»Die Konflikte polarisierten zum Teil über Jahre«

Der Historiker David Templin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Kürzlich hat er im Wallstein-Verlag unter dem Titel »Freizeit ohne Kontrollen« ein Buch herausgeben, das die Geschichte der Jugendzentrumsbewegung in den siebziger Jahren der Bundesrepublik beleuchtet. Mit Templin sprach die »Jungle World« über den Kampf um und die Bedeutung von Jugendzentren damals und deren Wandel bis heute.

Sie haben sich in Ihrem Buch »Freizeit ohne Kontrollen« der Geschichte der westdeutschen Jugendzentrumsbewegung gewidmet. Warum ist diese von Historikern bisher weitgehend ignoriert worden?

In den Fokus der Zeitgeschichtsforschung geraten gesellschaftliche Phänomene zumeist erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand, bei staatlichen Archiven etwa gilt eine Sperrfrist von 30 Jahren. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass erst jetzt die siebziger und achtziger Jahre »entdeckt« werden. Erstaunlicher ist, dass auch die politik- und sozialwissenschaftliche Bewegungsforschung die Proteste für selbstverwaltete Jugendzentren weitgehend ausgeblendet hat. Möglicherweise war die Bewegung aufgrund ihres lokalen Charakters für die Forschung fast unsichtbar – im Unterschied etwa zur Anti-Atomkraft-, Frauen- oder Friedensbewegung.

Sie stellen die These auf, dass mit der Jugendzentrumsbewegung Ideen und Praktiken der Achtundsechziger-Bewegung in die Provinz kamen. Hat also die Achtundsechziger- die Jugendzentrumsbewegung stark beeinflusst?

Wie auch andere soziale Bewegungen der siebziger Jahre hatten die Jugendzentrumsinitiativen ihre Wurzeln in der Achtundsechziger-Revolte. Zum Teil lassen sich direkte Verbindungen ausmachen, etwa wenn sich Schüler- oder Lehrlingsbasisgruppen um 1970 in JZ-Initiativen transformierten. Die Jugendzentrumsbewegung war im Unterschied zur Studentenbewegung aber ein Phänomen, das sich überwiegend in Klein- und Mittelstädten abspielte. Die Bewegung trug die politisch-kulturellen Aufbrüche in den suburbanen oder ländlichen Raum und schuf dort Räume für alternative Musikkulturen, für jugendlichen Nonkonformismus und linke Politik. Jugendliche in der westdeutschen »Provinz« griffen so die Impulse aus den Groß- und Universitätsstädten auf und entwickelten eigene Formen.

Ein wichtiger Impuls für die Achtundsechziger-Bewegung in Westdeutschland war die nachträgliche Entnazifizierung. Kämpften auch die Jugendzentrumsaktivisten gegen das Erbe des NS in der »Jugendpflege«?

Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus spielte eine geringere Rolle, als man vermuten dürfte. Vielerorts wurden bereits Angehörige jüngerer Generationskohorten in die kommunalen Verwaltungen und Stadtparlamente eingezogen. Auch waren bereits in den sechziger Jahren neue Formen informeller Freizeitgestaltung von der westdeutschen Jugendpflege aufgegriffen und in die expandierende offene Jugendarbeit integriert. In den Kleinstädten waren allerdings noch die klassischen Vereine und Verbände tonangebend. Die Jugendlichen brachen den gesellschaftlichen Konsens auf, indem sie eigene Räume für sich reklamierten und sich weigerten, sich in die vorgegebenen Strukturen einzuordnen. Sicherlich gab es noch ältere »Stadtväter« mit NS-Vergangenheit, die autoritär alle Initiativen abblockten. Es gab aber auch frühere Nazis, die sich mit paternalistischem Gestus aufgeschlossen gegenüber »ihrer Jugend« zeigten – wie der Tübinger Oberbürgermeister Hans Gmelin, der in der Slowakei an der Judenvernichtung mitgewirkt hatte. Er war der einzige Bürgermeister, der mit dem Epple-Haus eine Hausbesetzung direkt legalisierte.

Eine wichtige Quelle Ihrer Forschungsarbeit sind zwei Fernsehsendungen. Warum wandte sich das Fernsehen den Interessen der Jugendlichen zu?

Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten hatten bereits um 1968 versucht, mit dem Geist der Zeit zu gehen und die Impulse der Jugend aufzugreifen. Dafür boten sie engagierten Journalisten Raum, mit neuen Sendeformaten zu experimentieren. Ein Ergebnis waren die Fernsehsendungen »Jour fix« und »Diskuss«, die zwischen 1971 und 1974 in der ARD ausgestrahlt wurden und intensiv über JZ-Initiativen berichteten. Die Sendungen hatten einen explizit politischen Anspruch. Ihre Macher betrieben Lobbyarbeit für die Bewegung und trugen dazu bei, dass die vielen lokalen Initiativen überhaupt als Teil einer Bewegung wahrgenommen wurden.

Viele JZ-Betreiber klagten über die unpolitischen Besucher, die die Einrichtungen nur zur Unterhaltung nutzten. Ist die Selbstverwaltung der Jugendzentren an einer wachsenden Eventkultur gescheitert?

Das wäre zu einfach. Richtig ist, dass die Aktivistinnen und Aktivisten, die meist nicht älter als 16 bis 20 Jahre waren, sich nach der erfolgreichen Eröffnung eines Zentrums vielerorts überfordert zeigten. Das lag daran, dass die Häuser zahlreiche Jugendliche anzogen, die den politischen Anspruch der Initiatoren nicht teilten und die vor allem einen Freiraum vom Elternhaus suchten, etwa um Gleichaltrige kennenzulernen, Musik zu hören oder Alkohol zu konsumieren. Der Bewegung war von Anfang an der Widerspruch inhärent, vor dem Hintergrund gewachsener Freizeitbudgets und Konsummöglichkeiten einerseits mehr Selbstverwirklichung einzufordern und andererseits mit einem politisch-pädagogischen Impetus eine »sinnvolle Freizeitgestaltung« und »emanzipatorische Jugendarbeit« anzumahnen. Die darin bereits angelegte Kluft, etwa zwischen Musik und Politik, zwischen »Aktiven« und »Passiven« oder zwischen einer »Polit-« und einer »Pilsfraktion«, trieb viele Zentren in eine innere Krise. Hinzu kamen Angriffe seitens der Politik und der Medien, die kommunistische Umtriebe witterten und das »Experiment Selbstverwaltung« für gescheitert erklärten. Über Nutzungsverträge und Finanzmittel saßen die Kommunen am längeren Hebel.

Warum ist es selten gelungen, die Unterschiede zwischen Jugendlichen aus der Mittelschicht und der Arbeiterklasse in den Zentren zu überwinden, obwohl unterschiedliche linke Gruppen beteiligt waren, die sich das zum Ziel gesetzt hatten?

Vor dem Hintergrund eines bis Mitte der siebziger Jahre vorherrschenden marxistischen Diskurses waren von den Jusos bis zu den ML-Gruppen alle bestrebt, die Arbeiterklasse zu organisieren. Doch die meisten dieser politischen Gruppen setzten sich größtenteils aus Studierenden und Gymnasiastinnen und Gymnasiasten zusammen. Der Anteil von Lehrlingen in den Initiativgruppen betrug durchaus rund 20 Prozent. Die linke politische Kultur der siebziger Jahre war aber eine Kultur der Mittelschicht, geprägt von intellektuellen Diskursen und dem Primat der Theorie. Diejenigen Jungarbeiterinnen und Jungarbeiter, die sich ihr anpassten, strebten nicht selten über den »zweiten Bildungsweg« einen sozialen Aufstieg an. Viele der Lehrlinge und jungen Arbeitenden, die in die Zentren kamen, hatten aber schlicht keinen Bock auf das »Gelaber« in den Vollversammlungen. Unterschiedliche soziale Realitäten, die sich nicht voluntaristisch überwinden ließen, prallten aufeinander.

Welche gesellschaftspolitischen Wirkungen hat die JZ-Bewegung erreicht?

Sie verankerte alternative Lebensstile in den Klein- und Mittelstädten. Selbst in Dörfern wurden von Jugendzentren oppositionelle »Dorfzeitungen« herausgegeben, die die Anliegen der damaligen sozialen Bewegungen in die lokale Öffentlichkeit trugen. Die Konflikte um selbstverwaltete Jugendzentren polarisierten Kleinstädte zum Teil über Jahre. Mit der Bewegung konnte sich die offene Jugendarbeit, die bereits in den sechziger Jahren stark ausgebaut worden war, endgültig auch in der »Provinz« durchsetzen. Die Form der Selbstverwaltung blieb dagegen ein Randphänomen. Die hohen Ansprüche der frühen Bewegungsjahre – über die Selbstorganisation in den Zentren auch die Selbstorganisation in den Betrieben voranzutreiben – erwiesen sich schnell als Illusionen.

Ein Teil der in den siebziger Jahren entstandenen Jugendzentren existiert noch immer. Sind es Relikte aus einer vergangenen Zeit oder gehen von ihnen noch politische Impulse aus?

Vor wenigen Tagen durchsuchte die Polizei das UJZ Kornstraße in Hannover mit dem Vorwurf, es habe die PKK unterstützt. Das Zentrum wurde 1972 gegründet, trotz finanzieller Förderung kam es seitdem immer wieder zu Konflikten mit der Stadt. Das ist nur ein Beispiel, dass es sich bei der Geschichte selbstverwalteter Jugendzentren nicht um ein abgeschlossenes Kapitel handelt. Gleichzeitig existiert der Großteil der mehreren Hundert Zentren, die in den siebziger Jahren entstanden sind, mittlerweile nicht mehr oder wurde in kommunale Verwaltung überführt. Dutzenden von ihnen gelang es aber, sich vor Ort zu etablieren. Und in den vergangenen 30 Jahren entstanden immer wieder neue Räume, auch wenn von einer Bewegung keine Rede mehr sein kann.

Könnte Ihre Arbeit ähnliche Forschungen über Jugendzentren in anderen Ländern anregen?

Das ist zu hoffen. Allerdings wäre zunächst zu klären, ob es sich bei selbstverwalteten Jugendzentren nicht um ein spezifisches Phänomen mittel- beziehungsweise nordeuropäischer Gesellschaften handelte. So gab es von Westdeutschland aus etwa Kontakte in die Niederlande, nach Dänemark, in die Schweiz oder Österreich, aber kaum nach Frankreich, Großbritannien oder Osteuropa. Insgesamt waren transnationale Verbindungen im Vergleich zu anderen sozialen Bewegungen schwach ausgeprägt. Spannend wäre es, die italienischen Centri Sociali, die ebenfalls auf die siebziger Jahre zurückgehen, zu erforschen und nach Ähnlichkeiten und Differenzen mit den westdeutschen Jugendzentren zu fragen.

http://jungle-world.com/artikel/2016/07/53518.html

Peter Nowak