Trennung nach Religionen?

Für Hagen Berndt ist der Glaube von Flüchtlingen nicht die Ursache von Gewalt in Heimen

Hagen Berndt ist als Konfliktberater beim Forum Ziviler Friedensdienst e.V. tätig und Mitverfasser einer Stellungnahme, die sich gegen die Trennung von Geflüchteten nach Religion und Ethnie wendet. Mit ihm sprach für »nd« Peter Nowak.

In der Nacht zu Dienstag kam es in einer Berliner Flüchtlingsunterkunft zu einer Schlägerei unter Schutzsuchenden – eine von mehreren in den vergangenen Wochen. Oft werden religiöse Streitigkeiten als Auslöser ausgemacht. Worin sehen Sie die Ursachen?
Konflikte sind Teil allen menschlichen Zusammenlebens. Gewalt tritt jedoch dann auf, wenn die Beteiligten keine andere Möglichkeit sehen, ihre Interessen zu wahren oder ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Dass sich Konflikte in Flüchtlingsunterkünften immer wieder gewaltsam entladen, ist einer extremen Stresssituation geschuldet. Die Flüchtlinge haben vor oder während der Flucht dramatische Erlebnisse erfahren. Starke emotionale Angespanntheit ist verbunden mit großen Hoffnungen auf ein neues Leben. Sie leben dann auf engem Raum mit vielen Menschen. Es herrscht Konkurrenz um Raum und Ruhe, Essen, Kleidung, Chancen und Perspektiven. Rückzugsmöglichkeiten und sinngebende Beschäftigung fehlen. Der Aufenthalt in Deutschland ist nicht gesichert, vielleicht droht schon bald die Abschiebung und erneute Lebensgefahr.

Warum lehnen Sie die von manchen Politikern geforderte Trennung der Flüchtlinge nach ihrer Religion ab?
Die Konflikte verlaufen gar nicht entlang religiöser Trennlinien. Doch Konfliktakteure ziehen gerne religiöse, ethnische oder andere Zugehörigkeiten heran, um Selbst- und Feindbilder aufzubauen und eigenes Handeln zu rechtfertigen, um eigene Interessen durchzusetzen. Diese Konfliktmechanismen können aber nicht durch getrennte Unterbringung durchbrochen werden. Vielmehr würden die falschen Argumente dadurch erst akzeptiert. Ich lehne die getrennte Unterbringung auch deshalb entschieden ab, weil eine Differenzierung, um scheinbar miteinander »harmonisierende« Gruppen zu erzeugen, unmöglich ist und nicht zum Frieden beiträgt. Sie würde den Boden für neue Ressentiments bereiten, für das Gefühl der eigenen Benachteiligung bzw. der Bevorzugung anderer.

Wieso?
Getrennte Unterkünfte würden Debatten zwischen den Kommunen und in der einheimischen Bevölkerung provozieren, wer nun welche »nette« oder »problematische« Flüchtlingsgruppe zugeteilt bekommt. Sie würde außerdem die Botschaft vermitteln, dass ein friedliches Zusammenleben nicht möglich ist und dass Religion und Ethnie das Problem sind. Diese Botschaften sind falsch und hoch gefährlich. Es ist wissenschaftlich längst widerlegt, dass Religionszugehörigkeiten die Ursache von Konflikten wären. Es ist problematisch, dieses Vorurteil nunmehr von politischer Seite zu bestätigen.

Wäre es nicht für einen von Islamisten verfolgten Geflüchteten ein Schutz, wenn er nicht wieder mit Islamisten in einer Unterkunft zusammen leben muss?
Diese Frage legt nahe, dass alle Muslime Islamisten wären. Islamismus ist eine politische Ideologie, die sich der Religion bedient, um Macht auszuüben. Gerade viele muslimische Flüchtlinge zum Beispiel aus Syrien und Irak fliehen auch vor der Gewalt der Islamisten. Eine nach Religionszugehörigkeit getrennte Unterbringung nähme die Bedürfnisse vieler Flüchtlinge nicht ernst, sich von Ideologien abzugrenzen, die in ihrer Herkunftsregion zu Vertreibung und Krieg führen. Sie würde diese Menschen mit dem Segen unseres Staates erst den Islamisten ausliefern.

Welche Lösung schlagen Sie zur Beilegung der Konflikte vor?
Es muss einer Lageratmosphäre von Flüchtlingsunterkünften entgegengewirkt werden. Es gilt, ruhige Rückzugsräume und Orte der Begegnung bereitzustellen, geflüchteten Menschen ein Mindestmaß an Selbstbestimmung zu ermöglichen und persönliche Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung zu erleichtern. Maßnahmen der Psychologischen Ersten Hilfe, um die Betroffenen emotional zu stärken, ein besonderer Schutz für Kinder und alleinstehende Frauen sowie die verbindliche Einführung von Mindeststandards zur Prävention sexualisierter Gewalt wären notwendig. Die Kompetenzen von Haupt- und Ehrenamtlichen zur gewaltfreien Konfliktbearbeitung müssen entwickelt werden. Parallel zur Sorge für die Flüchtlinge müssen die Bemühungen zur Integration sozial benachteiligter Menschen generell verstärkt werden, um deutlich zu machen, dass die Integration der Flüchtlinge nicht auf Kosten der Schwachen in unserer Gesellschaft geschieht.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/988599.trennung-nach-religionen.html

Peter Nowak

Von Amazon bis Zwangsräumung

Im polnischen Poznań diskutierten Linke, Basisgewerkschafter und Operaisten Anfang Oktober über transnationale Streiks und gemeinsame Strategien.

»Block Austerity« steht auf dem Transparent im großen Saal des Stadtteilzentrums Amarant in der westpolnischen Stadt Poznań. Etwa 150 Menschen diskutierten hier unter dem Motto »Dem transnationalen Streik entgegen« neue Ansätze der Vernetzung. Das Ziel der Konferenz ist es, über bestehende Grenzen und Regionen hinweg den Austausch zwischen Arbeits- und sozialen Kämpfen zu vertiefen. Neben klassischen Arbeitskämpfen im Betrieb soll der soziale Streik zudem die Auseinandersetzung um Miete und Wohnraum umfassen.

Zu den Organisatoren gehörten Initiativen wie die Angry Workers aus Großbritannien und Aktivisten sozialer Zentren Italiens. In Deutschland hatten vor allem die Interventionistische Linke und das Blockupy-Netzwerk für die Teilnahme an der Konferenz geworben.

Dass Poznań in letzter Zeit in den Fokus sozialer Initiativen aus ganz Europa gerückt war, ist vor allem der Inicjatywa Pracownicza (IP, Arbeiterinitiative) zu verdanken. Die polnische anarchosyndikalistische Gewerkschaft hatte im Spätherbst vergangenen Jahres zahlreiche Beschäftigte des am Rande der Stadt eröffneten Zentrums des Internethändlers Amazon organisiert. Im Juni initiierte die IP erstmals eine gemeinsame Solidaritätsaktion mit den streikenden Amazon-Beschäftigten in Deutschland und Mitte September tauschten sich etwa 30 Amazon-Beschäftigte, vor allem aus Polen und Deutschland, in Poznań über die Koordinierung transnationaler Arbeitskampfstrategien aus. Bei vergangenen Streiks in Deutschland wurden Bestellungen häufig an polnische Versandzentren weitergeleitet.

Mitglieder der operaistischen Angry Workers berichteten von ihrer Arbeit in Warenhäusern im Londoner Osten. Im Unterschied zu gewerkschaftlichen Ansätzen geht es den Angry Workers vor allem darum, von den Problemen der Beschäftigten und ihrem Umgang damit zu erfahren und Konflikte auch zuzuspitzen. Eine gewerkschaftliche Repräsentation lehnt die Gruppe aber ab. In ihrer Zeitung Workers Wild West berichten sie regelmäßig über lokale Konflikte an Arbeitsplätzen und werben für Kooperation.

Heiner Köhnen vom deutschen Zweig des basisgewerkschaftlichen Netzwerkes TIE betont im Gespräch mit der Jungle World, man habe in den vergangenen 15 Jahren gute Erfahrungen bei der Stärkung basisgewerkschaftlicher Ansätze gerade in multinationalen Konzernen gemacht. Das weltweite Netzwerk beschäftigt sich unter anderem mit Forschung zu sozialen Bewegungen, Arbeitsorganisation und -kämpfen und bietet Schulungen für Betriebsräte an. Es orientiere sich in der Gewerkschaftsfrage an den Interessen der Beschäftigten, doch zu seinen Grundsätzen gehöre die Förderung von Selbstorganisation, auch gegen Gewerkschaftsapparate, so Köhnen.

Mit Blick auf Brasilien berichtet er, dass ein von mehr als 11 000 Beschäftigten geführter kämpferischer Streik mit einer korporatistischen Lösung beendet wurde. Comanagement sei aber nicht nur ein Problem der traditionalistischen Gewerkschaftspolitik. Probleme der Organisierung seien auch auf die Umstrukturierung der Arbeitsprozesse zurückzuführen. So seien für die Kontrolle im Arbeitsprozess oft nicht mehr Chefs oder Vorarbeiter, sondern scheinbar unabhängige Marktmechanismen verantwortlich. Da fehle der Gegner, an dem sich Konflikte entzünden und radikalisieren könnten. »Es ist attraktiv, sich als Teil eines Teams oder einer Betriebsfamilie zu verstehen. Von diesem Druck zum Korporatismus können sich auch Kollegen nicht freimachen, die als linke Gewerkschafter dagegen angetreten sind«, sagt Köhnen. Es geht um die Frage, inwieweit durch die Änderungen der Arbeitsorganisation forcierte Bedingungen dem Handeln basisorientierter und hierarchiefreier Gewerkschaften Grenzen setzen.

Zahlreiche Konferenzteilnehmer aus Deutschland sind durch die Blockupy-Proteste für Arbeitskämpfe und gewerkschaftliche Themen sensibilisiert worden. Ein Berliner Blockupy-Mitglied betont: »Die wesentlich von Deutschland ausgehende Austeritätspolitik kann nicht nur mit Blockaden und Großdemonstrationen bekämpft werden.« Politisiert und mobilisiert werden die Menschen durch »wichtige Alltagskämpfe«, wie etwa Konflikte am Arbeitsplatz und Widerstand gegen Zwangsräumungen und Vertreibung aus Stadtteilen.

Am 31. Mai vergangenen Jahres wurde im Rahmen der europäischen Blockupy-Aktionstage der Geschäftsbetrieb von Bekleidungsläden auf der Frankfurter Zeil einen Tag lang lahmgelegt, dabei wurden die schlechten Arbeitsbedingungen der Beschäftigten ebenso thematisiert wie die internationalen Ausbeutungsverhältnisse in der Bekleidungsindustrie. Damals kooperierten die Protestierenden auch mit der Belegschaft einer Filiale, die an jenem Tag für höhere Löhne streikte. Doch die Zusammenarbeit mit den Beschäftigten war zeitlich begrenzt, ein längerfristiger Kontakt entstand nicht.

Der Aufruf zum europäischen Generalstreik, der 2013 vom außerparlamentarischen M31-Netzwerk initiiert worden war, sollte genau diese Vernetzung auf transnationaler Ebene weiter vorantreiben. Die Initiative war unter dem Eindruck eines großen Streiks in verschiedenen südeuropäischen Ländern entstanden und dann wieder versandet. Das mag vor allem daran gelegen haben, dass die Kontakte zu potentiell kämpferischen Belegschaften bei den Initiatoren des Aufrufs zu wenig ausgeprägt waren.

Ein zentrales Merkmal vieler derzeitiger Kämpfe ist die Selbstorganisation der Beschäftigten, die von Gewerkschaften teilweise unterstützt, aber nicht angeleitet wird. Ein Beispiel für diese neuen Kämpfe ist der Konflikt der Beschäftigten mit der Lebenshilfe Frankfurt/Main. Seit Sommer vergangenen Jahres kämpfen sie für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen bei der Pflege und Betreuung behinderter Menschen. Vor einigen Wochen wurde Paul L., ein gewerkschaftlich aktiver Mitarbeiter, entlassen. In einer der Arbeitsgruppen berichtete er in Poznań über den Arbeitskampf bei der Lebenshilfe als Beispiel für einen sozialen Streik. Bei einer Protestkundgebung Mitte September während eines Fests der Lebenshilfe waren Symbole der DGB-Gewerkschaften GEW und Verdi ebenso vertreten wie die schwarzroten Fahnen der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU). Anschließend gab es eine Demonstration durch den Stadtteil Bornheim, wo außerdem auf den Zusammenhang von Hartz IV, Niedriglohn, Mietschulden und Zwangsräumungen hingewiesen wurde. Das Beispiel zeigt, dass in kleineren Betrieben oder Belegschaften soziale Streiks oft einfacher möglich und schneller realisierbar sind als in Großbetrieben.

Doch gerade kleinere Streiks sind schwieriger auf ein internationales Niveau zu heben. Initiativen wie das Euromarsch-Netzwerk, das bereits seit fast 20 Jahren europaweit gegen Prekarisierung aktiv ist, nehmen sich dieses Problems an.

Die Schaffung einer politischen Plattform wurde in Poznań kontrovers diskutiert. Vier Grundforderungen – nach einem europäischen Mindestlohn, einem europäischen Grundeinkommen, europäischen Sozialleistungen und einer Mindestaufenthaltserlaubnis für Geflüchtete – sind die inhaltliche Basis des Bündnisses. Konkrete Pläne gibt es bereits für einen transnationalen Migrantenstreik am 1. März 2016 und eine noch nicht länderübergreifende Amazon-Karawane, für die bisher kein Termin feststeht. Unklar sind auch noch Ort und Datum der nächsten europaweiten Blockupy-Aktionstage.

http://jungle-world.com/artikel/2015/42/52833.html

Peter Nowak

Es geht nicht um die Abfindung


NEUKÖLLN MieterInnen luden zur Begehung dreier von Abriss bedrohter Genossenschaftshäus

„Wiedervermietung sofort“ stand auf einem Transparent, das am Samstagmittag an einem Balkon in der Heidelberger Straße 15–18 in Neukölln hing. Rund 40 Menschen hatten sich zur Hausbegehung eingefunden. Sie wollten damit die 12 verbliebenen Mietparteien unterstützen. Die Genossenschaft  (WBV) hatte im März 2015 den Abriss der 1960 errichteten Gebäude beschlossen. Er sei kostengünstiger als eine Sanierung, lautete die Begründung. Am Samstag zeigte sich, dass ein Teil der MieterInnen den
Auszug weiterhin strikt ablehnt. Es geht nicht um die Abfindung NEUKÖLLN MieterInnen luden zur Begehung dreier von Abriss bedrohter Genossenschaftshäuser. „Die WBV hat uns eine Umsatzwohnung und 2.000 Euro angeboten. Darauf lasse ich mich nicht ein. Ich will in der Wohnung bleiben, die ich mir eingerichtet habe“, erklärte Mieter Norbert Sandmann gegenüber der taz. Er gehört zu den BewohnerInnen, die bereits bei Bekanntgabe des Abrissbeschlusses durch die WBV protestierend den Raum verlassen hatten. Auch eine 79-jährige Bewohnerin, die seit 1960 hier wohnt, ist nicht zum Umzug bereit. Es gehe ihnen nicht um eine höhere  Entschädigung, sondern um den Erhalt des Wohnraums, betonen die MietrebellInnen. Dieses Anliegen teilt die Stadtteilinitiative Karla Pappel, die die MieterInnen seit Monaten unterstützt. Sie hatte am Samstag mit zur Begehung aufgerufen. Dazu öffneten drei Mietparteien  ihre Wohnungen für Interessierte. „Wir wollen zeigen, dass die Argumente der WBV für den Abriss nicht stimmen“, erklärte eine Mieterin. Die
Genossenschaft begründet ihn mit Baufälligkeit. Die verbliebenen MieterInnen und ihre UnterstützerInnen betonen, dass mit einer Renovierung dringend gebrauchter preiswerter Wohnraum erhalten bleiben könne. Bei einem Neubau würde die Miete, die jetzt unter 5  Euro netto liegt, auf 8,50 Euro steigen. Eine Mieterin, die auch zu den Vertreterräten gehört, die in der WBV eine Aufsichtsfunktion haben, verteidigte am Samstag den Abrissbeschluss. Der Protest komme viel zu spät. Zudem hätten MieterInnen aus anderen WBV-Häusern Interesse am Einzug in den geplanten Neubau bekundet. Mitglieder der Initiative „Genossenschaft von unten“ monierten, dass sich mit der WBV eine Genossenschaft an der Vernichtung preiswerten Wohnraums beteilige und die MieterInnen gegeneinander
ausspiele.
Taz-Berlin,19.10.2015
Peter Nowak

„Die Konflikte verlaufen nicht nach religiösen oder ethischen Trennlinien“

Hagen Berndt über Konflikte in Flüchtlingsunterkünften

Es gibt Politiker und sogenannte besorgte Bürger, die Unterkünfte von Geflüchteten unter Dauerbeobachtung nehmen und Betragensnoten für die Bewohner verteilen. Falls es dann tatsächlich mal zu von manchen sehnsüchtig erwarteten Auseinandersetzungen in den Unterkünften kommt, reagieren sie mit dem Gestus, wir haben es ja immer schon gesagt. Diese Menschen passen nicht hier.

Ein scheinbar auch für die Geflüchteten vorteilhafter Vorschlag wird von Politikern verschiedener Parteien in die Diskussion gebracht, nämlich die Trennung der Geflüchteten nach Religion und Ethnie. Doch Wissenschaftler und Publizisten, die sich mit dem Thema Flucht und Migration beschäftigten, lehnen diese Vorschläge eindeutig ab.

„Eine nach religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit getrennte Unterbringung von Flüchtlingen ist politisch wie gesellschaftlich inakzeptabel“, heißt es in einer Stellungnahme[1] zahlreicher Fachleute. Zu den Initiatoren gehört Hagen Berndt[2]. Er ist als Konfliktberater beim Forum Ziviler Friedensdienst e.V.[3] tätig und Mitverfasser der Stellungnahme[4], die sich gegen die Trennung von Geflüchteten nach Religion und Ethnie wendet.

Die Forderung, Geflüchtete nach Religionen zu trennen, wird von verschiedenen Politikern getroffen. Warum lehnen Sie eine solche Trennung ab?

Hagen Berndt: Die Konflikte in den Flüchtlingsunterkünften verlaufen gar nicht entlang religiöser Trennlinien. Doch Konfliktakteure ziehen gerne religiöse, ethnische oder andere Zugehörigkeiten heran, um Selbst- und Feindbilder aufzubauen, Unterstützung zu mobilisieren und eigenes Handeln zu rechtfertigen, um eigene Interessen durchzusetzen. Diese Konfliktmechanismen können aber nicht durch getrennte Unterbringung durchbrochen werden. Vielmehr würden die falschen Argumente dadurch erst akzeptiert. Ich lehne die getrennte Unterbringung auch deshalb entschieden ab, weil eine Differenzierung, um scheinbar miteinander „harmonisierende“ Gruppen zu erzeugen, unmöglich ist und nicht zum Frieden beiträgt. Sie würde den Boden für neue Ressentiments bereiten, für das Gefühl der eigenen Benachteiligung bzw. der Bevorzugung anderer.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Hagen Berndt: Sie würde Debatten zwischen den Kommunen und in der einheimischen Bevölkerung provozieren, wer nun welche „nette“ oder „problematische“ Flüchtlingsgruppe zugeteilt bekommt. Sie würde außerdem die Botschaft vermitteln, dass ein friedliches Zusammenleben nicht möglich ist und dass Religion und Ethnie das Problem sind: Werden die Religionen und Ethnien getrennt, ist das Problem „gelöst“. Diese Botschaften sind falsch und hoch gefährlich. Die Annahme ist wissenschaftlich längst widerlegt, dass Religionszugehörigkeiten die Ursache von Konflikten wären. Es ist problematisch, dieses Vorurteil nunmehr von politischer Seite zu bestätigen.

In den letzten Wochen gab es immer wieder Meldungen von Auseinandersetzungen in Unterkünften von Geflüchteten auf Grund von religiösen Streitigkeiten. Worin sehen Sie die Ursachen?

Hagen Berndt: Konflikte gehören zum menschlichen Zusammenleben. Gewalt tritt jedoch dann auf, wenn die Beteiligten keine andere Möglichkeit sehen, ihre Interessen zu wahren oder ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Dass sich Konflikte in Flüchtlingsunterkünften immer wieder gewaltsam entladen, ist einer extremen Stresssituation geschuldet. Die Flüchtlinge haben vor oder während der Flucht dramatische Erlebnisse erfahren. Starke emotionaler Angespanntheit ist verbunden mit großen Hoffnungen auf ein neues Leben. Sie leben dann auf engem Raum mit vielen Menschen aus aller Welt. Es herrscht Konkurrenz um Raum und Ruhe, Essen, Kleidung, Chancen und Perspektiven. Rückzugsmöglichkeiten und sinngebende Beschäftigung fehlen. Der Aufenthalt in Deutschland ist nicht gesichert, vielleicht droht schon bald die Abschiebung und erneute Lebensgefahr.

Haben die Konflikte in Flüchtlingsunterkünften zugenommen oder nur der Blick darauf?

Hagen Berndt: Gewalt – insbesondere sexualisierte Gewalt – in Sammelunterkünften ist nichts Neues, in den letzten Wochen wurde nur häufiger darüber berichtet. Nach der großen Hilfsbereitschaft wurde erwartet, dass Flüchtlinge sich dankbar erweisen. Aber grundlegende menschliche Bedürfnisse lassen sich nicht verdrängen und ihre Befriedigung ist unveräußerliches Menschenrecht.

Wäre es nicht für einen von Islamisten verfolgten Geflüchteten ein Schutz, wenn er nicht wieder mit Islamisten in einer Unterkunft zusammen leben muss?

Hagen Berndt: Diese Frage legt nahe, dass alle Muslime Islamisten wären. Islamismus ist eine politische Ideologie, die sich der Religion bedient, um Macht auszuüben. Gerade viele muslimische Flüchtlinge aus Syrien fliehen auch vor der Gewalt der Islamisten. Eine nach Religionszugehörigkeit getrennte Unterbringung nähme die Bedürfnisse vieler Flüchtlinge nicht ernst, sich von Ideologien abzugrenzen, die in den Konflikten ihrer Herkunftsregionen zu Gewalt, Unterdrückung, Vertreibung und Krieg führen. Sie würde diese Menschen mit dem Segen unseres Staates erst den Islamisten ausliefern.

Es gibt Versuche von in Deutschland lebenden Islamisten, Geflüchtete zu werben. Wie soll damit umgegangen werden?

Hagen Berndt: Berichte der Sicherheitsbehörden zeigen, dass diese Versuche nicht sehr erfolgreich sind. Es wäre auch erstaunlich, wenn Menschen, die vor dem Wahnsinn im Nahen Osten geflohen sind, sich hier dafür erwärmen könnten. Das Mobilisierungspotenzial für Islamisten liegt vielmehr in sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen und unter entsprechend ideologisierten Studenten.

http://www.heise.de/tp/druck/mb/artikel/46/46291/1.html

Links

[1]

http://ello.co/stellungnahme_fluechtlingspolitik

[2]

http://www.hagenberndt.de/

[3]

http://www.forumzfd.de/

[4]

http://www.forumzfd.de/Stellungnahme_Fluechtlinge

»Kämpfende Hütten«

Ausstellung zur Geschichte der Berliner Mieterbewegung

»Kampf den Mieterhöhungen« lautete die sehr aktuelle Schlagzeile. Doch die Zeitung, in der sie zu finden ist, ist bereits 45 Jahre alt. Die »Märkische Viertel Zeitung« (MVZ) existierte von Juni 1969 bis Juli 1973 als Sprachrohr der Mieterbewegung im Märkischen Viertel. Über diese weitgehend in Vergessenheit geratenen Berliner Mietrebellen informiert die Ausstellung »Kämpfende Hütten«, die noch bis zum Sonntag im TheaterSpielRaum im Südflügel des Bethanien zu sehen ist. Vorbereitet wurde sie von ehemaligen Hausbesetzern, Aktivisten aktueller Mietkämpfe sowie Studierenden, die sich mit den Themen Mieten und Wohnraum beschäftigen.

Sie haben weitgehend unbekannte Details der Geschichte der Berliner Mieterbewegung ausgegraben. So sorgte schon im Juli 1872 die Zwangsräumung eines Schusters für tagelange Unruhen, die als Blumenstraßenkrawalle in die Geschichte eingingen. In der Endphase der Weimarer Zeit riefen in den Arbeiterstadtteilen Mieterräte mit der Parole »Erst das Essen, dann die Miete« zum Mietboykott auf.

Auch über die Westberliner Hausbesetzerbewegung der 1980er Jahre holen die Ausstellungsmacher vergessene Einzelheiten an die Öffentlichkeit. So widmen sich mehrere Tafeln der starken Rolle von Migranten in der Mieterbewegung. Türkische und kurdische Frauen gründeten im Februar 1981 in der besetzten Kottbusser Straße 8 den Treff- und Informationsort für Frauen aus der Türkei (TIO). In der Forster Straße hatten im November 1980 migrantische Familien zahlreiche Wohnungen besetzt und dann Mietverträge bekommen. Auch heute sind migrantische Gruppen im Kampf gegen Zwangsräumungen und im Widerstand gegen Verdrängung aktiv, wie die Ausstellung an verschiedenen Beispielen der letzten Monate zeigt. So wird die Bizim-Bakal-Bewegung erwähnt, die im Kampf für den Erhalt eines gekündigten Gemüseladens in Kreuzberg entstanden ist.

Bis 18.10.,TheaterSpielRaum im Südflügel des Bethanien,  Kreuzberg; kaempfendehuetten.blogsport.eu

https://www.neues-deutschland.de/artikel/987897.kaempfende-huetten.html

Petr Nowak

Von Norwegen bis Ungarn

Rechtspopulisten sind in Europa auf dem Vormarsch und gefährden unsere Demokratie

Die ultrarechte FPÖ verdoppelte am 27. September 2015 bei den Landtagswahlen in Oberösterreich ihr Stimmergebnis, In Frankreich gelingt es dem Front National trotz interner Streitigkeiten, weitgehend die politische Agenda zu bestimmen. Auch in den skandinavischen Ländern Norwegen, Finnland und Schweden verzeichnen ul-trarechte Parteien Stimmenzuwachs und nehmen Einfluss auf die Innenpolitik. Der ungarische Ministerpräsident will mit seiner Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge Vorbild für die europäische Rechte sein.

Angesichts dieser besorgniserregenden Entwicklung ist es erfreulich, wenn Politikwissenschaftler und Journalisten sich ernsthaft mit der Strategie und Taktik rechter Parteien befassen wie in diesem Buch, das der Leiter des Referats Internationale Politikanalyse der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung Ernst Hillebrand herausgab. Auch der größte Teil der knapp 20 Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen europäischen Ländern gehört dem sozialdemokratischen Spektrum an.

Im ersten Teil werden rechtspopulistische Bewegungen aus zehn Ländern kurz vorgestellt, darunter neben dem Front National und der FPÖ auch weniger bekannte wie die einflussreiche Dänische Volkspartei (DF), die aus einer Abspaltung der Freiheitspartei hervorging, eine der ersten rechtspopulistischen Parteien in Europa, sowie die Schweizer Volkspartei (SVP), die sich um eine Gratwanderung zwischen Nationalkonservatismus, Rechtspopulismus und knallharter neoliberaler Politik bemüht. Interessant ist der Blick auf den osteuropäischen Rechtspopulismus. So versucht in Tschechien Andrej Babis mit seiner Aktion Unzufriedener Bürger (ANO) das langjährige Erfolgsrezept von Silvio Berlusconi in Italien zu kopieren. Ausführlich wird auf das Zusammenspiel zwischen den regierenden Rechtspopulisten und den oppositionellen Neonazis in Ungarn eingegangen. In Polen könnte nach den nächsten Wahlen ebenfalls eine rechtspopulistische Partei den Ton angeben, wird gewarnt.

Im zweiten Teil des Buches geht es um die politische Bewertung des europäischen Rechtspopulismus. Der Publizist Christoph Guilluy betont, dass der Front National in Frankreich von vielen Arbeitern gewählt werde, obwohl deren Wirtschaftspolitik auf der Linie von Ronald Reagan und Margaret Thatcher liegt. Dies bestätigt die Einschätzung des Herausgebers im Vorwort: »Der Abfluss von aus einfachen Verhältnissen stammenden Wählern zu den Rechtspopulisten droht die Machtperspektive für die linke Mitte dauerhaft zu schwächen. Für die konservativen Parteien – dies zeigt eine Vielzahl von rechten Koalitionsregierungen unter Einschluss oder Duldung von Rechtspopulisten, von Österreich über die Niederlande bis Dänemark – eröffnen sich dagegen neue Koalitionsperspektiven.«

Ein wichtiges Buch, das jedoch leider mitunter die verstaubte Theorie von den Extremen rechts wie links wieder ausgräbt.

Ernst Hillebrand (Hg.): Rechtspopulismus in Europa. Gefahr für die Demokratie?

J.H.W. Dietz. 192 S., br., 16,90 €.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/987507.von-norwegen-bis-ungarn.html

Peter Nowak

Gräber der Freiheit?

Wie hielt und hält es die Linke mit der Gewalt, fragt Hendrik Wallat

Der Philosoph und Sozialwissenschaftler Hendrik Wallat hat bereits mehrere Bücher herausgegeben, in denen er die in Deutschland verschüttete Tradition einer linken Bolschewismuskritik wieder aufnahm. Dabei stützte er sich auf libertäre, linksozialistische sowie links- und rätekommunistische Quellen. Mit dem neuen Buch setzt er diese wichtige Arbeit fort.

Wie ein roter Faden durchzieht die Publikation die Frage, wann die Oktoberrevolution und die von ihr ausgehende weltweite linke Bewegung ihren emanzipatorischen Anspruch verloren haben und wo die Gründe dafür lagen. Neben dem Herausgeber Wallat, der in seinem Aufsatz Albert Camus’ Stellung zur Gewaltfrage untersucht, versuchen sich sieben Sozialwissenschaftler, Philosophen und Historiker an einer »historisch-philosophischen Annäherung an die Gewaltfrage in Emanzipationsbewegungen«.

Dieser im Klappentext formulierte Anspruch wird auf hohem wissenschaftlichem Niveau eingelöst. Oskar Negt erinnert an das tragische Leben und Sterben des langjährigen Bolschewiki Nikolai Bucharin, den auch seine Selbstbeschuldigungen im Interesse der Partei nicht vor der Hinrichtung durch den stalinistischen Terrorapparat bewahren konnten. Sebastian Tränkle beschäftigt sich mit der Reaktion von progressiven Intellektuellen auf verschiedene Phasen revolutionärer Gewalt in der Geschichte; dabei untersucht er auch die Auseinandersetzung von Heinrich Heine, Immanuel Kant, Georg Büchner und Georg Wilhelm Hegel mit dem Terror der Französischen Revolution. »Wie lange sollen die Fußstapfen der Freiheit Gräber sein?« Diese Frage zitiert Büchner in seinem bekannten Drama »Dantons Tod« aus der Verteidigungsrede seines Protagonisten.

Diese Frage stellten sich auch spätestens seit Beginn des stalinistischen Terrors viele Linke, darunter überzeugte Kommunisten. Tränkle befasst sich ausführlich mit den Schriften von Arthur Koestler, der mit dem Roman »Sonnenfinsternis« zu einem der bekanntesten antistalinistischen Literaten wurde. Auch Koestlers weniger bekannter Roman »Die Erlebnisse des Genossen Piepvogel in der Emigration« wird erörtert; er spielt in einem von einem jüdischen Hilfskomitee nach den Prinzipien der Egalität und antiautoritären Erziehung geleiteten Kinderheim, in dem in den 1930er Jahren Emigrantensprösslinge aus dem kommunistischen Milieu Zuflucht vor den Nazis gefunden hatten. Kern der Geschichte ist die Stigmatisierung eines Kindes, das seinen Heißhunger auf Schokoladenpudding nicht zügeln kann und die Portionen seiner Mitbewohner aufisst. Daraufhin wurde es vom Heimkollektiv als »Schädling« ausgeschlossen und der Verachtung preisgegeben. Tränkle sieht in der Erzählung des damals noch parteitreuen Kommunisten Koestler ein Grundproblem angesprochen, das zum stalinistischen Terror führte. Es geht um die Denunziation individueller Wünsche und Begierden zugunsten eines Kollektivs, dem sich der Einzelne bedingungslos unterzuordnen hatte.

Mit dem fast siebzigseitigen Aufsatz »Sozialrevolutionäre versus reaktionäre Gewalt« des Frankfurter Soziologen Detlev Claussen wird dankenswerterweise an einen Grundlagentext zur linken Gewaltdebatte in den 1980er Jahren erinnert. Einige Beiträge im Buch sind leider in einem sehr akademischen Stil verfasst, was die Lektüre erschwert. Das gilt besonders für Ingo Elbes Studie über den NS-Staatsrechtler Carl Schmitt sowie für Gerhard Schweppenhäusers Aufsatz über die Gewalt in den Theorien der Frankfurter Schule. Philippe Kellermann untersucht die Rolle der Gewalt in der anarchistischen Bewegung und stellt hier die konträren Ansichten von Johann Most, Enrico Malatesta und Pierre Ramus vor.

Deplatziert erscheint Wallats Schelte der »linksautoritären Meisterdenker« Alain Badiou und Slavoj Zizek, »die von ihrem Philosophenthron aus erneut das revolutionäre Opfer und die Gewalt des Mobs beschwören«. Gerade von diesen beiden Autoren hätte man gern Texte gelesen.

Hendrik Wallat (Hg.): Gewalt und Moral.
Eine Diskussion der Dialektik der Befreiung.
Unrast. 284 S., br., 18 €.

Peter Nowak

„Das Monster darf nicht sauber zurücktreten“

Mit dem Strafrecht gegen regressive Israelkritik?

Über Folgen der Besatzung sollte hart gestritten werden, das Strafrecht ist dabei aber ein untaugliches Mittel

Der Oberbürgermeister von Jena, Albrecht Schröter [1], scheint mit seinem Amt nicht ausgelastet. Er geriert sich als Weltpolitiker und landet dann bei der Israelkritik. Bereits 2012 geriet er in die Kritik, weil er einen Pax Christi-Aufruf zur Forderung nach Kennzeichnung von Waren aus israelischen Siedlungen in den palästinensischen Gebieten unterzeichnet [2] hat.

Allerdings ging in der aufgeregten Debatte etwas unter, dass Schröter mitnichten einen generellen Boykott israelischer Waren, sondern nur eine in vielen EU-Ländern geforderte Kennzeichnungspflicht für Waren aus Siedlungen in den besetzten Gebieten forderte. Es bliebe dann jedem Kunden selbst überlassen, ob er sie kauft oder nicht. In den Wochen danach hatte Schröters obsessive Auseinandersetzung mit Israel sogar juristische Folgen. Ein Thüringer Bürger zeigte ihn wegen Volksverhetzung an. Die Kennzeichnungspflicht für Waren aus palästinensischen Siedlungen erinnerte ihn an die NS-Politik.

„Der Aufruf des Herrn Schröter hat klaren antisemitischen Charakter und ist nach meinem Empfinden eine deutliche Volksverhetzung!“, erklärte der Anzeigesteller gegenüber der Thüringer Allgemeinen [3]. Die Staatsanwaltschaft Gera hat allerdings die Ermittlungen eingestellt [4]. Neben der Unterstützung der Kennzeichnungspflicht für Waren aus den besetzten Gebieten monierte der Antragssteller noch, dass Schröter geäußert habe, Deutschland müsse „aus seiner vornehmen Zurückhaltung gegenüber Israel als Besatzerstaat heraustreten“.

Regressive Israelkritik oder Antisemitismus

Tatsächlich gibt es viele politische Gründe, um diese Äußerung zurückzuweisen. Schon die Annahme, dass Deutschland, das ständig und besonders obsessiv die Politik Israels kritisiert, aus der vornehmen Zurückhaltung heraustreten soll, ist absurd. Es mag Politiker verschiedener Parteien geben, die als deutsche Staatsräson gegenüber Israel zurückhaltend auftreten. Für die Mehrheit der Medien gilt da ebenso wenig wie für die meisten Staatsbürger.

Auch die Kennzeichnung von Israel als Besatzerstaat ist grob vereinfachend und nimmt nur einen spezifischen Teil de Realität war. Denn Israel ist auch das Land, das seit Jahrzehnten von islamistischen Terror bedroht ist. Man braucht sich nur an den Deutschen Herbst 1977 zu erinnern, um sich vorzustellen, was hierzulande passieren würde, wenn auf Köln, Düsseldorf und Hamburg von Nachbarländern Raketen abgeschossen werden und die Bevölkerung mit Messerattacken konfrontiert ist.

Da Schröter diese Differenzierung nicht leistet, gehört der Begriff „Besatzerstaat“ zum Arsenal einer regressiven Israelkritik. Sie kann muss aber nicht Bezüge zum Antisemitismus haben. Begriffe wie „zionistisches Gebilde“ hingegen, die in Teilen der palästinensischen Organisationen verwendet wurden und auch zeitweise in Teilen der „Palästina-Solidaritätsbewegung“ vor 1989 Eingang gefunden hatten, sind offen antisemitisch. Hier wird mit alten antijüdischen Klischees gearbeitet. Zudem wird die Situation im Nahen Osten hier klar durch eine antisemitische Brille wiedergeben.

Die Folgen der Besatzung

Die Besatzung dagegen ist durchaus eine Realität in Israel und es gibt viele Israelis auch und gerade in der zionistischen Bewegung, die offen darüber diskutierten, welche Belastung die Besatzung für die israelische Demokratie ist. Es ist einige Wochen her, als die rechte Hügeljugend und ähnliche Gruppierungen Jagd auf Palästinenser machten.

Ein Aufschrei der Empörung bis weit ins konservative Spektrum der israelischen Gesellschaft inklusive des Staatspräsidenten war die Folge und wurde von vielen auch als Ausdruck der Hoffnung für Israel empfunden. Die Messerattacken scheinen in Teilen dafür gesorgt zu haben, dass das Klima wieder kippte.

Man sieht Videos, auf denen israelische Bürger rufen, einen Jugendlichen, der eine Messerattacke verübte, gleich zu erschießen. Gerade Menschen, die Israel unterstützten, sollten solche Töne, die nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun haben, kritisieren. Man sollte eben gerade nicht nur einen Aspekt der israelischen Realität herausgreifen. Es ist ebenso falsch, Israel lediglich als Besatzerstaat wahrzunehmen, als ausschließlich „als einzige Demokratie im Nahen Osten“, und die kritischen Stimmen über die Folgen der Besatzung auch auf die israelische Gesellschaft auszublenden.

Zu einer komplexen Betrachtung der Situation im Nahen Osten gehört ebenso die von Islamisten bedrohte israelische Demokratie wie die alles andere als demokratischen Folgen der Besatzung. Hierüber sollte durchaus hart gestritten werden. Das Strafrecht ist herbei aber ein untaugliches Mittel. Daher ist die Einstellung des Verfahrens gegen Schröter kein Ausdruck von Zurückweichen vor dem Antisemitismus durch die Justiz, sondern eine Voraussetzung, damit überhaupt eine politische Debatte möglich wird. Schröter verdient scharfe politischen Widerspruch, aber keine Klage.

Wann wird der Antisemitismus seines Inhalts beraubt?

Die Probleme mit dem Antisemitismusbegriff werden in einem Interview in der Jüdischen Allgemeinen [5] mit Rechtsanwalt Achim Doerfer deutlich. Er vertritt einen Mandanten, der gegen den Publizisten Matthias Mattusek geklagt hat, weil der ihn auf Facebook als Antisemiten bezeichnet hat. Es scheint, dass es ihm darum gegangen ist, einen publizistischen Kontrahenten zu diffamieren [6].

Der Fall zeigt einmal mehr, dass der zivilisierte Umgang im Internet selbst bei Leuten wie Mattusek ein Fremdwort scheint. Dass Mattusek selbst enthüllte [7], sich vor mehr als 13 Jahren hinter den für seine regressive Israelkritik bekannten FDP-Politiker Jürgen Möllemann gestellt zu haben, und heute viel israelfreundlicher zu sein, ist ein interessanter Nebenaspekt der Geschichte. Einen Kollegen mit einem unbegründeten Antisemitismusvorwurf schaden zu wollen, deutet allerdings eher auf ein instrumentales Verständnis von Antisemitismus an.

Davon zu unterscheiden sind Vorwürfe des Antisemitismus für Vorkommnisse, die von den Betroffenen tatsächlich als solche empfunden werden, damit aber gesellschaftlich in der Minderheit sind. Die Anzeige gegen den Jenaer Oberbürgermeister ist hierfür ein Zeichen. Man könnte auch argumentieren, dass der Vergleich der NS-Vernichtungspolitik mit Kennzeichnung von Produkten aus israelischen Siedlungen den Antisemitismus der Nazis verharmlost.

Ihnen ging es nicht um eine Kennzeichnung von Produkten, sondern um eine Stigmatisierung von Menschen auf dem Weg zu ihrer Vernichtung. Es gehörte auch zu den Ergebnissen der Antisemitismusdiskussion in der deutschen Linken nicht immer und überall den Vergleich mit der NS-Politik zu ziehen, weil damit die spezifische NS-Vernichtungspolitik eingeebnet wird.

Arbeitskampf und Antisemitismus

Ein Arbeitskampf um das Berliner Kino Babylon zeigt einmal mehr, wie schwierig es ist, das subjektive Gefühl zur Grundlage einer Einschätzung machen. In dem Kino setzten sich seit Jahren Mitarbeiter unterstützt von verschiedenen Gewerkschaften [8] für bessere Arbeitsbedingungen ein und rufen auch wie bei vielen Arbeitskämpfen [9] üblich dazu auf, das Kino während des Arbeitskampfes zu meiden.

Der Besitzer hat nun in der letzten Woche Davidsterne an die Fassade des Kinos gesprüht und mit einem Plakat und einer längeren Erklärung [10] deutlich gemacht, dass er sich als Opfer antisemitischer Machinationen sieht. Der verwickelte Konflikt, bei dem es auch die Zerstörung eines Filmplakats geht, lässt ahnen, dass die wohlfeile Empörung, hier wolle ein Arbeitgeber von seiner Rolle ablenken, zu kurz greift.

Es sind subjektive Eindrucke, die in dem Schreiben deutlich werden. Doch den Versuch, nun den jahrelangen Arbeitskampf [11] der Mitarbeiter damit in die antisemitische Ecke zu stellen, muss ebenso zurückgewiesen werden. Es gehört nicht viel Geschichtsbewusstsein dazu, um zu wissen, dass das NS-Regime bereits in den Anfangsmonaten Streiks und Gewerkschaften verboten hat. Letztlich wurde auch hier aus vielleicht subjektiv nachvollziehbaren Gründen der Antisemitismusvorwurf an einer Stelle eingesetzt, in die er nicht passt.

Der Autor ist Verfasser des Buches Kurze Geschichte der Antisemitismusdebatte in der deutschen Linken [12].

http://www.heise.de/tp/news/Mit-dem-Strafrecht-gegen-regressive-Israelkritik-2843517.html

Peter Nowak

Links:

[1]

http://www.jena.de/de/233674

[2]

http://www.taz.de/!5090110/

[3]

http://www.thueringer-allgemeine.de/web/zgt/politik/detail/-/specific/Volksverhetzungsvorwurf-gegen-Jenas-OB-Schroeter-1968704797

[4]

http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/23520

[5]

http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/23503

[6]

http://meedia.de/2015/09/24/antisemit-geldgieriger-zwerg-irrer-facebook-zoff-mit-matthias-matussek-landet-vor-gericht/

[7]

http://www.welt.de/debatte/kommentare/article112788948/Matthias-Matussek-Meine-Stunde-als-Antisemit.html

[8]

http://www.emanzipation.org/articles/em_2-2/e_2-2_oostinga.pdf

[9]

http://bb.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++2bcffb3a-10fa-11e5-b27c-525400248a66

[10]

http://www.babylonberlin.de/stopptdenboykottunddenstreikvonverdi.htm

[11]

https://www.syndikat-a.de/index.php?article_id=2&cat=3987&prod=4172%2F

[12]

http://www.edition-assemblage.de/kurze-geschichte

Der vergessene Teil der Hausbesetzerszene

WIDERSTAND Migranten sind seit Jahrzehnten Teil der Kreuzberger Kämpfe, wie ein Kiezspaziergang zeigt

Nichts erinnert heute in der Kottbusser Straße 8 an den Anschlag türkischer Nationalisten, bei dem am 25. September 1984 eine Frau getötet und eine andere schwer verletzt wurde „Der Angriff richtete sich gegen den Treff- und Informationsort für Frauen aus der Türkei (TIO), einer Selbstorganisation türkischer und kurdischer Frauen“, erklärt eine Organisatorin des Spaziergangs auf den Spuren migrantischen Protests und  Widerstands in Kreuzberg am Sonntagnachmittag. Die Kottbusser Straße 8 war eine der Stationen. Dort hatten migrantische Frauen im Februar 1981 die späteren TIO-Räume besetzt. Bereits im November 1980 gab es in der Forster Straße 16–
17 die erste migrantische Hausbesetzung in Westberlin. 29 Familien konnten später mit dem Bezirksamt Mietverträge abschließen. Bis heute leben einige migrantische ErstbesetzerInnen in dem Haus – noch immer mit befristeten Verträgen, die im nächsten Jahr auslaufen.
Der Spaziergang auf den Spuren migrantischer Proteste endete vor dem Gemüseladen in der Wrangelstraße, dessen mittlerweile zurückgenommene Kündigung im Sommer 2015 zur Gründung der Bizim-Bakal-Bewegung gegen die Vertreibung aus dem Kiez führte.
MigrantInnen sind seit mehr als drei Jahrzehnten Teil der Kreuzberger Kämpfe, werden aber selten erwähnt. „Wir haben uns eines vergessenen Teils der Westberliner HausbesetzerInnenbewegung angenommen“, erklärte Marie Schubenz. Sie ist Teil des Vorbereitungsteams der Ausstellung „Kämpfende Hütten“, die noch bis zum Sonntag im Südflügel des Bethanien zu sehen ist – der Kiezspaziergang gehörte zum Begleitprogramm. In der Ausstellung sind der Geschichte der migrantischen Hausbesetzungen in Kreuzberg mehrere Tafeln gewidmet. Eine Broschüre wird vorbereitet.

aus Taz: 13.10.2015

Peter Nowak

Kommt neue linke Hoffnung aus Großbritannien und den USA?

Umstrittener Protest eines Kinobetreibers

Antisemitisches Plakat am Filmtheater Babylon

Viele Passanten, die sich am Montagabend am Rosa-Luxemburg-Platz in Mitte aufhielten, waren empört und irritiert. Der Geschäftsführer des Kinos Babylon, Timothy Grossmann, sprühte mit weißer Farbe Davidsterne auf die Scheiben der Eingangstüren des Kinos. Kurz zuvor hatte er, selbst in eine gelbe Warnweste gekleidet, ein großes Transparent über der Eingangstür des Kinos aufgehangen. Es zeigt ein brennendes Kino Babylon. Dichter schwarzer Rauch schlägt aus dem Gebäude. Daneben steht in großen Lettern: »Boykott! Deutsche wehrt Euch! Kauft nicht im Kino Babylon«.

»Die Aktion hat sich der Geschäftsführer des Kinos ausgedacht und er hat auch eigenhändig die Davidsterne gesprüht. Damit soll unser Arbeitskampf in eine antisemitische Ecke gestellt werden«, sagt ein Streikposten der Gewerkschaft ver.di, ebenfalls in gelber Warnweste, vor der Tür des Filmspielhauses. Seit Juli 2015 befinden sich Mitarbeiter im Arbeitskampf um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen.

Für die Geschäftsführung um Grossmann gibt es dagegen keinen Arbeitskampf. »Der Tarifkonflikt ist nur vorgeschoben«, sagt eine Sprecherin des Kinos dem »nd«. Mit der »Kunstaktion« habe der jüdische Geschäftsführer einen »Hilfeschrei« aussenden wollen, dass es sich in Wirklichkeit um eine »große Diffamierungskampagne« handele.

»Seit fünf Jahren haben die Filmvorführer des Babylons keine Lohnerhöhung bekommen. Sie erhalten unverändert einen Stundenlohn von 9,03 Euro. Gleichzeitig sind die Eintrittspreise und Besucherzahlen deutlich gestiegen«, erklärt dagegen Andreas Köhn vom ver.di-Landesbezirk dem »nd«. Er kritisiert die Aktion des Geschäftsführers scharf. Damit werde der legitime Kampf der Mitarbeiter in die Nähe des Antisemitismus gerückt. Inzwischen prüft der Staatsschutz des Landeskriminalamts, ob die Aktion Grossmanns ein Straftatbestand darstellt. Bereits am Montagabend hatten Kinobesucher wegen des Plakats von einem Besuch abgesehen. Auch der Sänger und Autor Thees Uhlmann verlegte seine für Donnerstagabend im Kino geplante Lesung. »Wer Symbole und Sprüche aus der dunkelsten Zeit Deutschlands und der ganzen Welt dazu nutzt, um auf seinen eigenen Kram aufmerksam zu machen, bei dem spiele, lese, rede ich nicht«, sagte er.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/987167.umstrittener-protest-eines-kinobetreibers.html

Peter Nowak

Flucht vor allem vor den Bomben des Regimes

Eine Befragung von Flüchtlingen durch die Organisation Adopt the Revolution und die politischen Schlüsse, die daraus zu ziehen sind

Geflüchtete sind in Deutschland in der Regel Objekt. Für die als besorgte Bürger auftretenden Gegner der Geflüchteten, die sich von Dresden bis Erfurt in den letzten Wochen wieder vermehrt auf den Straßen versammeln, ist der Flüchtling als solcher schon Gegenstand der Ressentiments.

Da werden die Smartphones ebenso angeführt, die für den gefährlichen Transit überlebensnotwenig sind, wie auch die Tatsache, dass weit mehr Männer als Frauen Asyl begehren. Obwohl sich für all die Fakten völlig logische Begründungen finden lassen, werden sie von den Flüchtlingsfeinden als zusätzliches Argument für Erregungungen und Ressentiments benutzt. Aber auch viele wohlmeinende Bürger, die in den letzten Wochen Flüchtlinge begrüßt und willkommen geheißen haben, sehen in ihnen vor allem hilfsbedürftige Menschen, die betreut werden sollen.

Dass es sich um Menschen handelt, die einen eigenen Willen und auch eigene Vorstellungen von ihrem Leben in Europa haben, wird dabei oft vergessen. Da ist es sehr erfreulich, dass am gestrigen Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Berlin die Ergebnisse der ersten systematischen Befragung von syrischen Geflüchteten [1] über die Gründe ihrer Flucht und die Perspektiven in Deutschland vorgestellt worden sind. Im Zeitraum vom 12. September bis 2. Oktober wurden von der zivilgesellschaftlichen Organisation Adopt the Revolution [2] in Kooperation mit The Syria Campaign [3] 889 Menschen in 12 Erstaufnahmelagern befragt und wurde dabei vom Wissenschaftszentrum Berlin [4] beraten.

Für ein Syrien ohne Assad

Von den Befragten gaben 92% an, vor bewaffneten Auseinandersetzungen geflohen zu sein, für die nach Ansicht von über zwei Dritteln (70%) die syrische Regierung verantwortlich ist. Weniger als halb so viele (32%) machten den ‚Islamischen Staat‘ (IS) für die Kämpfe verantwortlich. Die Freie Syrische Armee beschuldigten 18%, al-Qaida/Jabhat al-Nusra 16% und die kurdischen Kämpfer 8 Prozent.

Über die Hälfte der Befragten würde nur in ein Syrien ohne Assad zurückkehren. Nur eine kleine Minderheit (8%) möchte dauerhaft bleiben. Für 52% ist eine Rückkehrbedingung, dass Bashar al-Assad geht; deutlich mehr als dafür, dass der IS das Land verlässt (44%). Die Alternative ist offenbar Demokratie, da für 42% freie Wahlen eine Voraussetzung sind, nach Syrien zurückzukehren. Die abstraktere Bedingung, dass „der Krieg enden muss“, erhält jedoch mit 68% die höchste Zustimmungsrate.

Für die Mehrheit der Befragten ist eine Flugverbotszone das wirksamste Mittel, weitere Vertreibung zu reduzieren. Befragt nach Handlungsoptionen der EU und der internationalen Gemeinschaft, um die weitere Flucht von Menschen aus Syrien zu reduzieren, gaben 58% die Einrichtung einer Flugverbotszone an. Es folgten der Stopp von Waffenlieferungen an alle Kriegsparteien in Syrien (38%) sowie mehr humanitäre Hilfe für Syrien (24%), um die Vertreibung zu reduzieren.

Den Initiatoren ist tatsächlich hoch anzurechnen, dass sie mit der Befragung, den Vertriebenen selbst die Möglichkeit gegeben haben, „ihre Meinung zu Fluchtursachen und Handlungsoptionen für die internationale Politik zu äußern“, wie Adopt the Revolution in ihrer Pressemitteilung schreibt.

Politische Handlungsoptionen unklar

Doch welche Handlungsoptionen [5] sich daraus für die Politik ergeben, ist weiter eine offene Frage. Denn die Befragung gibt nun zunächst einmal nur ein Stimmungsbild der Befragten, das unter Umständen Rückschlüsse auf die Sichtweise der syrischen Flüchtlinge in Deutschland insgesamt geben kann. Die Stimmungslage in Syrien aber lässt sich damit wohl kaum ermitteln.

So ist es sehr wahrscheinlich, dass Menschen, die weniger oder keine Probleme mit dem Regime haben, in die von der Regierung gehaltenen Gebiete fliehen, wenn sie vom IS oder anderen islamistischen Gruppen bedroht werden. Für Oppositionelle hingegen, die sich auch ganz klar von den Islamisten abgrenzen, gibt es keine innerstaatliche Fluchtalternative. So ist es klar, dass diese am ehesten das Land verlassen – und das drückt sich auch in den Umfragen aus.

Dass die Fassbomben des Regimes, die wahllos Terror in den großen Städten verbreiten, als zentrale Fluchtursache genannt werden, ist dann auch nicht verwunderlich. Schließlich sind besonders die Gegner des Regimes diesen Bombardements schutzlos ausgeliefert, weil sie nicht in die von der Regierung gehaltenen Gebiete fliehen können.

Ihnen bleibt nur die Alternative unter dem Bombenterror auszuharren oder ins Ausland zu gehen. Dass ein Syrien ohne Assad für viele der Befragten eine Bedingung für eine Rückkehr ist, scheint auch logisch. Warum sollten die Menschen die Strapazen und Gefahren des Transits auf sich nehmen, um dann unter den gleichen schlechten Verhältnissen wieder in Syrien zu leben?

Dass eine Flugverbotszone sehr häufig als Handlungsoption auch für die EU-Staaten genannt wurde, überrascht denn auch nicht, wenn eben die Bombardierungen als Hauptfluchtgrund genannt wurden. Doch wie sie umgesetzt werden soll, bleibt trotzdem offen.

Eine Handlungsanweisung zu einem militärischen Eingriff von Nato-Staaten kann aus den Ergebnissen der Befragungen kaum herausgelesen werden. Schließlich wurden auch die Beendigung des Kriegs und der Stopp aller Waffenlieferungen häufig genannt. So könnte das eine Quintessenz der Befragung vor allem darin liegen, die Geflüchteten im Kampf um ihr Recht zu bleiben, so lange sie wollen, zu unterstützen und sie zu animieren, ihre Freunde und Bekannte, die in einer ähnlichen Lage sind wie sie, ebenfalls aufzurufen, das Land zu verlassen.

Denn das ist angesichts der in der Befragung genannten Zustände in Syrien tatsächlich für viele Menschen der sinnvollste Weg. Es ist zumindest die einzige Garantie, weder von Islamisten noch von den Repressionsorganen des Regimes verfolgt oder gar ermordet zu werden. Die Bekräftigung dieses Rechts, zu kommen und zu bleiben, sollte auch deshalb erfolgen, weil längst schon maßgebliche Politiker von Union und SPD statt von Willkommenskultur vom Ende der Belastungen reden.

http://www.heise.de/tp/news/Flucht-vor-allem-vor-den-Bomben-des-Regimes-2840360.html

Peter Nowak

Links:

[1]

https://www.adoptrevolution.org/pm_umfrage/

[2]

https://www.adoptrevolution.org/

[3]

https://thesyriacampaign.org/

[4]

https://www.wzb.eu/de

[5]

https://www.adoptrevolution.org/fluchtursachen-und-handlungsoptionen/

„Jede Zeit hat ihre Kämpfe“

RÜCKSCHAU Im Bethanien werden die Mietkämpfe der vergangenen 150 Jahre dargestellt

taz: Herr Lengemann, die Ausstellung „Kämpfende Hütten“ will eine Geschichte urbaner Kämpfe in Berlin zeigen.
Simon Lengemann: Im Zentrum der Ausstellung stehen die Kämpfe der Berliner MieterInnen der letzten 15 Jahre. Wir zeigen die ganze Bandbreite der Aktionen, von Demonstrationen über Volksbegehren bis zu verhinderten Zwangsräumungen. Zudem sollen Schlaglichter auf historische MieterInnenkämpfe geworfen werden. Anhand von Mietstreiks, migrantischen Besetzungen und Ostberliner Häuserkämpfen wird die Vielfalt vergangener Aktionen deutlich.
Wer sind die Organisatoren?
Wir sind ist ein Ausstellungskollektiv ohne institutionelle Bindung. Die Beteiligten kommen aus den aktuellen MieterInnenkämpfen,
den verschiedenen Berliner HausbesetzerInnenbewegungen  nd der akademischen Beschäftigung mit Miete und Wohnraum.
Thematisch gehen Sie bis 1872 zurück. Wie sahen damals die MieterInenkämpfe aus?
Zunächst handelte es sich um  spontane „Exmissionskrawalle“, so nannte man damals Proteste gegen Zwangsräumungen. Bekanntestes
Beispiel waren die Blumenstraßenkrawalle im Juli 1872.

In der Weltwirtschaftskrise lautete eine Parole „Erst das Essen, dann die Miete“. Welche Rolle spielten linke Parteien und MieterInnenverbände?
Die Krise brachte den offiziellen MieterInnenverbänden einen massiven Mitgliederschwund. Sie stellten sich dennoch massiv
gegen den Mietstreik und pochten auf die Einhaltung der  von ihnen mitgestalteten MieterInnengesetze. Die KPD dagegen
unterstützte die Kämpfe.

Die Ausstellung dokumentiert auch die MieterInnenbewegung im sozialen Wohnungsbau des Märkischen Viertels vor mehr als 40 Jahren. Warum konnte sie sich dort so lange halten?
Die neuen BewohnerInnen dieser Großsiedlung fanden zwar komfortable Wohnungen, aber keine städtische Infrastruktur
vor. Das waren sie vom Wedding, wo sie herkamen, anders gewöhnt. Von dort hatten sie die traditionelle Widerständigkeit
der alten ArbeiterInnenbewegung mitgebracht. Um 1968 beteiligten sich zudem auch linke Studierende und Intellektuelle
wie Ulrike Meinhof an der Stadtteilarbeit.  Mit der Moabiter Viertel Zeitung, deren Geschichte in der Ausstellung dargestellt wird,
hatten die MieterInnen sogar ein eigenes Sprachrohr.

Was können die heutigen MietrebellInnen daraus lernen?
Jede Zeit hat ihre eigenen Kämpfe. Aber natürlich wollen wir durch die Ausstellung und das Begleitprogramm Impulse für aktuelle Auseinandersetzungen um Wohnraum und Miete geben.
INTERVIEW: PETER NOWAK
■■Die Ausstellung findet bis zum 18. Oktober im TheaterSpiel-Raum im Bethanien statt

Simon Lengemann
■■28, Historiker und Amerikanist, forscht zu MieterInnenbewegung in der Weimarer Republik in der Zeit der Weltwirtschaftskrise.

Mit VW ist ein deutsches Modell in der Krise

Dass bei der Betriebsversammlung von Volkswagen zumindest eine kleine Minderheit von Arbeitern mit ihren Chefs „französisch reden“, war nicht zu erwarten

Wütende Mitarbeiter stürmen die Konzernzentrale, in der sich gerade Management und Gewerkschaften treffen. Die Sitzung muss abgebrochen und die Manager müssen von Sicherheitsbeamten geschützt werden, das Gebäude wird fluchtartig über einen Zaum verlassen. Das Ganze trug sich nicht etwa beim Wolfsburger VW-Konzern zu, wo es am Dienstag die erste Betriebsversammlung nach dem Bekanntwerden der Betrügereien mit den Abgaswerten gab. Es waren wütende Air-France-Mitarbeiter, die bei Protesten in Paris ihre Manager in die Flucht schlugen [1]. Sie hatten gerade einen neuen Sozialplan vorgestellt, der die Entlassung von zahlreichen Mitarbeitern bedeutet hätte.

Wenn Arbeiter mit ihren Chefs französisch reden

In den 1990er Jahren hat sich auch in linken Gewerkschaftskreisen in Deutschland der Begriff „mit den Bossen französisch reden“ für Arbeitskämpfe durchgesetzt, die anders als die meisten DGB-Aktionen durchaus spontane Elemente enthielten. Die Beschäftigen sehen eben nicht in der Presseerklärung ihre schärfste Waffe.

Sie bleiben nicht vor den Konzernzentralen stehen, sondern betreten sie schon mal, sperren die Manager ein, wofür sich der Begriff Bossnapping etabliert hat und sie verjagen auch schon mal ihre Chefs. Da diese Arbeitskampftradition ein Effekt von Kämpfen und nicht kulturell bedingt ist, geht der Begriff „französisch reden“ vielleicht etwas an der Sache vorbei. Mittlerweile ist auch schon gerichtsbekannt, dass es außerhalb Deutschlands andere Arbeitskampftraditionen gibt.

Als am 7.November 2012 einige Hundert Fordarbeiter aus dem belgischen Genk ihren Protest gegen die Betriebsschließungen vor und in der Kölner Fordzentrale auch auf französische Art und Weise ausdrückten und dafür in Deutschland kriminalisiert [2] wurden, entschuldigte sich ein Polizeisprecher später, man habe überreagiert und die unterschiedlichen Arbeitskampftraditionen zu wenig berücksichtigt [3].

Ein Team steht alles durch

Dass auch bei der Betriebsversammlung von Volkswagen zumindest eine kleine Minderheit von Arbeitern mit ihren Chefs und vielleicht auch den ihnen verbundenen Betriebsräten hätten „französisch reden“ wollen, war nicht zu erwarten. Es gab natürlich einige kritische Worte gegen eine kleine Clique im Management, die den angeblich guten Namen von VW und damit gar den Standort Deutschland in Verruf gebracht habe.

Insgesamt aber überwogen Phrasen der Art, dass in jeder Krise auch eine Chance liege. Worin die aber besteht, verkündet die VW-Homepage, die dort in Bezug auf den neuen Touran zwei Wörter schreibt, die auch als Kommentar für die Situation des VW-Konzerns insgesamt gelten können: „Allen gewachsen“. Es wurden auch „deutlich Worte“ auf der gestrigen Betriebsversammlung gesprochen. Die kamen allerdings nicht von den Gewerkschaftsvertretern, sondern vom VW-Chef Müller und standen ganz in der VW-Tradition.

„Schwierige Zeiten lassen sich leichter durchstehen, wenn alle zusammenhalten. Das weiß der neue VW-Chef Matthias Müller ebenso gut wie der Betriebsrat und die Mitarbeiter“, heißt es im Managermagazin [4]. Ca. 20.000 Mitarbeiter sollen sich zu der von dem Management einberufenen Betriebsversammlung eingefunden haben. Einige von ihnen trugen T-Shirts mit der Aufschrift „Ein Team, eine Familie“, auf Transparenten beschworen sie „Wir schaffen das“.

Damit gaben sie auch schon mal ihr Einverständnis dafür, weitere Opfer zu bringen, um wieder aus der Krise rauszukommen. Damit blieb VW auch im Jahr 2015 den Gedanken der Gründergeneration treu. Schließlich wurde das Urwerk des VW-Konzerns von der Deutschen Arbeitsfront errichtet und von Hitler persönlich eingeweiht. Bei VW sollten die Kraft-durch-Freude-Wagen produziert werden, mit denen die deutschen Volksgenossen über die Reichsautobahn brettern sollten.

Dazu ist es bekanntlich erst dann gekommen, als das Tausendjährige Reich bereits Geschichte war. Denn die NS-Gründung VW wurde erst in der BRD zum Erfolgsmodell. Auch die NS-Betriebsgemeinschaft hat unter anderem Namen überlebt. Kämpferische gewerkschaftliche Interessen waren verpönt.

Die italienischen Arbeitsmigranten, die man in den 1960er Jahren angeworben hatte und die euphemistisch „Gastarbeiter“ genannt wurden, mussten in miserablen Massenunterkünften schlafen und wurden auf vielfältige Weise diskriminiert. Viele Ur-Wolfsburger haben ihren italienischen Kollegen noch in den 60er Jahren nachgetragen, dass das Land im 2. Weltkrieg aus der Achse mit Nazideutschland ausgeschieden ist. Das Leben der italienischen Migranten in Wolfsburg ist auch Sujet des surrealistischen Films Palermo oder Wolfsburg [5] von Werner Schröter.

Ein Konzern, der über Leichen geht

Wie konnte Volkswagen die gesetzlichen Bestimmungen für Unterbringung und Versorgung so problemlos umgehen, obwohl es sich nolens volens an diese halten musste, solange es die Arbeitskräfte über das bundesdeutsche Arbeitsamt rekrutierte, und obwohl es wie alle Großunternehmen regelmäßig kontrolliert wurde und darüberhinaus besonders im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit stand?

Diese Frage stellte sich auch das wirtschaftsnahe Institut für Zeitgeschichte [6] in München, um VW als Opfer darzustellen und selbst einen Maschendrahtzaun vor den Unterkünften der Arbeitsmigranten zu rechtfertigen [7]. Dass der Werkschutz alle Gäste der Arbeitsmigranten kontrollierte und verdächtige Personen dem Management meldete, ist für diese Wissenschaftler nur Ausdruck einer besonderen Kontrolle im Kalten Krieg.

Geschichtsbewusstere Zeitgenossen würden auch hierin eine Tradition des NS-Traditionswerkes sehen. Angesichts der Gründungsgeschichte von VW ist es besonders zynisch, wenn jetzt wieder so viel von dem guten Namen schwadroniert wird, der durch den Umweltskandal in den Schmutz gezogen wird. Es macht auch die deutsche Geschichtsvergessenheit abseits der Sonntagsreden zu bestimmten Gedenktagen deutlich.

Die Betrügereien bei den Abgaswerten werden vor allem deshalb bedauert, weil sie dem Namen und dem Standort VW schaden. Dass durch die hohe Luftverschmutzung Tausende Menschen sterben oder gesundheitliche Schäden davon tagen, wird gerne ausgeblendet. Aber was soll man auch erwarten von Menschen, die davon sprechen, dass der „gute Name“ VW womöglich beschmutzt wurde? Für viele Menschen weltweit ist der Name VW untrennbar mit der NS-Ideologie verbunden. Nun hört man davon auch bei kritischeren Zeitgenossen oder Umweltverbunden heute kaum noch was.

http://www.heise.de/tp/news/Mit-VW-ist-ein-deutsches-Modell-in-der-Krise-2839299.html

Peter Nowak 

Links:

[1]

http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/air-france-chef-von-mitarbeitern-attackiert-a-1056215.html

[2]

https://solikreis07nov.wordpress.com

[3]

https://solikreis07nov.wordpress.com/

[4]

http://www.manager-magazin.de/unternehmen/autoindustrie/volkswagen-versammlung-mueller-plant-drastischen-sparkurs-a-1056514.html

[5]

http://www.imdb.com/title/tt0081299/

[6]

http://www.ifz-muenchen.de