»Die Flagge sollte man anzünden!«

Kann man mit einer Israelfahne Rechtsextreme so provozieren, dass sie ihre Maske fallen lassen? Angesichts einiger proisraelischer Äußerungen aus dem Pegida-Lager gibt es Zweifel.

Im Dezember 2014 schienen die Fronten noch klar. Eine kleine Gruppe von Menschen wollte mit einer Israelfahne auf einer Pegida-Demonstration in Dresden testen, ob es sich bei den selbsternannten Verteidigern des christlichen Abendlands tatsächlich vor allem um Neonazis und Rassisten handelt. »Doch wie überprüft man eine derartige These am besten? Indem man ein polarisierendes Symbol darstellt. In meinem Fall hieß das konkret, dass ich mir meine Israelflagge schnappte, die normalerweise vor meinem Fenster hängt, und mich mit ein paar Gefährten auf den Weg machte, selbst zu erfahren, wer denn eigentlich diese Menschen bei Pegida seien«, schrieb einer der an diesem Test Beteiligten in seinen Erfahrungsbericht. Schon die Polizei sah in der Fahne eine Provokation für die Abendlandschützer und behielt damit recht, wie aus der Versuchsbeschreibung hervorgeht: »Wir waren keine fünf Minuten vor Ort und uns schlug bereits eine Welle der Ablehnung und Verachtung entgegen.« Kommentare wie: »›Ihr seid hier auf der falschen Seite!‹, ›Verpisst euch!‹, ›Die Flagge sollte man anzünden!‹, ›Israel sind die größten Verbrecher!‹, ›Wir wollen euch hier nicht!‹«, hagelte es von allen Seiten. Demoordner beendeten dann das Experiment, erklärten die Gruppe für unerwünscht und forderten sie auf, den Pegida-Aufmarsch zu verlassen.

Nicht ganz vier Monate später, am 13. April 2015, konnte man auf Fotos wieder eine Israelfahne auf einer Dresdner Pegida-Demonstration sehen. An diesem Tag war als Hauptredner und Stargast der holländische Rechtspopulist Geert Wilders eingeladen worden, der sich seit Jahren als enger Freund Israels bezeichnet und den Staat als vorderste Frontlinie im Kampf gegen den Islamismus betrachtet. Nun könnte man einwenden, dass allein die Einladung von Wilders deutlich mache, dass sich innerhalb der Pegida-Bewegung die Strömung durchgesetzt habe, die sich nach Rechtsaußen abzugrenzen trachtet. Doch das eine schließt das andere bei Pegida eben nicht aus: Vielmehr wird bei den verschiedenen Pegida-Aufmärschen mittlerweile eine Art innerrechter Pluralismus praktiziert, der dazu führt, dass ein erklärter Neonazi schon mal in unmittelbarer Nähe einer Israelfahne marschieren kann und muss.

So konnte man am 7. Mai 2015 bei einem Aufmarsch des Berliner Pegida-Ablegers Bärgida beobachten, wie nur wenige Meter neben einer Israelfahne der Berliner NPD-Vorsitzende Sebastian Schmidtke ein Transparent mit einer Parole gegen »Asylbetrug« hielt. Zuvor hatten sich Funktionäre von NPD und Pro Deutschland, Anhänger der Identitären Bewegung und Neonazis von rechten Kameradschaften vor dem Berliner Hauptbahnhof zu einer mehrstündigen Kundgebung versammelt. Gut sichtbar waren von Anfang an die Flaggen mit Davidstern. Die beiden jungen Fahnenträger stellten sich als Mitglieder der Facebookgruppe Jewgida vor. Sie betrachtet die Pegida-Bewegung als Bündnispartner im Kampf gegen Islamismus. Seither fragen sich nicht nur internationale Medien, sondern auch Antifaschisten, wie es sein kann, dass Israelfahnen und Neonazis auf einer Demo gemeinsam gesehen werden können. Auch wenn erst nach dem 7. Mai die Israelfahnen auf den unterschiedlichen Pegida-Aufmärschen zum Thema wurden, gab es in Berlin eine Vorgeschichte. Am 26. Februar 2015 trat bei einer Bärgida-Kundgebung ein Mann namens Sam vor das Mikrophon, der sich als in den USA geborener und seit 26 Jahren in Deutschland lebender Jude vorstellte. Inhaltlich lag sein Beitrag ganz auf der Linie der Abendlandverteidiger: Nicht Nazis, sondern Islamisten seien schuld am Antisemitismus in Deutschland. Den »Kampf gegen rechts« bezeichnete er als eine »Gelddruckmaschine für Berufsbetroffene und Windmühlenkämpfer«. Den USA warf er vor, die Kulturen Europas zerstören zu wollen, und führte das derzeit vieldiskutierte TTIP-Abkommen an. Auch eine Tirade gegen bezahlte Gegendemonstranten durfte nicht fehlen. Mit Sams Auslassungen hat sich Jew­gida wiederum in den Augen der Demoorganisatoren als glaubwürdiger Bündnispartner bei der Verteidigung des Abendlandes erwiesen.

Der Verweis auf die Israelfahnen dient aber wohl eher zur Ablenkung von der Nazi-Präsenz. So erklärte Bärgida auf Facebook, dass sie Jewgida bei ihren Protesten gegen eine Konferenz in Berlin unterstütze, die maßgeblich von der Hamas nahestehenden palästinensischen Gruppen organisiert wurde. Doch das Protestbündnis gegen die Tagung, in dem neben Politikern von SPD, Grünen und Piraten auch antifaschistische Gruppen vertreten waren, hatte kein Interesse an der Unterstützung von rechts. Auch an den Protesten gegen den al-Quds-Tag wollten sich Pegida-Gruppen beteiligen. Michael Stürzenberger, der Vorsitzende der rechten Kleinstpartei »Die Freiheit« und Organisator des Münchner Pegida-Ablegers, rief unter der Parole »Hass-Marsch gegen Israel trifft uns alle« zur Teilnahme an den Gegenaktionen auf. Stürzenberger ist ein typischer Vertreter dieses neuen rechten Pluralismus, für den sein auf PI-News gepostetes Bekenntnis »Wir stehen zu Israel« durchaus nicht im Widerspruch dazu steht, neben Mitgliedern von Nazi-Kameradschaften auf den Münchner Pegida-Aufmärschen aufzutreten.

Doch der seit Pegida zu beobachtende innerrechte Pluralismus in Sachen Israel stößt immer wieder an seine Grenzen. Nachdem die Bärgida-Organisatoren die beiden Jewgida-Aktivisten offiziell unterstützten, erinnerten auf Facebook wütende Neonazis daran, »dass Adolf die Juden nicht wegen ihrer Nasen, sondern wegen ihrer Weltherrschaftspläne« bekämpft habe. Auch in Frankfurt am Main sorgte die Israelfahne unter den Abendlandverteidigern für Streit (Jungle World 9/2015). Dass der hessische NPD-Vorsitzende Stefan Jagsch mehrmals nur wenige Meter neben einer Israelfahne gelaufen war, stieß manchen seiner Kameraden sauer auf. Als der langjährige Frankfurter Stadtverordnete Jörg Krebs die NPD Mitte Juni 2015 verließ, führte er als Grund die Beteiligung des derzeitigen NPD-Vorstands an den ersten Pegida-Kundgebungen in Frankfurt an, bei denen die Organisatorin Heidi Mund demonstrativ proisraelisch aufgetreten war.

Auch in linken Kreisen wird in der letzten Zeit verstärkt über die »falschen Freunde Israels« diskutiert. Mit einem Text unter dieser Überschrift will die Stuttgarter Gruppe »Emanzipation und Frieden« eine Debatte über Israelflaggen bei rechten Kundgebungen anregen. Auslöser war eine von einem Stuttgarter AfD-Stadtrat auf einer Pegida-Kundgebung getragene Fahne mit Davidstern. Anders als die Dresdner, die sich im Dezember 2015 mit einer Israelfahne auf einen Pegida-Aufmarsch wagten, sehen die Stuttgarter Autoren die weißblaue Fahne nicht mehr als absolutes Unterscheidungskriterium zwischen links und rechts an. »Es ist leider zu beobachten, dass sich Menschen in ihrem rassistischen und fremdenfeindlichen Wahn, den sie unter dem Label ›Islamkritik‹ ausleben, Israel als Verbündeten herbeiphantasieren«, heißt es bei den Stuttgartern. Auch ein Redner der linken israelsolidarischen Gruppe BAK Shalom wies rechte Vereinnahmungsversuche auf einer Kundgebung eines antifaschistischen Bündnisses gegen den al-Quds-Tag klar zurück: »Während konservative bis rechtspo­pulistische Kreise gegen Antisemitismus protestieren und dabei vom ›importierten Antisemitismus‹ sprechen und so antimuslimische Ressentiments aufwärmen, möchten wir noch einmal festhalten: Antisemitismus muss nicht nach Deutschland importiert werden, er erlebte hier im industriellen Massenmord an sechs Millionen Juden und Jüdinnen seinen Höhepunkt.«

http://jungle-world.com/artikel/2015/35/52563.html

Peter Nowak

»Die Macht lag kurz auf der Straße«

Gepräche mit ehemaligen Besetzerinnen und Besetzern

Gigi

Gigi hat schon in den achtziger Jahren in Friedrichshain gewohnt. Im November 1989 gründete sie einen Mieterladen in der Bänschstraße, in dem sie heute noch ehrenamtlich arbeitet und Mieter berät.

Warum habt ihr den Mieterladen gegründet?

Wir haben nach dem Mauerfall einen leergeräumten Wohnbezirksausschuss (WBA) besetzt und uns war damals schon klar, dass Privatisierungen der kommunalen Wohnungen anstehen und die Mieter Beratung brauchen.

Wie hast du die Besetzungen in der Nachbarschaft erlebt?

Ich habe damals schräg gegenüber der Mainzer Straße gewohnt und bin gleich in Kontakt mit ­einigen Besetzern gekommen. Ich fand es toll, dass die Häuser besetzt wurden, die bereits in den achtziger Jahren gesprengt werden sollten. Zudem freute ich mich, dass neue Leute in den Stadtteil kamen und Leben reinbrachten.

Warst du eine Ausnahme oder gab es viel Unterstützung bei den Nachbarn?

Ich war nicht die einzige, aber ich hatte den kürzesten Weg zu den Besetzern. Zudem war ich in der DDR in der Punkbewegung und so fielen mir die Kontakte leichter. Als dann die Mainzer Straße geräumt wurde, waren auch viele andere Nachbarn auf der Straße. Selbst Rentner setzten sich dem Tränengas aus. Sie waren sicher nicht mit allem einverstanden, was die Besetzer machten, aber sie waren solidarisch gegen die Räumung.

Wie hast du die Räumung der Mainzer Straße erlebt?

Das war wie im Krieg. Es ist ein Glück, dass es nur Verletzte, aber keine Toten gab. Ich habe selber Wache in der Boxhagener Straße gestanden und das erste Mal einen Wasserwerfer unmittelbar vor mir gesehen. Das hat mir Angst gemacht. Ich habe auch mitbekommen, dass noch einige Politiker und DDR-Oppositionelle wie Bärbel Bohley in letzer Minute die Räumung verhindern wollten. Da hat die Polizei schon die ersten Häuser geräumt. Es stellte sich später heraus, dass ein Teil der Räumungen nach der »Berliner Linie«, auf die sich die Politik berief, rechtswidrig waren. Das hatte aber keine Konsequenzen.

Hast du noch Kontakt zu einigen damaligen Besetzern?

Ja, mit denen, die ich damals kennengelernt hatte, habe ich noch immer gute Beziehungen. Einige sind mittlerweile Hausbesitzer über die von ihnen gegründeten Genossenschaften. Es gibt auch immer wieder ehemalige Hausbesetzer, die zur Beratung in den Mieterladen kommen. Sie haben damals noch entweder privat oder über den Rahmenvertrag der Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain (WBF) Verträge bekommen. Ein Teil der Besetzer der Mainzer Straße ist nach der Räumung in andere Städte gezogen. Da ist der Kontakt abgebrochen.

Andreas K.

Andreas K. war im Sommer 1990 Student. Heute lebt er in Friedrichshain in einer Mietwohnung, arbeitet als Taxifahrer und ist weiterhin in gewerkschaftlichen und außerparlamentarischen Gruppen aktiv.

Wie bist du im Sommer 1990 in die Besetzer­bewegung gekommen?

Ich bin in Westberlin aufgewachsen. Ein Genosse, den ich vom gemeinsamen Studium an der FU kannte, hat mich angesprochen, ob ich Lust habe, mit ihm und anderen zusammen ein Haus in Ostberlin zu besetzen. Nach einigem Zögern habe ich zugesagt. Über verschiedene Treffen bildete sich eine feste Gruppe heraus. Etwa ein Drittel hatte Ost-, zwei Drittel hatten Westhintergrund. Wir kamen aus verschiedenen Teilen der radikalen Linken. Unsere erste, nach wenigen Stunden geräumte Besetzung fand aber erst im Herbst statt. Im Sommer 1990 war ich eher Zaungast. Im Dezember gelang uns eine mehrtägige Besetzung in Friedrichshain. Nach der Räumung kamen wir gemeinsam in einem bereits besetzten Haus in der Niederbarnimstraße unter, wo ich bis 1994 lebte.

An welche politischen Aktionen im Sommer 1990 erinnerst du dich noch?

Für mich standen im Sommer keine großen Einzelaktionen im Vordergrund, sondern dass ich erst von Ferne mitbekam, dass Leute in Ostberlin die ungewisse Zeit des Systemwechsels nutzten, um leerstehende Häuser der drohenden kapitalistischen Vermarktung zu entziehen und selbstbestimmte Strukturen zu bilden. Linksradikale Gruppen aus Westberlin, wo ich mitwirkte, bekamen Anfragen für Veranstaltungen. So entstanden die ersten Kontakte.

Welche Bedeutung hatte für dich die Räumung der Mainzer Straße?

Bei der Räumung der Mainzer Straße war ich als Unterstützer auf der Straße aktiv und wurde wie viele andere festgenommen. Sie war eine militante Zuspitzung, die danach in Riot-Videos gefeiert wurde, aber zugleich ein Einschnitt, der ein Ende der Pattsituation in der Zeit des Systemumbruchs bedeutete und die Besetzerinnen und Besetzer in die strategische Defensive führte. Viele Menschen wurden durch die Polizeigewalt traumatisiert, auch bei mir blieb die Erfahrung dieser Konfrontation nicht ohne Auswirkungen.

Welche Bedeutung hatte der Streit zwischen Verhandlern und Nichtverhandlern?

Vor der Räumung hat der Besetzerrat, in dem nahezu alle Häuser vertreten waren, Einzelverhandlungen abgelehnt und eine politische vertragliche Gesamtlösung für alle Häuser gefordert. Nach der Räumung begannen mehr und mehr Häuser, Verhandlungen auf der Bezirksebene um Einzelmietverträge zu führen. Die »Berliner Linie«, die eine schnelle Räumung von Neubesetzungen beinhaltete, wurde aus dem Westteil Berlins übernommen. Politische Lösungen lehnte der Senat ab. Wer nicht über das Stöckchen der Einzelverhandlungen sprang, sondern die Rückgabe der geräumten Häuser forderte, wurde zum Nichtverhandler wider Willen, so auch die Gruppe, deren Teil ich war.

Siehst du längerfristige politische Konsequenzen aus dem Sommer 1990?

Der Sommer 1990 war nur aufgrund der besonderen historischen Situation möglich, in der die Exekutive des DDR-Staates zusammenbrach. Die Besetzer haben sich Strukturen geschaffen, die ein deutliches Gegengewicht zu reaktionären und faschistischen Tendenzen setzten. Viele Linke aus dem Westen fanden das anziehend, haben sich aber zum Teil unreflektiert in eine andere Gesellschaft begeben. Die stark subkulturelle Orientierung vieler Häuser erschwerte leider den Kontakt zu grundsätzlich aufgeschlossenen Teilen der Nachbarschaft. Viele Hausprojekte, die sich auf die Einzelverhandlungen einließen, bestehen noch bis heute. Ob sie noch politisch sind, hängt vom Engagement der Menschen ab, die dort wohnen. Sie sind jetzt oft durch Gentrifizierung nach mehrmaligem Eigentümerwechsel bedroht.

Hartmut S.

Hartmut S. hat 1990 die Köpenicker Straße 137 (Köpi) mitbesetzt und dort einige Jahre gewohnt. Heute lebt er im Oderbruch und arbeitet als Briefträger.

Wie bist du im Sommer 1990 Hausbesetzer geworden?

Vor der Wende haben wir ziemlich beengt in Westberlin gewohnt. Es gab nach dem Mauerfall Kontakte zu dem in Ostberlin tagenden Besetzerrat. Dort gab es ein starkes Interesse an Wohn- und Zusammenlebensprojekten. Während in Westberlin relative Wohnungsknappheit herrschte, standen in Ostberlin unzählige Wohnungen und auch ganze Häuser leer. So entstanden mit Leuten aus Ostberlin konkrete Pläne für eine Hausbesetzung. Die Zusammenarbeit mit Ostberlinern war uns von Anfang an sehr wichtig, da wir auf der einen Seite politisch aktive Leute aus der DDR-Oppositionsbewegung kennenlernen wollten, auf der anderen Seite wollten wir dem Eindruck entgegenwirken, Leute aus dem Westen kommen in den Osten und reißen sich dort alles unter den Nagel. In dem von uns besetzten Haus haben wir zumindest in den ersten Monaten großen Wert darauf gelegt, dass eine zahlenmäßige Ausgeglichenheit zwischen Ostlern und Westlern bestand.

Welche Bedeutung hatte damals die politische Arbeit in der Köpi? Oder war es hauptsächlich eine große Party?

In der Köpi wohnten irgendwann 40 Menschen, da gab es natürlich Leute, die gerne Partys oder Konzerte organisierten. Aber es gab auch immer Leute, die in verschiedenen politischen Bereichen aktiv waren. Gerade in der Anfangszeit im Frühjahr 1990 war die Situation angespannt.Es gab immer wieder Angriffe von rechten Jugendlichen auf die besetzten Häuser in der benachbarten Adalbertstraße und nachts musste man schon aufpassen, wer einem da in der Gegend entgegenkam.

Die Köpi nannte sich Internationales Haus. Welcher Stellenwert spielte die Arbeit mit Geflüchteten und Migranten damals?

Die Bezeichnung entstand als Kontrapunkt zum deutschnationalen Wiedervereinigungstaumel. Wir hatten viele Besucher und auch einige Bewohner aus dem meist europäischen Ausland. Den Begriff »Arbeit mit Migranten« würde ich nicht verwenden. Wir stellten Räume zur Ver­fügung zum Beispiel für eine türkische Antifa-Jugendgruppe, einige ihrer Mitglieder wohnten dort auch eine Zeitlang. Ein paar Wochen lebte bei uns ein Ägypter, der in Pirna zusammengeschlagen worden und aus dem Flüchtlingsheim dort nach Berlin geflohen war. Er ging jeden Tag arbeiten, um seiner Familie in Ägypten Geld zu schicken.

Siehst du längerfristige politische Konsequenzen aus dem Sommer 1990?

In einigen Stadtteilen wie Friedrichshain, Mitte und Prenzlauer Berg entstanden durch die besetzten Häuser politische und kulturelle Anlaufpunkte.

Dietmar Wolf

Dietmar Wolf war linker DDR-Oppositioneller und Mitbegründer der Antifa Ostberlin. Er ist seit der Gründung im Oktober 1989 Redakteur und Herausgeber der Zeitschrift Telegraph. Er wohnt in Berlin.

Wie hast du als linker DDR-Oppositioneller den Sommer 1990 erlebt?

Heute wird ja immer vom »Kurzen Sommer der Anarchie« geredet. Ich finde den Begriff Quatsch. Hier war nichts mit Anarchie. Die Macht lag im Oktober/November 1989 vielleicht kurz auf der Straße. Doch das Volk wollte sie nicht. Dann hat die SED sie schnell wieder aufgehoben und, wohlgeordnet und mit Zustimmung der DDR-Bevölkerung, an die BRD-CDU und das BRD-Kapital übergeben. Die Gruppen der DDR-Opposition haben sich, statt sofort und konsequent die Kontrolle über die DDR zu übernehmen und natürlich auch die SED-Regierung samt gleichgeschaltetem Parlament zum Teufel zu jagen, derweil an Runden Tischen ohne jeglichen Einfluss und ohne wirkliche Befugnisse abgearbeitet und sich sogar von der Regierung Modrow mit »Ministerposten ohne Geschäftsbereich« bestechen lassen. Viele in der linken DDR-Opposition hatten auf eine neue Gesellschaft mit einem wirklich freien und echten Sozialismus gehofft. Dass die Menschen aber so derart grundsätzlich auf diese dummen und offensichtlichen Wahlkampflügen hereinfielen und schon zur Volkskammerwahl im März 1990 mit so einer überwältigenden Mehrheit auf deutsche Einheit, D-Mark und Kapitalismus setzten, hat viele von uns doch sehr erschüttert.

Welche Rolle spielte der Kampf gegen die Neonazis in der damaligen Zeit?

Das war schon sehr dominant. Es gab ja andauernd Zwischenfälle, was die besetzten Häuser betraf. Zuerst hauptsächlich im Prenzlauer Berg, weil der BFC Dynamo im Jahn-Stadion gespielt hat. Der Anhang von Nazi-Hooligans hat da regelmäßig vor oder nach den Spielen bei den nahegelegenen besetzten Häusern vorbei gesehen. Im Prenzlauer Berg bildete sich damals leider auch eine stärkere Naziszene um die Nazipartei FAP. Mit denen hatten wir dann noch bis Mitte der neunziger Jahre richtig viel Stress. Dann gab es auch im Bezirk Friedrichshain Übergriffe auf besetzte Häuser. Das war schon eine ständige Bedrohung. Und in der Lichtenberger Weitlingstraße gab es ja auch ein besetztes Haus der Nazis. Das war ein bundesweites Anlaufziel und Treffpunkt vieler Nazikader und -führer.

Gab es Widerstand dagegen?

Die Antifa war nicht nur defensiv, sondern ging auch ganz bewusst in die Kieze der Nazis. Flugblätter verteilen, fotografieren, aufklären, antifaschistische Ansagen machen. Wir haben dann, ganz in der Nähe des Nazihauses, ein antifaschistisches Straßenfest und eine große Demonstration veranstaltet. Diese beiden Aktionen wurden von einem sehr breiten politischen Bündnis organisiert. Da haben alle möglichen Gruppen und Organisationen aus Berlin mitgemacht. Ich finde es noch heute sehr ärgerlich, dass die Besetzer der Mainzer Straße im Nachhinein behauptet haben, beispielsweise auch in ihrem Film »Sag niemals nie«, sie allein hätten diese Demonstration organisiert und die Antifa-Arbeit dort in Lichtenberg geleistet. Das ist natürlich absoluter Blödsinn und ein Etikettenschwindel, den sie so gar nicht nötig hatten.

Wie war der Umgang zwischen Ost- und Westbesetzern zu dieser Zeit?

Nach der Maueröffnung gab es schnell viele Kontakte zu Westberliner Autonomen. Und die Westler waren anfangs auch sehr interessiert an uns und an unseren Ideen und »Geschichten aus der DDR«. Doch letztlich lief das immer gleich ab. Egal in welchen politischen Zusammenhang man sich begab, es hieß irgendwann: Na ja, ihr könnt bei uns mitmachen, wenn ihr wollt, aber ausschließlich nach unseren Regeln und Prinzipien. Eure DDR-Anekdoten sind ja ganz schön, aber Vergangenheit. Was hier jetzt kommt, hat mit euren Erfahrungen nichts zu tun. Wir wissen, wie man als Linke im Kapitalismus handelt und kämpft, und ihr nicht. Also ordnet euch schön brav unter, dann ist alles gut. Und es gibt manche, die haben so etwas gemacht, und eine Menge andere eben nicht. Wir haben dann in Prenzlauer Berg lieber erst einmal eine eigene Antifa aufgebaut, die viele Jahre sehr gute und erfolgreiche Arbeit geleistet hat. Viele Gruppen im Osten haben dann auch ihre eigenen Strukturen und Vernetzungen entwickelt. Bis Mitte neunziger Jahre gab es da teilweise eine richtige politische Eiszeit zwischen großen Teilen der autonomen und radikalen Linken in der Ex-DDR und der BRD.

Welche Bedeutung hatte die Räumung der Mainzer Straße für dich?

Aber auch wenn ich Probleme mit der politischen Dominanz der Mainzer Straße hatte, war es wichtig und keine Frage, die Mainzer zu verteidigen. Denn das war ja nicht nur ein Angriff des Staates auf die Leute in der Mainzer, sondern auf die Struktur, auf unser Modell von Leben und Gesellschaft. Die haben uns und allen gezeigt, wo der Hammer hängt, und ihren Herrschafts- und Machtanspruch klar und deutlich unterstrichen. Gnadenlos. Skrupellos. Dieser Staat tut alles, um seine Macht zu sichern. Wenn es ­darauf ankommt, wird nicht gezögert und auch auf die eigene Bevölkerung geschossen. Übrigens im Gegensatz zu den Herrschenden in der DDR. Die haben sich das 1989 nicht getraut.

http://jungle-world.com/artikel/2015/35/52560.html

Interview: Peter Nowak

Roma haben Anspruch auf eine Notunterkunft

Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg entscheidet zugunsten betroffener Familie aus Rumänien

Eine Familie landete aus dem Skandalhaus »Grunewaldstraße 87« in Schöneberg zwangsweise auf der Straße. In solchen Fällen muss der Bezirk eine Unterbringung organisieren, entschied ein Gericht.

Rumänische Staatsbürger, die in Berlin leben, haben Anspruch auf eine Notunterkunft. Mit diesem vor wenigen Tagen getroffenen Beschluss verpflichtet der 1. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg den Bezirk Tempelhof-Schöneberg, eine rumänische Frau und ihre beiden Kleinkinder nach dem Allgemeinen Gesetz zum Schutz der Sicherheit und Ordnung (ASOG) in einer Notunterkunft unterzubringen.

Die junge Mutter hat vor Gericht eidesstaatlich versichert, mit ihren beiden Kindern seit Ende Juli 2015 obdachlos gewesen zu sein und in einem Park übernachtet zu haben. Da ihre Kinder bereits erkältet seien, sei sie um ihre Gesundheit besorgt, benannte die Frau den Grund für die Klage.

Zuvor hat die Mutter mit den beiden Kindern in der Grunewaldstraße 87 in Schöneberg gelebt. Das Haus war in die Schlagzeilen geraten, nachdem bekannt geworden war, dass der Eigentümer die Zimmer teuer vermietet und die Bewohner schikaniert und bedroht (»nd« berichtete). Vor Gericht gab die Klägerin an, dass der Vermieter die Eingangstür zugenagelt und ihr mit körperlicher Gewalt den Zugang verwehrt habe, so dass ihr ein weiterer Aufenthalt in dem Haus nicht möglich gewesen sei. Trotzdem hatte die Abteilung Gesundheit, Soziales und Stadtentwicklung des Bezirks Tempelhof-Schöneberg noch Ende Juli die Unterbringung der Frau mit ihren beiden Kindern in einer Notunterkunft abgelehnt. »Derzeit erhalten Sie keine ausreichenden Leistungen zur Sicherstellung des Lebensunterhaltes, mithin auch nicht zur Zahlung etwaiger Kosten einer Notunterbringung«, heißt es in dem »nd« vorliegenden Ablehnungsbescheid der Behörde.

Dort wurde der Frau die Übernahme der Rückreisekosten nach Rumänien in Aussicht gestellt. »Sie erhielten mithin die Möglichkeit, ihre Obdachlosigkeit zu beenden«, heißt es. Das Oberverwaltungsgericht wies diese Begründung zurück, weil sich die Antragstellerin mit ihren Kindern als Unionsbürger rumänischer Staatsangehörigkeit rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte. »Daher spricht derzeit nichts dafür, dass die Antragssteller als Unionsbürger trotz ihres rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet auf die Möglichkeit einer Rückkehr in das Heimatland verwiesen werden könnten, um die Gefahr der Obdachlosigkeit abzuwenden«, heißt es in der Begründung des Oberverwaltungsgerichts.

Die Romaselbsthilfeorganisation Amaro Foro begrüßt die Entscheidung. »Wir haben für die Familien mit schlechter SGB-II-Prognose die Unterbringung nach dem ASOG vom Bezirk gefordert«, erklärt die Amaro Foro-Mitarbeiterin Andrea Wierich. In einem offenen Brief an die Bezirksbürgermeisterin von Tempelhof-Schöneberg, Bürgermeisterin Angelika Schöttler (SPD) war diese Forderung unter anderem vom Berliner Bündnis gegen Zwangsräumungen und Antirassismusgruppen unterstützt worden. Der juristische Erfolg könnte weitere ehemalige Bewohner der Grunewaldstraße 87 nun ebenfalls zum Einklagen von Notunterkünften ermutigen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/982820.roma-haben-anspruch-auf-eine-notunterkunft.html

Peter Nowak

Flüchtlinge abschieben im Thor-Steinar-T-Shirt geht gar nicht

Über das deutsche Dispositiv und die Symbolpolitik in der Flüchtlingsdebatte

Angesichts der toten Flüchtlinge in einem Transporter in Österreich [1] macht eine Berliner Boulevardzeitung mit der Schlagzeile „Weine Europa“ auf und ruft zum Handeln auf. Die Losung am Schluss zeigt die Stoßrichtung: „Schlepper bekämpfen“, heißt sie und somit wird nur aktualisiert, was der Mainstream in Politik und Medien seit Jahren predigt.

Nicht die gesetzlichen Regelungen, die Flüchtlinge zwingen, die Dienste der Schlepper in Anspruch zu nehmen, empört die Mehrheit, die nichts mit Pegida zu tun haben will. Für Aufregung sorgt, dass durch die Schlepper das durch die unvernünftige Wirtschaftsordnung hervorgehobene Elend der Welt ins Zentrum der EU gebracht wird.

Wären die Leichen der Geflüchteten nicht in einem Auto in Österreich gefunden worden, hätten sie auch kaum eine Notiz in den Medien gefunden. Aus den Augen, aus dem Sinn, heißt die Devise. Und wenn die Menschen nicht im EU-Raum sterben, braucht sich die Politik auch keine Gedanken über eine andere Flüchtlingspolitik zu machen.

Der Notstand von Heidenau

Auch das sächsische Heidenau ist in den letzten Tagen zum Zentrum einer Symbolpolitik geworden, in deren Zentrum Grundgesetz, Versammlungsfreiheit, Demokratie und das Ansehen Deutschlands verteidigt werden müssen. Nur: Die Geflüchteten, also die Menschen, die konkret von den Rechten bedroht wurden und werden, werden höchstens bei zivilgesellschaftlichen Gruppen [2] erwähnt. Da nahm Cem Özdemir von den Grünen schon mal seinen ganzen Gratismut zusammen und kündigte [3] zu einem Zeitpunkt an, am Wochenende nach Heidenau zu fahren, als dort noch alle Veranstaltungen vom Ordnungsamt verboten worden waren.

Als Begründung wurde ein Polizeinotstand genannt, der vor Monaten während der Hochzeit von Pegida auch schon zu Demonstrationsverboten in Leipzig führte. Özdemirs Ankündigung, nach Heidenau zu kommen, sorgte noch am Mittag für Kritik. Der Politiker hätte keinen Respekt vor dem Rechtsstaat, lautete der Vorwurf. Wenige Stunden später hob ein Gericht das Demonstrationsverbot auf, weil der polizeiliche Notstand nicht genügend begründet gewesen sei.

Noch wird über den genauen Ort des „Willkommensfests“ gestritten und weitere juristische Auseinandersetzungen sind nicht unwahrscheinlich. Doch wie immer der Streit ausgeht, am Ende wird schon der Rechtsstaat Deutschland gewonnen haben und die Forderung nach mehr Polizei wird dann die konkrete Folge sei .

Die Geflüchteten sind dabei nur Kulisse dieser Symbolpolitik. Wenn die Politiker und die eingebetteten Medien das Städtchen wieder verlassen haben, bleiben die Geflüchteten wieder mit den Rechten allein. Nur einige solidarische Initiativen aus der Umgebung werden versuchen, zumindest einige minimale Zivilstandards durchzusetzen. Dabei gibt es auch unter den solidarischen Menschen Streit darüber, ob man nicht vielmehr dafür sorgen sollte, dass die Geflüchteten nicht mehr in den Orten leben müssen, wo sie nicht erwünscht sind.

In der letzten Woche hatten in Leipzig linke Gruppen den Transport von weiteren Flüchtlingen nach Heidenau durch eine Blockade verhindert [4]. Die Menschen haben vorher deutlich gemacht, dass sie sich weigern, an den Ort umgesiedelt zu werden. Der Widerstand ist konsequent. Schließlich sollten antirassistische Gruppen nicht zum Vollstrecker der staatlichen Flüchtlingspolitik werden, zu der auch die zwangsweise Unterbringung von Menschen an Orten gehört, in die sie nicht wollen. „Nein zum Heim“ war schließlich ursprünglich eine antirassistische Parole, bevor sie von Pegida und Co. gekapert wurde.

Politisch korrekt abschieben

Ist es nun auch ein antirassistischer Erfolg, dass in Baden-Württemberg ein Busfahrer entlassen wurde, der bei seiner Fahrt ein T-Shirt mit Symbol der in rechten Kreisen beliebten Modemarkte Thor Steinar getragen hat? Das Busunternehmen begründete [5] die Entlassung damit, dass es wichtig sei, in dieser sensiblen Frage ein Zeichen zu setzen.

In dem Bus saßen abgelehnte Flüchtlinge, die von Karlsruhe zum Airport Baden/Baden transportiert wurden, wo sie abgeschoben wurden. Wo die Menschen leben werden, wenn sie Deutschland verlassen haben, ob ihnen wirtschaftliche Not oder vielleicht sogar Verfolgung drohen, weiß niemand und interessiert auch nicht. Aber dass politisch korrekt abgeschoben wird und der Busfahrer nicht ein T-Shirt mit einem Zeichen trägt, dessen Bedeutung wahrscheinlich ein Großteil der Businsassen gar nicht vertraut ist und das sie mangels anderer Probleme auch gar nicht beachtet haben, war ein Signal an die Öffentlichkeit.

„Der hässliche Deutsche ist zurück. Scharfmacherisch im Ton, unerbittlich gegenüber Griechenland, entwürdigend im Umgang mit Flüchtlingen“, schrieb der Publizist Georg Seeßlen in einem Taz-Kommentar [6] über das neue deutsche Dispositiv. Er vergaß noch hinzufügen, dass dabei aber alles politisch korrekt zugehen soll.

Denn Flüchtlinge zur Abschiebung mit einem Thor-Steinar-T-Shirt fahren, das geht gar nicht.

http://www.heise.de/tp/news/Fluechtlinge-abschieben-im-Thor-Steinar-T-Shirt-geht-gar-nicht-2793934.html?view=print

Peter Nowak

Links:

[1]

http://www.heise.de/tp/artikel/45/45828/1.html

[2]

http://www.dresden-nazifrei.com/index.php/34-aufruf/aufruf/711-heute-die-pogrome-von-morgen-verhindern

[3]

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/heidenau-cem-oezdemir-will-trotz-verbot-demonstrieren-a-1050253.html

[4]

http://www.sueddeutsche.de/news/politik/fluechtlinge-blockade-in-leipzig-asylsuchende-nicht-nach-heidenau-verlegt-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-150824-99-11730

[5]

http://www.focus.de/politik/deutschland/abgelehnte-asylbewerber-gefahren-t-shirt-mit-neonazi-symbolen-busfahrer-nach-fahrt-mit-fluechtlingen-gefeuert_id_4908717.html

[6]

http://www.taz.de/!5223522/

Mehr Interesse verdient

»Wenn irgendjemand den deutschen Fahnen einen durchschlagenden Erfolg über seine Feinde wünscht, so sind wir das. Grüßt unsere Mitglieder und wir fordern von ihnen treue Pflichterfüllung bis zum Äußersten (…) und dann immer feste druff.« Es war der Vorsitzende der Stuttgarter Ortsgruppe des Deutschen Metallarbeiterverbands Karl Vorhölzer, der Ende August 1914 seine Gewerkschaftskollegen mit nationalem Pathos darauf einstimmte, für Kaiser und Vaterland in den Krieg zu ziehen. Da konnte der Verfasser eines Artikels in der Gewerkschaftszeitung – Organ des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes – am 29. April 1933 mit historischer Berechtigung das NS-Regime an die nationale Aufgaben erinnern, die die Gewerkschaften geleistet hätten. »Darüber hinaus vollbrachten die Gewerkschaften ein nationales Erziehungswerk an der deutschen Arbeiterschaft, das so sehr aus deutscher Tradition herauswächst, dass es bisher weder in der Prägung noch im Ausmaß in keinem anderen Land der Welt dergleichen gefunden hat.« Es ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der Fülle des Materials, das der Bremer Historiker Helge Döhring in dem Buch »Generalstreik! Streiktheorien und -diskussionen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie vor 1914« zusammengetragen hat. Das Buch wäre ohne das »Institut für Syndikalismusforschung« (Syfo) nicht möglich gewesen, zu dessen Mitbegründern Döhring zählt.

Das Syfo wurde 2007 mit dem Ziel gegründet, eine Geschichte der Basisgewerkschaften zu schreiben. Die Forschungsarbeit des Syfo beweist, dass seit mehr als 100 Jahren Basisgewerkschaften existierten, die von den Großorganisationen immer bekämpft oder totgeschwiegen wurden. Bis heute wird selbst in der kritischen Gewerkschaftsforschung diese unabhängige syndikalistische Bewegung bestenfalls als Fußnote abgetan. Das Syfo ist mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, die historischen Spuren einer Basisgewerkschaftsarbeit auszugraben, die nicht auf gut gepflegte Archive der Großorganisationen zurückgreifen kann. Die bisherigen Veröffentlichungen zeigen, dass dennoch bereits eine Menge geleistet worden ist. Das Syfo liefert einen eigenständigen Beitrag zur Gewerkschaftsforschung.

Doch das Forscherteam will auch Antworten auf die Fragen heutiger gewerkschaftlicher Organisierung geben, schließlich wird seit einigen Jahren in einer größeren Öffentlichkeit Gewerkschaftsarbeit nicht mehr automatisch mit dem DGB gleichgesetzt. Gewerkschaftliche Organisationen wie die anarchosyndikalistische FAU oder die Lokführervertretung GDL haben bewiesen, dass sie oft sogar kampffähiger als der DGB sein können. Die Forschungsarbeit des Syfo, die die basisgewerkschaftliche Geschichte aufarbeitet, verdient daher Aufmerksamkeit von aktiven Gewerkschaftern, egal, wo sie organisiert sind.

http://www.syndikalismusforschung.info/

Peter Nowak

Bespitzelung der linken Szene Heidelbergs war rechtswidrig

Viele von der Ausspähung durch Polizeispitzel Betroffene suchten den Rechtsweg und bekommen auch Recht. Doch ob damit das Spitzelwesen eingedämmt werden kann, ist noch offen

Der Einsatz eines verdeckten Ermittlers im Jahr 2010 gegen die linke Szene in Heidelberg war nachweislich umfassend rechtswidrig: Das entschied das Verwaltungsgericht Karlsruhe [1] am Mittwoch. Damit setzten sich die sieben von der Bespitzelung Betroffenen durch, die die Klage ins Rollen brachten. So fand ein Spitzeleinsatz gegen linke Strukturen noch eine juristische Bewertung, der 2010 für Aufsehen sorgte [2].

Simon Bromma war in die linke Szene Heidelbergs eingeschleust worden und sollte eine antifaschistische Gruppe ausspähen. Doch Simon Brenner, wie der Alias-Namen von Bromma lautete, suchte auch Kontakt zu linken studentischen Initiativen und beteiligte sich auch an bundesweiten Bündnistreffen. Nach knapp 9 Monaten endete die verdeckte Arbeit von Bromma, als er durch Zufall enttarnt wurde.

Eine Urlaubsbekanntschaft erkannte den vermeintlichen Germanistikstudenten als Polizisten und informierte seine neuen Bekannten und vermeintlichen Freunde. Die stellten den vermeintlichen Genossen zur Rede, der innerhalb kurzer Zeit seine Spitzeltätigkeit einräumte und aus Heidelberg verschwand.

2014 hat dann die Frankfurter Rundschau den enttarnten Spitzel wieder entdeckt [3]. In Zeitungsanzeigen versprach er als alternativer Reiseveranstalter Mountainbikegruppen „Spannung, Spaß und Schokolade“ bei Touren durch die Alpen.

Die von der Ausspähung Betroffenen gründete den Arbeitskreis Spitzelklage [4], die am gestrigen Mittwoch erfolgreich war. Die Vorsitzende Richterin des Karlsruher Verwaltungsgericht Anna Mayer konnte keine konkrete Gefahr bei einem der beiden Zielpersonen der Ausspähung sehen. Die konkrete Gefahr einer Straftat mit erheblicher Bedeutung ist aber die Voraussetzung für den Einsatz eines verdeckten Ermittlers der Polizei.

Michael Dandl, der eine der Zielpersonen war, auf die Bromma angesetzt werden sollte, erklärte gegenüber Telepolis der AK Spitzelklage werde nun beratschlagen, ob die Betroffenen Klagen auf Schadenersatz wegen der unrechtmäßigen Überwachung einreichen. Der AK sieht im juristischen Weg vor allem einen Teil des politischen Kampfes gegen die Überwachung linken Zusammenhänge.

Etwas Sand in das Getriebe des Überwachungsapparates streuen

„Wir können den Repressionsorganen damit etwas Sand ins Getriebe streuen“, hofft Dandl. Doch mit der außerparlamentarischen Widerständigkeit hapert es etwas. Die AG Spitzeleinsatz hatte am vergangenen Samstag in Heidelberg eine Demonstration organisiert, hätte sich aber eine größere Beteiligung [5]gewünscht. Neben den Semesterferien, die in der Universitätsstadt Heidelberg die politische Arbeit erschweren, könnte auch die Häufung von Spitzeleinsätzen gegen linke Zusammenhänge zu einer Abstumpfung beigetragen haben.

Sehr bekannt geworden ist der europaweit agierende Polizeispitzel Mark Kennedy, der in Großbritannien weiterhin die Gerichte beschäftigt [6]. Der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko hatte in einem Brief an die britische Justiz darauf hingewiesen [7], dass Kennedy auch in Deutschland linke Zusammenhänge ausspioniert hat. Zudem hat er freundschaftliche Beziehungen zu Frauen aus den außerparlamentarischen Bewegung geknüpft.

Mehrere der Betroffenen haben Klagen eingereicht. Auch in diesem Fall ist das öffentliche Interesse in Deutschland zurückgegangen. Dabei böten doch gerade die juristischen Schritte in Großbritannien eine gute Gelegenheit, auch hierzulande den Druck zu erhöhen. Man würde sich wünschen, dass ein Teil der medialen Empörung, die die NSA-Überwachung in Deutschland auslöste, auch auf Bespitzelungen verwendet würde, bei dem keine US-Stellen involviert sind.

Es muss sich noch zeigen, ob die optimistische Einschätzung des AK Spitzelklage Bestand hat, die das gestrige Urteil so kommentierten [8]:

Das Urteil ist eine schallende Ohrfeige für einen Repressionsapparat, der sich für allmächtig hält und seine Befugnisse im Verborgenen immer weiter ausbaut.

Undercover-Polizeibeamtin in Hamburg aufgedeckt

Es stimmt schon, dass juristisch schon mehrere Spitzeleinsätze nachträglich für rechtswidrig erklärt wurde. Ähnlich wie es auch häufig mit harten Polizeieinsätzen geschah. Doch genau so wenig wie damit für die Zukunft ausgeschlossen werden kann, dass die Polizeieinsätze weiter repressiv bleiben, so kann auch eine Zurückweisung von Bespitzelungen nicht verhindern, dass in anderen Fällen weiter linke Zusammenhänge ausgeforscht werden.

So wurde von einer linken Recherchegruppe in Hamburg erst vor wenigen Tagen die verdeckte Polizeibeamtin Maria Böhmichen enttarnt [9], die unter dem Namen Maria Block zwischen 2010 und 2012 in linken Zusammenhängen Hamburgs aktiv war und auch internationale Bündnistreffen besuchte.

Erst vor knapp einen Jahr war in Hamburg die verdeckte Ermittlerin Iris Schneider enttarnt worden [10]. Sie hat unter Anderem lange beim Freien Sendekombinat aktiv mitgearbeitet [11]. Die Betroffenen haben ebenfalls Klage gegen die Bespitzelung eingeleitet.

http://www.heise.de/tp/news/Bespitzelung-der-linken-Szene-Heidelbergs-war-rechtswidrig-2792072.html

Peter Nowak 

[1]

http://vgkarlsruhe.de/pb/,Lde/Startseite

[2]

http://www.heidelberg.rote-hilfe.de/docs/20110110-Bromma.html

[3]

http://www.fr-online.de/politik/fall-simon-brenner-entdeckter-ermittler,1472596,26211830.html

[4]

http://spitzelklage.blogsport.de/

[5]

http://spitzelklage.blogsport.de/2015/08/22/pe-zur-heutigen-demonstration/

[6]

http://www.theguardian.com/uk-news/undercover-with-paul-lewis-and-rob-evans/2015/jul/17/judge-leading-public-inquiry-into-undercover-police-to-speak-for-the-first-time?CMP=share_btn_tw

[7]

https://twitter.com/AndrejHunko/status/624538990344056832

[8]

http://spitzelklage.blogsport.de/2015/08/26/pe-vg-karlsruhe-betrachtet-den-heidelberger-spitzeleinsatz-als-rechtswidrig/

[9]

https://enttarnungen.blackblogs.org/

[10]

http://www.fr-online.de/panorama/verdeckte-ermittlerin-in-hamburg-was-von–iris-schneider–uebrig-blieb,%201472782,29484000.html

[11]

http://www.fsk-hh.org/blog/2015/05/08/pressemitteilung_zurueck_ins_lektorat_floragate

Spitzeleinsatz war rechtswidrig

In Hamburg wurde erneut eine verdeckte Ermittlerin enttarnt

Das Verwaltungsgericht Karlsruhe hat Heidelberger Aktivisten Recht gegeben: Der Einsatz eines verdeckten Ermittlers war rechtswidrig. In Hamburg wurde am Mittwoch erneut eine Beamtin enttarnt.
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Verkleidete Demonstranten vor dem Verwaltungsgericht in Karlsruhe

Foto: dpa/Deck

Erfolg auf ganzer Linie: Der Aktivist Michael Dandl und sechs weitere Heidelberger Linke bekamen am Mittwoch Recht. Das Verwaltungsgericht Karlsruhe erklärte einen Spitzeleinsatz für rechtswidrig, der sich gegen Dandl, Aktivist in der Roten Hilfe und der Autonomen Antifa Heidelberg sowie eine weitere Person richtete. Betroffen von der Ausspähung sind allerdings viele Aktivisten der Heidelberger Linken. Sieben Betroffene reichten die Klage ein, die sie nun gewonnen haben.

Die Enttarnung des Polizeispitzels Simon Bromma hatte Ende 2010 bundesweit für Aufsehen gesorgt. Der junge Mann war in die linke Szene Heidelbergs eingeschleust worden und sollte die Autonome Antifa ausspähen. Doch Simon Brenner, wie der Alias-Namen des verdeckten Ermittlers lautete, suchte Kontakt zu linken studentischen Initiativen wie dem SDS und beteiligte sich auch an bundesweiten Bündnistreffen. Nach knapp neun Monaten endete die verdeckte Arbeit von Bromma, als er durch Zufall enttarnt wurde. Eine Urlaubsbekanntschaft erkannte den vermeintlichen Germanistikstudenten als Polizisten und informierte seine neuen Bekannten. Die stellten den vermeintlichen Genossen zur Rede, der innerhalb kurzer Zeit seine Spitzeltätigkeit einräumte und aus Heidelberg verschwand.

Juristisch fing die Auseinandersetzung da gerade erst an. Die von der Ausspähung Betroffenen gründeten die Arbeitsgruppe Spitzelklage und erstatteten Anzeige. Ihnen gab die Vorsitzende Richterin des Karlsruher Verwaltungsgericht, Anna Mayer, nun Recht. Sie konnte bei beiden Zielpersonen keine konkrete Gefahr erkennen. Die konkrete Gefahr einer Straftat mit erheblicher Bedeutung ist aber Voraussetzung für den Einsatz eines verdeckten Polizeiermittlers. Dandl erklärte gegenüber »nd«, die Gruppe werde nun beraten, wie sie weiter vorgeht. Eine Klage auf Schadenersatz wegen unrechtmäßiger Überwachung sei ebenso denkbar wie eine Klage gegen das Polizeigesetz von Baden-Württemberg.

Doch es geht ihnen nicht in erster Linie um die juristische Auseinadersetzung. Die Gruppe will mit ihrer Arbeit vor allem die Überwachung linken Zusammenhänge thematisieren. »Wir wollten die Unrechtmäßigkeit der Maßnahme feststellen und weitere Bespitzelung für die Zukunft erschweren«, begründete Michael Dandl gegenüber »nd«. »Wir können den Repressionsorgane damit etwas Sand ins Getriebe streuen.«

Auch Martin Singe vom Komitee für Grundrechte und Demokratie sieht Klagen von Betroffenen von Spitzeleinsätzen vor allem als ein Mittel der Öffentlichkeitsarbeit. Die AG Spitzeleinsatz hatte am vergangenen Samstag in Heidelberg eine Demonstration organisiert, hätte sich aber eine größere Beteiligung gewünscht. Doch es sind Semesterferien in der Universitätsstadt Heidelberg, das erschwert die politische Arbeit.

In Hamburg wurde am Mittwoch eine weitere verdeckte Ermittlerin von einer linken Recherchegruppe enttarnt. Die Polizeibeamtin Maria Böhmischen war demnach unter dem Namen Maria Block zwischen 2009 und 2012 in linken Zusammenhängen Hamburgs aktiv und hat auch internationale Bündnistreffen besucht. Sie sei dabei »tief in die Strukturen der linken Szene eingedrungen«, heißt es in einer Erklärung.

Christiane Schneider, Vizepräsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft forderte rasche Aufklärung. »Wenn die Vorwürfe zutreffen, dann offenbart das ein großes Problem der Polizei«, erklärt die innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft.

Ein Sprecher der Polizei bestätigte dem Norddeutschen Rundfunk am Nachmittag, dass es sich bei der mutmaßlichen Aktivistin um eine Hamburger Beamtin handele. Nun gelte es, »die Gesamtumstände zu diesem Fall« zu prüfen.

Erst Ende 2014 war in Hamburg eine Aktivistin als LKA-Beamtin enttarnt worden. Der Fall Iris Schneider beschäftigt bis heute die Innenbehörden.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/982580.spitzeleinsatz-war-rechtswidrig.html

Peter Nowak

Spätsommer des Deutschen Rassismus

Grenzenloser Streik

Auch am Amazon-Standort im polnischen Poznan wurde gestreikt.

Transparente hingen in der letzten Junihälfte rund um das Amazon-Werk im polnischen Poznań.»Wir unterstützen die Streiks bei Amazon in Deutschland«, war auf den Bannern zu lesen.  Es blieb nicht bei Bekenntnissen. Die Nachtschicht bei Amazon in Poznań solidarisierte sich Vom 24. auf den 25. Juni  solidarisierte sich die Nachtscickt durch demonstratives Bummelstreiken mit dem Arbeitskampf bei Amazon-Deutschland. Andere Beschäftigte stellten kurzfristig Urlaubsanträge, um keine Streikbrecher_innen  zu werden. Tage vorher hatten Mitglieder der anarchosyndikalistischen Inicjatywa Pracownicza (IP) in dem Werk Flugblätter über den Verdi-Streik in Deutschland verteilt. Als Dezember 2014 die Werke in Poznań und Wrocław eröffent wurden,  erklärte der Logistikchef von Amazon Europe, Tim Collins, dass die polnische Dependance für pünktliche Lieferungen an Amazon-Kunden sorgen werde, auch wenn Verdi in Deutschland zum Arbeitskampf aufrufe  „Amazon-Pakete kommen jetzt aus Polen“, titelte das Handelsblatt am 15. Dezember 2014.  Damals  brachten an verschiedenen Amazon-Standorten in Deutschland   Beschäftigte  das Weihnachtsgeschäft des Online-Magazins  durch Streiks ins Stocken.    Anfang Juli 2015 musste denn auch das Handelsblatt melden, dass die Beschäftigten bei Amazon-Poznan ebenfalls für höhere Löhne  und der Angleichung von Löhnen und  Arbeitsbedingungen  an die Verträge in anderen europäischen Ländern kämpfen. In einer Reportage für die Welt vom 18.7. wurde gar ein besonders negatives Bild von den Arbeitsbedingungen bei Amazon-Poznan gezeichnet:„13 Zloty pro Stunde verdienen die Arbeiter: drei Euro. Stühle gibt es nicht, dafür unbezahlte Überstunden. In Polen bekommt Amazon jetzt Ärger mit staatlichen Prüfern – und den eigenen Angestellten.“ Damit soll suggeriert werden, dass es die besonders schlechten Arbeitsbedingungen in Poznan sind, die zu der Kampfbereitschaft führten. Damit soll die transnationale Dimension des Arbeitskampfs ausgeblendet werden. Auffällig ist auch, dass die Gewerkschaft IP, die die Kämpfe bei Amazon-Poznan führt, in dem  Welt-Artikel  nicht erwähnt wird. Damit bleibt das Blatt aus dem Hause Springer seiner Linie treu, linke Basisgewerkschaften entweder zu verschweigen oder  wie die Freie Arbeiter_innen Union  (FAU) als linksextremistisch zu diffamieren. Mittlerweile hat das Amazon-Management eine Lohnerhöhung für die ca. 2000 Beschäftigten von Amazon-Poznan  zugestimmt. Für die IP ist dieser erste Erfolg  ein Ergebnis der Kampfbereitschaft der Beschäftigten und kein Grund,  die Auseinandersetzungen zu beenden oder die transnationale  Ebene zu vernachlässigen.
Mitte Mai organisierte die Gewerkschaft unter der Parole »My Prekariat« (Wir Prekären) eine erste Warschauer Mayday-Parade mit knapp 350 Teilnehmer_innen. Neben Beschäftigten von Universitäten, Bauarbeiter_innen, Theaterleuten und Erzieher_innen  beteiligten sich auch Arbeiter_innen  von Amazon aus  Polen und Deutschland an der Aktion. Vom 2. bis zum 4. Oktober 2015  wird  unter dem Motto „Dem transnationalen Streik entgegen“   zu einer Tagung  nach Poznan eingeladen.  In Arbeitsgruppen soll erörtert werden, wie man sich kollektiv gegen die Fragmentierung und Individualisierung der Arbeit wehrt. Es geht um die Vernetzung fester und befristeter Angestellter und die Frage, wie die kapitalistische Ausbeutung länderübergreifend angegriffen werden kann. „Wir treffen uns in Poznan, um die Beteiligung aus den osteuropäischen Ländern zu erhöhen, denn diese stehen im Mittelpunkt des heutigen Ausbeutungsregimes. Ziel ist es auch, den Austausch zwischen Arbeits- und sozialen Kämpfen zu vertiefen, über bestehende Grenzen und Regionen hinweg“, wird die Ortswahl begründet Die  polnischen Kolleg_innen haben schon  in den letzten Monaten deutlich  gemacht haben, dass es ihnen um die Mobilisierung der Basis und nicht um einen Austausch unter Gewerkschaftsfunktionär_innen geht.  Auch die Solidarisierung mit den Amazon-Streiks in Deutschland ging von der Belegschaft aus.  Eine IP-Aktivistin erklärte  in einem Interview mit der jungen Welt, wie es zu der Aktion kam, als die Geschäftsleitung von Amazon von den Beschäftigten in Poznan angesichts des Streiks in Deutschland Mehrarbeit verlangt hätten:
„Wir sollten also Streikbrecherarbeit machen. Das machten wir den Kollegen auf Flugblättern deutlich. Wir waren auch mit Streik-T-Shirts im Betrieb und machten den Arbeitskampf in Deutschland zum Gesprächsthema. In dieser Situation ist ein sogenannter wilder Streik ausgebrochen – den haben nicht wir organisiert, was wir als Gewerkschaft auch gar nicht dürfen. Es war eine spontane Aktion aus Wut über die angeordneten Überstunden, während die deutschen Kollegen im Ausstand waren. Sie zeugte von der großen Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen bei Amazon in Polen. Und der Gedanke der Solidarität war ganz wichtig, denn als früher Überstunden angeordnet wurden, hat es keinen derartigen Protest gegeben“.
Die Pressesprecherin des Verdi-Bundesvorstandes Eva Völpel erklärte, dass  ihre Gewerkschaft bisher nicht mit der IP  sondern mit der sozialpartnerschaftlich ausgerichteten polnischen   Gewerkschaft Solidarnosc kooperierte. Die Kooperation mit der IP wurde bisher vor allem von der außerbetrieblichen Amazon-Solidarität vorangetrieben.
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Transnationale Streikkonferenz in Poznań

Unter dem Motto „Dem transnationalen Streik entgegen“ wird zu einer Konferenz aufgerufen, die vom2. Oktober bis 4. Oktober stattfindet. Vor allem prekär Beschäftigte und prekär Lebende sowie Aktivist_innen sind aufgerufen, ins polnische Poznań zu kommen, um gemeinsam über Perspektiven nachzudenken und Handlungsoptionen zu entwickeln. Angesichts der „neuen Realitäten in Europa“ müsse sich auch gegen die Austerität und ihre Auswüchse gerichtet werden, heißt es im Aufruf. Die Zusammenkunft will einen Prozess zur Bewältigung von Hierarchien unter, zwischen und innerhalb Europas     und eine Sortierung in Festangestellte, Zeitarbeiter_innen und Erwerbslose, Migrant_innen und Einheimische sowie zwischen formellem und informellem Sektor weiter anstoßen. Grundlegende Streitfragen stehen auf der Agenda für das Wochenende. So wird besprochen, weshalb  sich die transnationalen Fabrikations- und Versorgungsketten der Produktion verändert haben, wie Grenzen überwunden werden können oder warum traditionelle Formen der Arbeitskämpfe und Streiks überdacht werden sollten. Zugleich sind die  Rolle von Arbeitsmigrant_innen und Mobilität, die sozialen Bedingungen der Ausbeutung sowie neue Formen kollektiver, lokaler Organisierung Themen der geplanten Arbeitsgruppen.  Ziel der in englischer Sprache stattfindenen Konferenz ist es, Taktiken und Forderungen zu entwickeln, die sich als Werkzeuge für transnationale Organisierung und Kommunikation eignen.

ak 607 vom 18.8.2015

https://www.akweb.de/

Peter Nowak

Pegida regiert in Europa schon mit

Was in Deutschland bisher vor allem auf rechtspopulistischen Webseiten oder Pegida-Aufmärschen zur Abschreckung von Geflüchteten diskutiert wird, ist in manchen europäischen Ländern Regierungspolitik

Das Niemandsland kommt nach Europa zurück. Dabei handelt es sich um ein Stück zwischen den Grenzen. Das kann einen anarchistischen Zug bekommen, wie am Norbert-Kubat-Dreieck[1], wo Autonome 1988 einen zeitweilig weder von Ost- noch von Westberlin kontrollierten Zipfel für eine Besetzung nutzten.

Ein Niemandsland kann aber auch zu einem Ort der Ausgrenzung und Abschiebung werden. 1938 schob Nazideutschland Tausende aus Osteuropa nach Deutschland migrierte Jüdinnen und Juden Richtung Polen ab. Weil die polnischen Grenzen versperrt wurden, mussten sie unter erbärmlichen Umständen im Niemandsland zwischen den beiden Ländern ausharren. Unter den so Exterritorialisierten waren auch die Eltern jenes Herschel Grünspan, der als Protest gegen deren unmenschliche Behandlung ein Attentat auf den deutschen Gesandten in Paris, Ernst vom Rath, verübte, was die NS-Führung als Vorwand für die Reichspogromnacht am 9. November 1938 nutzte.

Wer gedacht hat, solche exterritorialen Zonen gehörten zumindest in Europa endgültig der Vergangenheit an, wurde in den letzten Wochen eines Schlechteren belehrt. So mussten in der vergangenen Woche tagelang mehr als tausend Geflüchtete im Niemandsland zwischen Griechenland und Mazedonien ausharren. Die Polizei setzte Blendgranaten und Tränengas ein. Schließlich konnte sie nicht verhindern, dass die Menschen die Absperrungen durchbrachen und die Grenze nach Mazedonien überquerten. Nachdem der Notstand ausgerufen worden ist und die Grenzen auch mit der Hilfe von Soldaten geschlossen werden sollten, hat man die Blockade am Sonntag wieder aufgehoben. Hunderte konnten die Grenze wieder passieren.

Ähnliche Szenen wie in Südosteuropa spielten sich in den letzten Wochen auch rund um den Eurotunnel in Calais, der nun auch offiziell zur Festung[2] ausgebaut wird.

Vor zwei Jahrzehnten wurde in antirassistischen Diskursen der Begriff Festung Europa verwendet. Es war eine Kritik an den Abschottungsmaßnahmen. Doch selbst viele, die den Begriff verwendeten, sahen ihn als Zuspitzung, um eine kritikwürdige Tendenz darzustellen. Heute kann man konstatieren: Es war keine Übertreibung. Überall an den Grenzen ist der Ausbau dieser kerneuropäischen Festung im Gange. Denn der Begriff muss natürlich konkretisiert werden. Die Festung Europa hat verschiedene Gräben und Ringe, die den besonders geschützten Kernbereich von Geflüchteten freihalten sollen.

Festungsideologie triumphiert in vielen europäischen Ländern

In den letzten Wochen wird in britischen Mainstream-Medien und von Regierungsmitgliedern über die Flüchtlingsabwehr so gesprochen, als ginge es darum, in einen Krieg zu ziehen. Tatsächlich wird das Wort Invasion verwandt und von „Migrantenswchwärmen“ gesprochen (Mauern und Abschreckung lösen das Flüchtlingsproblem nicht[3]).

Damit unterscheidet sich die britische konservative Regierung höchstens in Nuancen von den ungarischen Rechtspopulisten von der Fidesz, die nicht nur einen Zaun gegen Migranten errichtet hat, sondern auch die entsprechende Festungsideologie verbreitet (Ungarns Flüchtlingspolitik: Hetze, verschärftes Strafrecht und ein Zaun[4], „Iran wird als Gegengewicht zu Saudi-Arabien benötigt“[5]), die natürlich hierzulande bei Pegida-Aufmärschen gerne zitiert wird. Es ist schließlich genau ihre Ideologie, wenn der ungarische Ministerpräsident erklärt, dass Europa den Europäern gehören soll.

Obwohl niemand genau definieren kann, was ein Europäer ist, sind sich viele einig, dass Moslems nicht dazu gehören. Daher ist es nur konsequent, wenn die slowakische Regierung kundtat[6], keine Moslems als Geflüchtete aufnehmen zu wollen, weil die sich ja in einen Land ohne Moscheen nicht wohlfühlen würden.

Auch andere osteuropäische Länder haben in den letzten Monaten klar gemacht, dass sie, wenn überhaupt lieber christlichen Flüchtlingen Asyl gewähren werden. Dazu gehört die Ankündigung der polnischen Ministerpräsidentin Ewa Kopacz m Juni 2015, langfristig 150 christliche Familien aus Syrien aufnehmen, aber sonst keine anderen Verpflichtungen übernehmen zu wollen. Tschechiens Präsident Miloš Zeman wollte lieber Flüchtlinge aus der Ukraine als solche aus Afrika und dem Nahen Osten aufnehmen. In Lettland und Estland wird darüber gestritten, ob das Land überhaupt Flüchtlinge aufnehmen soll. Selbst der Vorschlag, maximal 200 Menschen Asyl zu gewähren, führte zu einer rassistischen Hetze in den Medien, bei der offen die „Gefahr für die weiße Rasse“ halluziniert wird.

Skandinavischer Wohlstandsrassismus

Auch in mehreren Ländern Skandinaviens wird ganz klar auf Abschreckung von Geflüchteten gesetzt. So hat sich die dänische Regierung das Ziel gesetzt, deren Zahl zu verringern. Weil die zahlreichen gesetzlichen Verschärfungen der letzten Jahre die Menschen nicht abgehalten haben, soll ihnen in Zeitungsanzeigen gezielt mitgeteilt[7] werden, dass sie nicht willkommen sind

Diese im Wesentlichen von der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei, die die aktuelle Regierung parlamentarisch unterstützt, diktierte Politik stößt in Dänemark auf Widerstand. Unter dem Motto „Flüchtlinge willkommen“ schalten zivilgesellschaftliche Gruppen Gegenanzeigen[8].

Auch in Tschechien haben sich vor allem Intellektuelle in einer Petition[9] gegen die Politik der Abschreckung und Fremdenfeindlichkeit gewandt. Dort wurde von einem humanistisch-menschenrechtlichen Standpunkt vor Rassismus und Ausgrenzung gewarnt. An die Politiker wurde appelliert, sich ihrer Verantwortung für alle Menschen bewusst zu werden.

Beim gegenwärtigen tschechischen Präsidenten Zeman kam dieser Apell dennoch nicht gut an. Ein Sprecher erklärte[10], damit werde die Kluft zwischen den Eliten und der tschechischen Gesellschaft vergrößert . Hier wird ein weiterer klassischer oft mit Antisemitismus und Intellektuellenfeindlichkeit verknüpfter Topos der Rechtspopulisten bedient, die sich als Vollstrecker einer Mehrheit und als Sprachrohr eines imaginierten Volkes wähnen, während die liberalen Eliten isoliert seien. Solche Töne hört man auch ständig bei den Pegida-Demonstrationen.

Festungsideologie als europäischer Standortnationalismus

Die politische Bandbreite der auf Ausgrenzung und Abschottung zielenden Kräfte reicht von klassischen Rechtspopulisten wie in Ungarn oder Dänemark bis zu nationalistischen Sozialdemokraten wie in Tschechien oder der Slowakei.

Während in Osteuropa vor allem ein Rassismus der in der kapitalistischen EU zu kurz Gekommenen praktiziert wird, ist es in Skandinavien vor allem ein Wohlstandschauvinismus, der verhindern will, dass auch Nichteuropäer von den dort starken sozialen Rechten profitieren können.

Diese Widersprüche finden sich in vielen europäischen Ländern. In Italien hetzte die Lega Nord als wohlstandschauvinistische Partei des Nordens jahrelang gegen die Zuwanderung aus den italienischen Süden. In der letzten Zeit versucht sie sich als eine Art italienischen Front National zu profilieren und hat sich auf die Hetze gegen Migranten konzentriert.

Die Widersprüche zwischen abgehängten Prekären und Wohlstandsrassisten findet man auch bei Pegida. Die Festungsidelogie ist die Klammer, die die sozial widersprüchlichen Gruppen zusammenhält. Selbst der Ärmste verteidigt dann noch seinen Platz in der Festung, auch wenn es nur eine Kasematte ist. So fungiert die Festungsideologie als europäischer Standortnationalismus, also als Kitt, der politisch und sozial völlig differente Gruppen gegen einen imaginierten Gegner zusammenschweißt.

Eine Bewegung, die sich gegen die Ausgrenzung von Geflüchteten wendet, darf daher nicht bei moralischen Apellen und Erklärungen stehenbleiben. Die Ideologie der Festung Europa als moderne Form des Standortnationalismus muss zum Gegenstand der Kritik werden. Die Forderung nach Rechten für Alle und überall wäre das beste Gegenmittel, denn es ist das direkte Gegenprogramm zu jeder Festungsordnung, wo Rechte individuellen Gruppen zugeteilt und aberkannt werden.

http://www.heise.de/tp/artikel/45/45781/1.html

Peter Nowak

Revanchistische Straßenschilder

»Grünberger Straße, ehem. Rominter Straße, geänd. 1936«. Dieser Satz steht auf einer pinkfarbenen Folie, die seit einer Woche an den Schildmasten in der gleichnamigen Straße im Berliner Stadtteil Friedrichshain kleben. An anderen Straßenecken werden wir über die Anzahl der McDonald’s-Filialen in Zielona Góra, wie Grünberg seit über 60 Jahren heißt, informiert.

»93 Straßenschilder« lautet der Titel einer Intervention im öffentlichen Raum. Es geht um neun Straßen in Friedrichshain, die noch immer die deutschen Namen polnischer Städte tragen. In Schulatlanten wurden die Städtenamen sehr zum Verdruss der Vertriebenenverbände vor Jahrzehnten aktualisiert. Anfang der neunziger Jahre wurde hingegen mit der Kadiner Straße der deutsche Name von Kadyny neu ins Berliner Straßenbild eingefügt. Schon vor zwei Jahrzehnten wurde auch in Friedrichshain die Debatte um die Umbenennung vor allen in der Besetzerbewegung geführt. Damals hat sich der Stadtteilladen in der Grünberger Straße den Namen Zielona Góra gegeben. Ob bald der Name des Ladens und der Straße übereinstimmen werden, ist aber noch unklar. Am 3. September soll im Galerieraum Alte Feuerwache über eine Umbenennung der Grünberger Straße diskutiert werden. Bereits vor der offiziellen Eröffnung der Aktion haben Rechte einige Folien abgerissen und NPD-Aufkleber hinterlassen. Dabei sind manche der Texte zur Intervention selber nicht gerade kritisch gegenüber dem Revanchismus. So wird behauptet, die deutschen Namen hielten den Gedanken an ein multikulturelles Europa wach. Und während auf einem Straßenschild erwähnt wird, wie viele Einwohner von Grünberg sich nach der Niederlage Nazi-Deutschlands das Leben nahmen, sucht man die Zahl der deportierten Juden und den Prozentsatz der NSDAP-Mitglieder in dem Ort vergeblich.

http://jungle-world.com/artikel/2015/34/52534.html

Peter Nowak

Tschüss für AHOJ – MieterInnen nutzen Nachbarschaftsfest für Protest gegen Gentrifizierung in Rixdorf

„Kauf Dich glücklich“, stand auf dem Transparent, dass am Donnerstagabend noch an einen Zaum gegenüber der Böhmischen Straße 53 in Berlin-Neukölln hing.
Es  erinnerte an ein turbulentes Nachbarschaftsfest auf dem Grundstück. Eingeladen hatten die Investoren und Projektentwickler des Wohnprojekts AHOJ am 20. August um 17 Uhr in der Böhmischen Straße 53.
„Bevor  wir mit dem eigentlichen Bau beginnen, möchten wir Sie herzlich zu einem Nachbarschaftsfest einladen“, hieß es auf Plakaten, die in den letzten Wochen rund um die Böhmische Straße in Berlin-Neukölln verteilt wurden. Schon eine halbe Stunde vorher hatten sich mehr als 100 Menschen versammelt, die erkennbar nicht nur zum Feiern bekommen waren. Manche hatten Transparente gegen Gentrifizierung dabei. Andere trugen Schilder, auf denen zu lesen stand: Neuköllner MieterInnen sagen Tschüss und AHOJ“. „Auf dem Grundstück sind 66 Eigentumswohnungen für wohlhabende  geplant. Dadurch wird der Druck auf Menschen mit geringen Einkommen in  Neukölln noch größer. Das wollen wir verhindern“, begründete eine Mitorganisatorin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen wollte, als Grund für den Protest, der zunächst vor dem Grundstück stattfinden musste.
Nach Rücksprache mit den EinladerInnen machte die Polizei schließlich den Weg frei und die  Protestierenden verteilten sich auf dem geräumigen Gelände. Es gab noch vereinzelt Sprechchöre, doch größere Aufmerksamkeit fand das kalte Büffet.  Vereinzelt gab es auch zu Diskussionen unter den Protestierenden. Während ein junger Mann bekräftigte, dass Wohnraum keine Ware sein darf und er die Mietzahlungen generell in Frage stellte, betone ein älterer Mann, dass er für eine Deckelung der Miete aber nicht für deren Abschaffung sei.  Eine Trommelgruppe und einige Clowns sorgten in den nächsten  90 Minuten für Erheiterung.  Danach verließen die KritikerInnen  des Bauprojekts das Grundstück. Eine geplante Spontandemonstration durch Neukölln wurde durch ein großes Polizeiaufgebot verhindert. Einige Menschen, die Schilder mit Protestslogans bei sich hatten, wurden in der Umgebung für kurze Zeit zwecks Personalienfeststellung eingekesselt.  Ein Mitorganisator bewertete im Gespräch mit dem MieterEcho die Aktion als Erfolg. Es sei in der Sommerpause gelungen, NachbarInnen und Initiativen wie das „Bündnis gegen Zwangsräumungen“ zu mobilisieren. Damit werde deutlich, dass viele Menschen sensibel für drohende Verdrängung in Stadtteilen geworden seien.

Rixdorfer Kiezversammlung geplant
Das Protestbündnis bereitet für den 19. September eine Kiezversammlung vor, wo über den weiteren Widerstand gegen die drohende Vertreibung von einkommensschwachen MieterInnen beraten werden soll. „Wir als Bewohner und Bewohnerinnen müssen ausziehen, unsere Nachbarschaft wird zerstört, wohnen sollen hier nur noch diejenigen, die angeblich das Straßenbild verschönern“, moniert das Mieterforum Rixdorf. Auch das Neuköllner Quartiersmanagement bestätigt, dass der geplante  Neubau in der Böhmischen Straße vielen BewohnerInnen  in der Nachbarschaft Anlass zur Sorge gibt. Es führt seit 2011 eigene Auswertungen von jährlich 20 – 30 aktuellen Wohnungsangeboten im Quartier durch. Diese ergaben einen Anstieg der durchschnittlichen Nettokaltmieten bei Neuvermietungen von 6,53 Euro pro Quadratmeter im Jahr 2011 auf 9,43 im Jahr 2015. Damit stiegen in den letzten vier Jahren die Mieten im Kiez  um  44%. Wenn die Pläne der Investoren in der Böhmischen Straße 53 aufgehen, könnte dieser Trend zunehmen. „Das Ahoj ist der perfekte Ort für Menschen, die nach einem privaten Rückzugsort suchen und dennoch den Pulsschlag der Stadt spüren möchten“, heißt es auf der Webseite von Ahoj.  Am 20. August haben die potentziellen Wohneigentümer schon mal den Sound des Mietenwiderstands gespürt.

MieterEcho online 21.08.2015

http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/ahoj.html

Peter Nowak

Hungerstreik gegen Hartz-IV Sanktionen

Ralf Boes demonstriert gegen das System der Sanktionen

Ralf Boes seit dem 1. Juli keine Nahrung mehr zu sich, um gegen die Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger zu protestieren. Kein Hungerstreik, sondern Folge der Sanktionspolitik. Doch es hagelt auch Kritik an dem Protest.

Mitten im Hauptstadttrubel am Brandenburger Tor findet man sich plötzlich in einer Wohnzimmeratmosphäre. Auf einen rustikalen Tisch steht eine Karaffe mit Wasser. Oft nehmen auf zwei Stühlen Menschen Platz. Sie stellen den Mann mit dem roten Schal auf den dritten Stuhl Fragen oder sprechen ihm Mut zu.

Schließlich nimmt Ralf Boes seit dem 1. Juli keine Nahrung mehr zu sich, um gegen die Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger zu protestieren. »Ich mache keinen Hungerstreik. Das Jobcenter hungert mich aus«, sagt Boes zu »nd«. Seit drei Jahren schon bekomme er kein Geld mehr, weil er sich weigert, an »sinnlosen« Maßnahmen zur Berufseingliederung teilzunehmen.

Bisher konnte sich Boes mit Hilfe von Unterstützern versorgen. Doch seit mehr als 50 Tagen verzichtet er auf diese Hilfe, um hungernd ein Signal zu senden. Boes verweist auf Erfolge in seinen Kampf. So habe ein von ihm initiiertes Gutachten das Sozialgericht in Gotha bewogen, Sanktionen für verfassungswidrig zu erklären. Seit Jahren setzt er sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein. Unter dem schönen Motto »Wählt gut – wählt Boes« kandidierte er bei Wahlen.

Dass er von »Bild« schon als »Deutschlands frechster Hartz-IV-Schnorrer« tituliert wurde, weil er 2012 in einer Talkshow vehement gegen Sanktionen für Erwerbslose stritt, verbucht der 57-Jährige als Auszeichnung. Doch auch von links gibt es Kritik an dieser Form des Körpereinsatzes für die gute Sache. Inge Hannemann etwa, die als Jobcenterbeschäftigte gemobbt wurde, weil sie Sanktionen ablehnt, hält den Hungerstreik für falsch. Sie unterstütze keine für Menschenleben gefährliche Aktion – und sei es das eigene. Die Soziologin Mag Wompel von der Initiative »Labournet« schrieb schon vor zehn Jahren, nicht individuelle Hungerstreiks, sondern Selbstorganisation und politischer Widerstand seien gegen Hartz IV angezeigt. Doch Boes will nicht aufgeben. Es gehe um Menschenwürde, betont er. Und dass er bereit sei, dafür zu sterben. Man hofft, dass es so weit nicht kommt.
www.neues-deutschland.de/artikel/981913.hungerstreik-gegen-hartz-iv-sanktionen.html
Peter Nowak

Zu oft allein in der Prärie

Über 50 Prozent der Mitglieder in nur sieben Staaten: Der Niedergang der einst mächtigen US-Gewerkschaften

Gewerkschaften in den USA haben es nicht leicht. Gezielte Angriffe, Das Verschwinden der politischen Ansprechpartner oder gezielter Wirtschaftslobbyismus schränken ihre Möglichkeiten ein.

Die US-Journalistin Barbara Ehrenreich benannte schon vor 15 Jahren die politisch gewollte Schwächung der Gewerkschaften in den USA als eine wichtige Bedingung für die Durchsetzung des Modells Working Poor – Menschen die trotz mehrere Jobs in Armut leben. In Deutschland fanden ihre Reportagen Beachtung, weil Politiker und Wirtschaftsvertreter die Arbeitsverhältnisse in den USA als Modell bezeichneten. Ehrenreichs Analysen bestätigte jetzt der Geschichtsprofessor Joseph McCartin von der Georgetown-Universität in Washington DC in der im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellten Studie »Sanierung des bröckelnden Tarifsystems? Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen in den Vereinigten Staaten von Amerika«.

Nur noch 11,3 Prozent der US-Bevölkerung sind gewerkschaftlich organisiert, in der Privatwirtschaft sind es nur 6,7 Prozent. Alarmierender ist, dass sich über die Hälfte der Gewerkschaftsmitglieder auf sieben der 50 US-Bundesstaaten verteilen. Das bedeutet, dass es nahezu gewerkschaftsfreie Regionen gibt. Die Studie benennt die Verantwortung der Politik: Zunehmende Polarisierung zwischen den beiden dominierenden Parteien, Republikaner und Demokraten, sowie die Wahlkampfunterstützung durch Industrie und konservative Organisationen hätten es den Gewerkschaften »in den letzten Jahren weiter erschwert, ihre politische Agenda durchzusetzen« oder in den Demokraten Verbündete zu finden, heißt es.

Ein Kapitel widmet sich systematischen Einschränkungen der Gewerkschaftsarbeit. Dabei werden in einigen Bundesstaaten vor allem Beschäftigte im Öffentlichen Dienst, etwa Erzieher und Lehrer, zum Ziel von politischen Angriffen. Auch die Einführung neuer Technologien wirkt sich negativ aus. So stehen die drei Großunternehmen Amazon, Google und Wal-Mart, die nicht nur der US-Ökonomie, sondern auch der Weltwirtschaft ein neues Gesicht gegeben haben, für eine extrem gewerkschaftsfeindliche politische Agenda. »Sollten diese und ähnliche Unternehmen die Bedingungen für die gewerkschaftliche Arbeit in der Privatwirtschaft vorgeben, ist in den kommenden Jahren mit einer weiteren Verschlechterung zu rechnen«, heißt es wenig optimistisch in der Studie.

Gerade weil Republikaner in den USA immer weiter nach rechts rücken und die Führungsebenen der Demokraten sich dem anpassen, fehlen den Gewerkschaften zunehmend die politischen Ansprechpartner. Sie sind gezwungen, sich auf gesellschaftliche Bündnispartner zuzubewegen. Dazu gehören Stadtinitiativen, die Selbstorganisation von Migranten oder die Workers Center, in denen sich Beschäftigte außerhalb ihrer Arbeitsplätze treffen und organisieren. Auch eine verstärkte transnationale Kooperation der Gewerkschaften zählt der Historiker zu den Wegen, mit der sie langfristig auch in den USA wieder an Einfluss gewinnen könnten. Schnelle Lösungen gibt es nicht, betont McCartin. Auch hierzulande werden Gewerkschaften nur eine größere Durchsetzungskraft erlagen, wenn sie sich nicht auf politische Parteien, sondern auf soziale Bewegungen stützen und über Landesgrenzen hinweg kooperieren. In diesem Punkt ist die Analyse der USA mit hiesigen Verhältnissen vergleichbar.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/981848.zu-oft-allein-in-der-praerie.html

Peter Nowak

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