Eine Passage der Gauck-Rede zum Gedenktag für Flucht und Vertreibung sorgt für Diskussionen
Am 20. Juni wurde erstmals ein Gedenktag für Flucht und Vertreibung [1] bundesweit begangen. Spontan fällt einem kritischen Zeitgenossen ein, dass es ist natürlich sinnvoll ist, an die vielen Opfern der europäischen und speziell auch deutschen Flüchtlingspolitik zu erinnern.
Täglich erfahren wir, dass Geflüchtete im Mittelmeer ertrinken oder schon vorher auf den Transitwegen in Afrika ausgeraubt und ermordet werden. Wer es bis nach Deutschland schafft, ist vor Angriffen von Pegida-Deutschen der unterschiedlichen Couleur nicht sicher, wie sich in diesen Tagen im sächsischen Freital zeigte [2], wo schließlich zivilgesellschaftliche Initiativen verhinderten [3], dass sich Szenen, wie wir sie vor mehr als zwei Jahrzehnten in Hoyerswerda, Rostock etc. gesehen haben, wiederholten. Dort wurden Flüchtlingsheime unter dem Beifall von applaudierenden Wutbürgern attackiert und in Brand gesetzt.
Zu gedenken wäre auch den Opfern einer staatlichen Flüchtlingspolitik, die aus Angst vor Abschiebungen, oder weil sie Stigmatisierungen und Abschiebedrohungen nicht mehr aushielten, die Pulsadern aufschnitten, sich erhängten oder durch das Trinken von giftiger Chemikalien ihren Leben ein Ende setzten. Seit mehr als 20 Jahren liefert eine Arbeitsgruppe der Berliner Antirassistischen Initiative mit einer jährlich aktualisierten Dokumentation der tödlichen Folgen der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik Nachweise [4] für solche Verzweiflungstaten.
Dieser Aspekt kam auch bei den vom Zentrum für politische Schönheit [5] initiierten Kampagne „Die Toten kommen“ zu kurz. In vielen deutschen Städten sind Gräber ausgehoben worden, an denen den unbekannten Toten im Mittelmeer gedacht wird. Nicht überall sind die Gräber gleich wieder eingeebnet worden wie vor dem Bundestag.
Wer nicht ertrinkt, wird eingesperrt
In Berlin tauchen Plakate und Flugblätter [6] auf, die in wenigen Worten den Kerngehalt der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik auf den Punkt brachten: „Wer nicht ertrinkt, wird eingesperrt“. Damit wird nicht nur ein Ist-Zustand beschrieben, sondern für Protestaktionen [7] gegen die für den 2 Juli geplante zweite und dritte Lesung einer Asylrechtsverschärfung geworben, die bisher wenig bekannt ist.
Das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung [8] bedeutet eine wesentliche Ausweitung der Abschiebehaft. Sie kann dann verhängt werden, wenn die Einreise „unter Umgehung einer Grenzkontrolle“ erfolgte, wenn die Geflüchteten über ein anderes EU-Land eingereist sind, wenn Identitätspapiere fehlen bzw. über die Behörden über die Identität getäuscht wurden, wenn Geld für Fluchthelfer bezahlt wurde.
Auch wer „Mitwirkungshandlungen zur Feststellung der Identität verweigert oder unterlassen hat“, kann in Abschiebehaft genommen worden. Es ist abzusehen, dass sich dann die Zahl der Opfer der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik noch erhöht. Nur sind genau das nicht die Themen, die nach dem Gedenktag für Flucht und Vertreibung in einem großen Teil der Medien die zentrale Rolle spielen.
Geflüchtete damals und heute?
Das hängt zunächst einmal damit zusammen, dass dieser Tag von der Bundesregierung gar nicht zum Gedenken an die aktuellen Flüchtlinge konzipiert war. Vielmehr sollten den deutschen Staatsbürgern gedacht werden, die im europäischen Ausland lebten, sich dort oft als eifrige Protagonisten der deutschnationalen Volkstumspolitik gerierten und bald auch Vorkämpfer der Nazis wurden. Nach deren Niederlage war es damit vorbei.
Viele flohen am Ende des 2. Weltkriegs, weil sie berechtigte Angst hatten, für ihre eigenen Verbrechen zur Verantwortung gezogen zu werden. Andere wurden in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens nach Kerndeutschland umgesiedelt. In Westdeutschland gerierten sie sich bald als große Opfergruppe, die von den Gründen ihrer Vertreibung nicht reden wollten.
Auf die Initiative des umtriebigen Bundes der Vertriebenen [9] geht auch der Gedenktag zurück. Bundespräsident Gauck hielt im Deutschen Historischen Museum in Berlin die Ansprache [10] und sorgte mit einigen Passagen für Widerspruch im konservativen Lager. Gauck begann seine Rede mit den Worten:
Nachdem er dann ausgiebig über deutsche Opfer von Flucht und Vertreibung und von einer angeblichen Tabuisierung von Heimatliedern geredet hatte, und damit eigentlich dem Bund der Vertriebenen aus dem Herzen gesprochen hatte, kam Gauck noch einmal auf die Gegenwart zu sprechen:
Angesichts dieser dramatischen Entwicklung haben wir unseren Blick zu weiten. Flüchtlingspolitik ist längst mehr als Innenpolitik. Flüchtlingspolitik reicht längst hinein in unsere Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik.
Beginnen wir mit dem, was selbstverständlich sein sollte: Es ist meines Erachtens eine moralische Pflicht aller Staaten Europas, Flüchtlinge vor dem Tod im Mittelmeer zu retten. Wir würden unsere Selbstachtung verlieren, wenn wir Menschen, die vor den Toren unseres Kontinents auf dem Wasser treiben, sich selbst überließen.
Flüchtlingsunterstützung ist kein Heimatschutz
Solche Aktualisierungen meint der Bund der Vertriebenen nicht, wenn es auf dessen Homepage heißt: „In Deutschland sehen wir, dass heute vieles gesagt werden kann, was vor 25 Jahren noch unmöglich gewesen wäre.“
Dort hält man sich zu Gaucks Aktualisierungen bedeckt. Dafür hat sich mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer der Politiker zu Wort gemeldet, dessen Bundesland sich seit 1945 als besondere Schutzmacht aller deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen versteht. Ihre Nachkommen sind auch heute noch ein wichtige Wählerbasis seiner CSU.
Im Münchner Merkur tat Seehofer kund [11], was der Verband der Vertriebenen denkt, aber nicht so offen ausspricht. Auf die Gauck-Rede angesprochen, sagte der bayerische Ministerpräsident:
Im Interview hat Seehofer weitere Überlegungen angestellt, wie man Geflüchtete abschreckt. Viele nichtdeutsche Geflüchtete konnten davon bereits in den letzten Jahren in Bayern solche Erfahrungen machen. Es ist schließlich kein Zufall, dass die neue Bewegung der Geflüchteten in Deutschland in Bayern seinen Ausgang nahm, nachdem sich ein Flüchtling in Abschiebehaft umbrachte.
Die linksliberale Taz übte heftige Kritik [12] an Seehofers Gauck-Schelte, auch Grüne und Linke warf Seehofer vor, er wolle die Diskurshoheit über bayerischen Stammtische behalten.
Dabei wird selten erwähnt, dass Seehofer nur ausspricht, was im Umfeld der verschiedenen Vertriebenenverbände gedacht wurde. Als auf einer großen Gedenkveranstaltung zum 50ten Jahrestag des Baus der Berliner Mauer ein Redner an die Mauern erinnerte, die die Geflüchteten von heute oft das Leben kosten, gab es in Berlin aus der Zuhörerschaft empörte Zwischenrufe.
Zudem müsste eigentlich die Kritik an Gaucks Flüchtlingsvergleich an einer ganz anderen Stelle ansetzen. Denn eigentlich müssen sich die heutigen Flüchtlinge und ihre Unterstützer dagegen verwahren, mit einem Personenkreis in Verbindung gebracht zu werden, der vor 1945 zu nicht kleinen Teilen die NS-Politik begeistert mittrug und nach dem Untergang dann die von ihm unterstützte Parole „Heim ins Reich“ etwas anders als gedacht erlebten.
Die Selbstorganisationen der Geflüchteten und ihre Unterstützer treten auch nicht das Erbe des Bundes der Vertriebenen an. Selbst eine Kooperation wird es nicht geben. Dass hat Seehofer mit seinen Interview noch einmal erfreulich klargestellt.
http://www.heise.de/tp/news/Nicht-deutsch-genug-um-als-Heimatvertriebene-zu-gelten-2730700.html?view=print
Peter Nowak
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