein Koordinationsbüro eröffnet worden, das sich dem Aufbau einer länderübergreifenden Solidarität mit streikenden Betrieben widmen sollte. Zu der wichtigsten Aktivität dieses Büros gehörte eine im April 1973 in Paris veranstaltete Konferenz zur Situation in der europäischen Automobilindustrie. Dort war es zu spontanen Streiks gekommen. Als Protagonist der Kämpfe wurde auf der Konferenz der »multinationale Massenarbeiter« ausgemacht. Damit waren vor allem an- und ungelernte Beschäftigte an den großen Montagebändern gemeint, die oft aus andere Landesteilen oder Ländern zugewandert waren. So spielten in den italienischen Fabrikkämpfen ungelernte Beschäftige aus Süditalien eine zentrale Rolle.

Über die Pariser Konferenz sind viele Details bekannt, weil Lange in den Archiven einen verschollen geglaubten Bericht gefunden und übersetzt hat. Demnach haben sich Automobilarbeiter aus Frankreich, Großbritannien, Italien und der Schweiz an der Konferenz beteiligt. Aus Deutschland waren Beschäftigte der Kölner Ford-Werke, von VW aus Rüsselsheim, Volkswagen aus Hannover und BMW aus München beteiligt. Die Teilnehmer widerlegten die in den bürgerlichen Medien verbreitete These, dass die »italienische Krankheit«, wie die Zunahme der Kämpfe in Italien von Politik und Wirtschaft genannt wurde, nicht auch für andere Länder Bedeutung erlangen könnte. So hätten sich Sabotage und Absentismus, wie das Verlassen des Arbeitsplatzes genannt wurde, auch bei VW-Hannover und bei BMW-München verbreitet.

Doch es wurde auch offen über die Schwierigkeiten und Probleme gesprochen, die einer schnellen Ausbreitung der Arbeitskämpfe in ganz Europa im Wege standen. »Es gibt zu viele Schutzvorrichtungen, politische Stauräume, Ventile zum Dampfablassen, die das Gesamtkapital mit allen seinen produktiven und institutionellen Gliederungen in Bewegung setzen kann«, lautete die Einschätzung in dem Protokoll. »Unter diesen Voraussetzungen kann eine internationale Vereinheitlichung des Arbeiterverhaltens nur in dem Tempo und nach dem Interesse der Bosse vonstatten gehen«, so das wenig optimistische Fazit. Das war für die Konferenzteilnehmer gleichzeitig ein Plädoyer für den Aufbau einer einheitlichen kommunistischen Organisation, die sie Gesamtprojekt nannten.

Doch die Phase der linken Fabrikinterventionen fand ein rasches Ende. »Nur kurze Zeit nach der Konferenz in Paris vollzog ein Großteil der beteiligten Gruppen einen Richtungswechsel und löst sich auf«, schreibt Lange. Auch sein Interviewpartner Karl-Heinz Roth, der damals in diesen Kämpfen eine wichtige Rolle spielte, konnte im Gespräch wichtige Hinweise auf die Hintergründe geben, die nicht nur zur Auflösung des Zürcher Büros, sondern auch zum Zusammenbruch der transnationalen Betriebssolidarität führten. Er erinnerte an Berichte von Teilnehmern der Pariser Konferenz, die sich damals neuen Konzernstrategien widmeten, mit denen das Konzept des kämpferischen Massenarbeiters untergraben wurde. »Diese Prophezeiung des heraufziehenden Postfordismus stand als Menetekel an der Wand des Kongresses«, so Roth. Der lange Abschied der Linken vom Proletariat nahm hier seinen Anfang.

In den vergangenen Jahren gab es neue Versuche, eine transnationale Streiksolidarität aufzubauen. Dafür stehen die Streiks bei Amazon ebenso wie die Migrant Strikers oder die Oficina Precaria Berlin, zwei Initiativen, in denen sich spanische und italienische Arbeitsmigranten in Berlin organisieren. So dürfte das Schwerpunktthema von Arbeit Geschichte Bewegung nicht nur historisches Interesse wecken. Im Vorwort weisen die Herausgeber auf Parallelen zwischen ihrem Forschungsthema und heutigen Auseinandersetzungen hin: »Dazu gehören die bedeutende Rolle von Migranten und Migrantinnen, die Thematisierung der Gesundheit der Arbeiter und Arbeiterinnen sowie der Wohn- und Lebensverhältnisse im Stadtteil.«

Am 30. Mai um 19 Uhr diskutieren in Berlin im Buchladen Schwarze Risse (Mehringhof) Dietmar Lange, Redakteur von »Arbeit Bewegung Geschichte«, und Mitglieder der Basisgewerkschaft IWW über Betriebssolidarität damals und heute.

Peter Nowak

http://jungle-world.com/artikel/2016/15/53836.html
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Berlin:

Diskussionsveranstaltung:

30.Mai 2016, 19 Uhr, Buchladen Schwarze Risse, Gneisenaustr. 2a.

Ist der lange Abschied vom Proletariat zu Ende?

Gespräch über die Geschichte und Aktualität linker Betriebsinterventionen
Mit  Dietmar Lange, Historiker und Mitherausgeber der Zeitschrift Arbeit
Bewegung Geschichte und Mark Richter  Mitglied der IWW*

Moderation Peter Nowak,  Journalist und Herausgeber des Buches „Ein Streikt seht, wenn mensch ihn selber macht“

In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Arbeit Bewegung Geschichte

(http://www.arbeiterbewegung-jahrbuch.de/?p=536)  werden heute weitgehend
unbekannt Details über eine länderübergreifende Koordinierung der linken
betrieblichen Interventionen vorgestellt. Darunter ist ein Bericht über eine Pariser Konferenz von Beschäftigten aus dem Automobilsektor aus mehreren europäischen Ländern im April 1973. Dietmar Lange wird  einen Überblick über den Versuch einer transnationalen linken
Betriebsintervention geben und auchdie Probleme benennen. Waren sie der Grund für den langen Abschied vom Proletariat vieler linker Gruppen? In den letzten Jahren sind Solidarität mit Streiks und anderen betrieblichen Kämpfen wieder Gegenstand linker Initiativen geworden.
Unter dem Titel „Direct Unionism“- Strategie für erfolgreiche Basisgewerkschaften auf der Höhe der Zeit“ veröffentlichte die IWW kürzlich ein Diskussionspapier

(https://de.scribd.com/doc/283876879/Direct-Unionism-Strategie-fur-erfolgreiche-Basisgewerkschaften-auf-der-Hohe-der-Zeit),
in das Erfahrungen mit Arbeitskämpfen in prekären Sektoren einflossen. Mark Richter aus Frankfurt am Main wird die dort vertretenen Thesen zur Diskussion stellen.

Breiten sich die französischen Sozialproteste auch in Deutschland aus?