Sturm im Wasserglas am 9. Mai

Flop für zwei extrem rechte Veranstaltungen am Samstag in Berlin in der Nähe des Reichstags.

„Hochverrat im Bundestag. Wir zeigen am 9.Mai am Reichstag Gesicht. An dem Tag  rechnen wir mit der Regierung ab.“ Mit solchen Parolen hatte das Spektrum der Reichsbürgerbewegung für den vergangenen Samstag zum Sturm auf den Reichstag aufgerufen. Über eine App sollte das Startsignal für den Sturm gegeben werden. Doch es  wurde ein Sturm im Wasserglas. „Die Revolution ist nicht erfolgt,  weil viele aufgehalten worden sind“, hieß es  am Tag danach auf der Facebook-Seite. Auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion erklärte die Bundesregierung,  einer der beiden Anmelder der Demonstration sei  ein  NPD-Mitglied.

In Sichtweise des Reichstags  fand am Samstag eine weitere extrem rechte Kundgebung unter den Motto   „1000 000 Stimmen gegen die Islamisierung und Amerikanisierung  Europas“ statt. Gerade mal 400 Menschen fanden sich dort zusammen. Zu den Rednern gehörten  der „Compact“-Herausgeber Jürgen Elsässer und der Vorsitzende der von „pro-Deutschland“ Manfred Rouhs, die gegen die Amerikanisierung Deutschlands  wetterten.  Ein weiterer Redner,  der  ehemalige Thüringer AfD-Landtagskandidat Heiko Bernardy, hatte auf  einer Sügida-Kundgebung am 26. Januar Grüne und SPD als „Feinde des Volkes“ und „linksradikales Lumpenpack“ bezeichnet. Darauf  distanzierte sich die AfD von ihm. Victor Seibel aus Kassel, der öfter auf Kundgebungen der Endgame-Bewegung aufgetreten ist, beschwor auf der Berliner Kundgebung den germanischen Geist.

Angekündigter Besuch der „Nachtwölfe“ fällt aus

Die Veranstaltungsteilnehmer unterstützten die Redner mit Sprechchören wie „Lügenpresse“ und „Volksverräter“.  Neben Kameradschaftsmitgliedern  aus Thüringen war  auch die Berliner NPD im Publikum. Die „Identitäre Bewegung“ Berlin-Brandenburg verteilte Flugblätter mit der Parole: „Unsere Losung heißt Heimat, Freiheit, Tradition“. Andere Teilnehmer  machten ihre Gesinnung durch Aufschriften auf T-Shirts deutlich. „Wo Unkraut wächst, muss gejätet werden“, „Unser Leben, unser Land, maximaller Widerstand“ war dort zu lesen.

Nach einer Stunde verließen viele vorzeitig die Kundgebung. Da war  klar geworden, dass der  angekündigte Besuch der russischen Motorradgruppe „Nachtwölfe“ ausfallen wird.  Die Veranstalter hatten von der Bühne  immer wieder  Hoffnungen auf die Ankunft der Nachtwölfe gemacht. Schließlich hatten die sich in Torgau mit dem Dresdner Pegida-Mitbegründer Lutz Bachmann getroffen. Doch der wird mittlerweile auf rechten Internetseiten für den Flop der Kundgebung am 9. Mai verantwortlich gemacht. Bachmann habe die Berliner Kundgebung als Konkurrenz gesehen  und nicht dafür  mobilisiert. So hat die Kundgebung zu einer weiteren Zersplitterung des Pegida-Spektrums geführt.

http://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/sturm-im-wasserglas-am-9-mai

Peter Nowak

Sturm auf den Reichstag scheiterte kläglich

Rechtsextreme Demo vor dem Hauptbahnhof mit weit weniger Teilnehmern als erwartet / »Nachtwölfe«-Rocker bleiben der Veranstaltung fern

Aus dem von Rechten groß angekündigten Protest gegen Islamisierung und Amerikanisierung wurde nichts. Auf der Kundgebung am Samstag fanden sich nur knapp 400 der erwarteten »1000 Stimmen« ein.

»Volksverräter. Lügenpresse. Wir sind das Volk«. Diese Parolen skandierten am Samstagnachmittag rund 400 Teilnehmer einer rechten Kundgebung vor dem Berliner Hauptbahnhof. Auf der anderen Seite demonstrierten eben so viele Antifaschisten gegen den rechten Aufmarsch. Sie pfiffen und zeigten Transparente, mit denen sie sich gegen Neonazis und Rassismus wandten. Unter dem Motto »Gemeinsam für Deutschland« nutzten die Rechten den 70. Jahrestag des Kriegsendes, um die alten Parolen zu wiederholen.

Den Ton gab der erste Redner vor, der sich mit den Worten vorstellte: »Mein Namen ist Jürgen Elsässer, meine Zielgruppe ist das Volk«. Dass »die Angloamerikaner seit 100 Jahren Krieg gegen Europa führen« und Deutschland von Asylsuchenden überschwemmt werde, wurde von fast allen Rednern wiederholt. Der Vorsitzende der rechtspopulistischen Vereinigung Pro Deutschland, Manfred Rouhs, lamentierte über Zersetzungskampagnen gegen deutsche Patrioten. Eine Rednerin beklagte, Deutschland befinde sich seit 1945 in einen »Teufelskreis von Unterwerfung, Selbstzensur und Lüge«. Viktor Seibel aus Kassel, der sich auf der Kundgebung als Russlanddeutscher vorstellte und in den letzten Monaten als Redner bei den »Engagierten Demokraten gegen die Amerikanisierung Europas« (Endgame) hervorgetreten ist, beschwor den Geist der »germanischen Freiheit«. Jemand, der sich Heiko von der Pegida-Thüringen nannte, echauffierte sich, dass ein Kommunist in dem Bundesland Ministerpräsident, eine FDJ-Sekretärin Bundeskanzlerin und ein DDR-Begünstigter Bundespräsident sein kann.

Etwas verloren stand ein junges Paar mit einer Israelfahne auf dem Platz. »Wir wollen uns als Juden mit Pegida solidarisieren, weil wir gegen Islamisierung sind, aber mit der NPD wollen wir nichts zu tun haben«, meinte ein junger Mann. Neben Kameradschaften aus Thüringen waren Mitglieder der NPD auf dem Platz versammelt. Die »Identitäre Bewegung Berlin-Brandenburg« verkündete auf ihren Flugblättern: »Unsere Losung heißt Heimat, Freiheit, Tradition.« Kundgebungsteilnehmer machten ihre Gesinnung durch Aufschriften auf T-Shirts und Bannern deutlich.

Die Teilnehmerzahl lag weit unter den Erwartungen. Während die Organisatoren vor einigen Tagen noch mit mehreren Tausend Teilnehmern rechneten, wurde die geringe Zahl mit dem Bahnstreik erklärt. Auch die groß angekündigten russischen Rocker der Nachtwölfe ließen sich am Bahnhof nicht sehen. Obwohl mehrere Redner während der Kundgebung immer wieder die Hoffnung äußerten, dass die russischen Biker noch auftauchen würden. Im Publikum wuchs der Unmut. »Die wollen nur verhindern, dass der Platz vor dem Ende der Kundgebung leer ist«, meinte eine Frau. Für den 20. Juni ruft die Initiative »Widerstand Ost West« erneut alle »Patrioten« zu einer Demonstration »gegen islamischen und linksradikalen Faschismus« nach Frankfurt am Main.

Münkler-Watch: Neue Form studentischen Protestes?

»Deutschland ist der größte Schuldner Europas«

70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs müssen viele Opfer von NS-Verbrechen beziehungsweise deren Angehörige immer noch um Entschädigungen kämpfen. In Deutschland werden derzeit die Reparationsforderungen Griechenlands erneut diskutiert. Der Hamburger Rechtsanwalt Martin Klingner engagiert sich seit Jahren im AK Distomo dafür, dass Deutschland endlich zahlt. Im griechischen Distomo verübte die SS 1944 ein Massaker an der Dorfbevölkerung als Vergeltungsaktion für Partisanenangriffe. Mit Klingner sprach die Jungle World über die Debatte um Reparationen an Griechenland.

Wann hat sich der AK Distomo gegründet und was war der Anlass?

Der AK hat sich 2001 gegründet. Im Jahr 2000 gab es ein Urteil des Areopag, des obersten Gerichtshofs Griechenlands. Daraufhin wurden deutsche Liegenschaften in Athen und Thessaloniki gepfändet, unter anderem das Goethe-Institut. Damals haben wir vom Massaker in Distomo erfahren. Es hat uns deutlich gemacht, dass das Thema Entschädigung für NS-Opfer auch nach der Debatte um NS-Zwangsarbeit und der Gründung der Stiftung EVZ (»Erinnerung, Verantwortung, Zukunft«, Anm. d. Red.) nicht beendet ist. Wir haben uns seither intensiv mit den Entschädigungsforderungen aus Griechenland und deren Hintergründen befasst, Kontakte zu Überlebenden, Opferverbänden und Anwälten geknüpft und begonnen, Solidaritätsarbeit zu diesem Thema in Deutschland zu leisten.

Seither fahren wir regelmäßig nach Griechenland und nehmen unter anderem an den Gedenkfeiern in Distomo teil. Mit Argyris Sfoutouris verbindet uns eine intensive Freundschaft. Er ist Überlebender des Massakers von Distomo und einer der Kläger in den Entschädigungsprozessen gegen Deutschland. Wir unterstützen auch Entschädigungsforderungen von NS-Opfern aus anderen Ländern, wie Italien und Slowenien. Ein weiteres Anliegen von uns ist die Strafverfolgung der Täter.

Seit einigen Wochen wird die Diskussion um die Reparationszahlungen an Griechenland öffentlich geführt. Sieht Ihr Arbeitskreis darin einen Erfolg seiner Arbeit?

Der Anlass für das derzeit sehr große Interesse ist sicher die Wahl der neuen griechischen Regierung und deren Thematisierung der Reparationsforderungen. Wir sind durch unsere kontinuierliche Arbeit quasi Experten für das Thema Entschädigung geworden und finden in der jetzigen Situation viel mehr Gehör als zu früheren Zeiten. Dass die Medien mehr und besser über das Thema berichten, sehen wir insoweit auch als Erfolg des AK und aller anderen Menschen in Deutschland an, die für die Interessen der NS-Opfer eintreten. Ich möchte noch einmal betonen, dass für uns die Frage der individuellen Entschädigung der Überlebenden und der Angehörigen der Opfer im Zentrum unserer Arbeit steht.

Wie sehen Sie das Agieren der aktuellen griechischen Regierung in der Debatte? Ist der Vorwurf der Instrumentalisierung in Ihren Augen berechtigt?

Nein, aus unserer Sicht instrumentalisiert in erster Linie Deutschland das Thema, indem zur Abwehr von Reparations- und Entschädigungsforderungen immer wieder auf die aktuellen ökonomischen Probleme Griechenlands verwiesen wird. Die griechische Regierung greift endlich ein Thema mit Nachdruck auf, das eigentlich spätestens seit 1990 auf die Agenda jeder griechischen Regierung gehört hätte. Zwar wurden immer wieder Ansprüche geltend gemacht, aber letztlich hatte bisher noch keine griechische Regierung den Mut und den Willen, sich der deutschen Forderung, einen Schlussstrich zu ziehen, entgegenzustellen.

Wir hoffen sehr, dass die jetzige griechische Regierung nicht auch irgendwann klein beigibt. Problematisch fänden wir es nur, wenn die griechische Regierung die individuellen Entschädigungsforderungen der NS-Opfer mit aktuellen Schulden verrechnen würde. Das darf nicht sein.

Wie sehen Sie die Verknüpfung von Reparationszahlungen und Wirtschaftskrise?

Die BRD hätte kein Wirtschaftswunder erlebt ohne die Stundung der Reparationsforderungen im Londoner Schuldenabkommen. Griechenland hätte sich anders entwickeln können, hätte es Reparationszahlungen erhalten. Die aktuelle Krise hat jedenfalls auch etwas mit der Zerstörung Griechenlands durch die deutschen Besatzer und der dadurch verzögerten ökonomischen Entwicklung zu tun. Griechenland hat zumindest allen Grund zu sagen: Jetzt ist es höchste Zeit, dass Deutschland seine Schulden begleicht.

Manche Beobachter meinen, da Deutschland im NS in so vielen Ländern Verbrechen beging, hätte es nicht genug Geld für Reparationen. Können Sie dieser Logik folgen?

Die Verbrechen Nazideutschlands waren in der Tat so gewaltig, dass der Rechtsnachfolgestaat BRD erhebliche Schulden geerbt hat. Deutschland ist der größte Schuldner Europas. Dies ist kein Grund, die Schulden nicht zu bezahlen, und schon gar kein Grund, noch nicht einmal in Verhandlungen mit den Gläubigern zu treten. Die deutsche Regierung sagt wie alle Vorgänger schlicht Nein zu allem und damit darf sie nicht durchkommen. Dies ist eine Frage der Gerechtigkeit und der Prävention. Verbrechen dürfen sich nicht lohnen.

Der Hamburger Historiker Karl Heinz Roth hat kürzlich vorgeschlagen, die Goldreserven Deutschlands für die Reparationszahlungen an Griechenland zu verwenden. Halten Sie das für einen sinnvollen Vorschlag?

Wir sehen das nicht als unser Problem an, wie Deutschland das Geld zusammen bekommt. Von uns aus könnte auch die Bundeswehr abgeschafft werden. Das löst dann gleich noch ein Problem.

Sehen Sie denn noch Möglichkeiten, Deutschland auch mit juristischen Mitteln zur Zahlung von Reparationen zu zwingen?

Ja, es gibt verschiedene Möglichkeiten. Der griechische Staat könnte Deutschland auf Zahlung verklagen. Es gibt für die Reparationsforderung selbst eine klare vertragliche Grundlage, nämlich die Regelungen des Pariser Reparationsabkommens. Dort wurden die Ansprüche Griechenlands gegenüber Deutschland auf mindestens 7,1 Milliarden US-Dollar festgelegt. Deutschland hat diese Schulden nicht bezahlt. Daher ist jedenfalls der festgelegte Betrag auf den heutigen Wert umzurechnen und zu verzinsen. Relevante rechtliche Einwände gegenüber dieser Forderung gibt es nicht. Sie ist nicht verjährt. Griechenland hat auf diese Forderungen nicht verzichtet. Sie sind auch nicht durch andere Vereinbarungen erledigt, insbesondere nicht durch den deutsch-griechischen Vertrag von 1960, da dieser nur »Wiedergutmachungsansprüche« wegen spezifisch nationalsozialistischer Verfolgung zum Gegenstand hatte, nicht aber Reparationen. Die Forderung ist fällig, denn mit dem 2+4-Vertrag endete die Stundungswirkung des Londoner Schuldenabkommens.

Zahlt Deutschland auch weiterhin nicht, müsste Griechenland ein zuständiges Gericht anrufen. Ein Prozess wäre denkbar vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Diese Möglichkeit halte ich aber für wenig aussichtsreich, da Deutschland diesem Verfahren zustimmen müsste, was es kaum machen wird. Die andere Möglichkeit wäre die Anrufung eines Schiedsgerichts gemäß dem Londoner Schuldenabkommen. Letzteres sieht in Art. 28ff vor, dass über alle Streitfälle aus diesem Abkommen ein Schiedsgericht mit Sitz in Koblenz entscheidet. Griechenland könnte fordern, dass dieses einberufen wird. Dies wäre meines Erachtens der erfolgversprechendste Rechtsweg.

Was halten Sie juristisch von dem Argument, da es keinen Friedensvertrag gegeben hat, sei eine juristische Entscheidung gegen Deutschland nicht mehr möglich?

Das ist kein Argument, sondern ausschließlich Ausdruck der europäischen Großmacht Deutschland, die glaubt, angesichts ihrer Führungsrolle in Europa das Definitionsmonopol für völkerrechtliche Fragen zu besitzen. Der Trick des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher bestand darin, dass die bloße Vermeidung eines Wortes schon ausreichen sollte, um Ansprüche zum Erlöschen zu bringen. Das ist eine Farce. Bereits mehrfach haben bundesdeutsche Gerichte entschieden, dass der 2+4-Vertrag die Stundungswirkung des Londoner Schuldenabkommens beendet hat, so der Bundesgerichtshof im Distomo-Urteil vom 26. Juni 2003: 2+4 sei zwar kein Friedensvertrag im herkömmlichen Sinne, er habe aber das Ziel, eine abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland zu treffen. Also sind alle Reparationsansprüche seither fällig.

Was würde juristisch passieren, wenn die griechische Regierung ihre Drohungen umsetzt und tatsächlich deutsches Eigentum in Griechenland beschlagnahmt?

Das ginge erst, wenn Griechenland ein Urteil gegen Deutschland erstreiten würde. Da wird in der öffentlichen Wahrnehmung etwas verwechselt. Die Vollstreckung im Fall Distomo wäre möglich durch Pfändung deutschen Eigentums in Griechenland. Denn in diesem Fall gibt es einen Titel zugunsten der Klägerinnen und Kläger über etwa 28 Millionen Euro, der vollstreckbar ist. Dies ist aber bislang der einzige Rechtstitel in Griechenland, der vollstreckbar ist. Wenn die griechische Regierung die Vollstreckung erlauben würde, dann könnten deutsche Liegenschaften versteigert werden. Dies würde vermutlich einen neuen Rechtsstreit auslösen, denn die Bundesregierung würde sicherlich vor den griechischen Gerichten klagen und versuchen, die Maßnahmen zu stoppen.

Sehen Sie in der Frage der Rückzahlung des Kredits, der während der NS-Zeit aufgenommen wurde, bessere Chancen, dass Deutschland zahlen muss?

In rechtlicher Hinsicht eher nicht, denn diese Forderung besteht neben den Reparationsforderungen. Beide Forderungen sind in rechtlicher Hinsicht nicht bezweifelbar. Politisch könnte die Rückzahlung der Zwangsanleihe leichter durchsetzbar sein, weil sich eventuell das Wort »Reparationen« vermeiden ließe und damit die nachfolgenden Forderungen. Das ist aber nur die deutsche Perspektive, aus griechischer Sicht spielt es letztlich keine Rolle.

Forderungen nach Entschädigung waren in der außerparlamentarischen und antifaschistischen Linken weitverbreitet. Unterstützt diese derzeit die Forderung nach Entschädigungszahlungen an Griechenland?

Die Debatte um die Entschädigung für NS-Zwangsarbeit war jedenfalls wesentlich breiter und intensiver als die jetzige Auseinandersetzung. Sicher gibt es Unterstützung für das Thema, aber es ist nicht das große Thema der antifaschistischen Linken.

Hat also auch ein großer Teil der außerparlamentarischen Linken einen Schlussstrich unter die deutsche NS-Vergangenheit gezogen?

Das würde ich so nicht unterschreiben. Die große Zahl der Anfragen nach Informationen und Veranstaltungen gerade in der letzten Zeit zeigt uns, dass Interesse da ist. Es hat allerdings bislang nicht gereicht, um eine Kampagne zu initiieren, die auch ausreichend politischen Druck auf die deutsche Regierung entwickeln könnte.

http://jungle-world.com/artikel/2015/19/51927.html

Interview: Peter Nowak

Wie sie sich sorgen, dass kein Schuss daneben geht

Wenn der 3 D-Drucker zur Verheißung für das Ende der Lohnarbeit wird

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Arbeiter aller EU-Länder organisiert Euch!

Arbeiter aus verschiedenen EU-Ländern, die in Deutschland schwarz, prekär und unterbezahlt arbeiten müssen, wehren sich gegen die Bedingungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Ein Überblick verschiedener Initiativen aus Berlin.

Am 17. April bekamen die Besucher eines Konzerts der italienischen Bands Banda Bassotti und 99 Posse im Berliner S0 36 einen Einblick in den Bereich des Niedriglohnsektors der Hauptstadt. Vor dem Auftritt der Bands verlasen ehemalige Beschäftigte der angesagten ­Berliner Pizzerien Due Forni, Il Casolare und Il Ritrovo einen offenen Brief, in dem sie die ­dortigen Arbeitsverhältnisse anprangern. Der Brief enthält mehrere Forderungen. Neben ­einer Lohnerhöhung und einem regulären Arbeitsvertrag werden darin das Ende des Mobbing gegen kritische Kollegen, das Recht auf Pausen und auf Bezahlung im Krankheitsfall sowie ein Entlassungsverbot nach einer Schwangerschaft gefordert.

Der Forderungskatalog macht deutlich, dass in den Pizzerien, an deren Wänden rote Sterne und Fotos von Che Guevara hängen, der alte Spontispruch »legal, illegal, scheißegal« eine neue Bedeutung bekommen hat. Zahlreiche erkämpfte Rechte werden von den Restaurantbesitzern ignoriert, die zudem mit den beiden Bands – die von einem Großteil der italienischen Linken sehr gefeiert werden – befreundet sind. Seit vielen Jahren sponsern sie ihre Konzerte. Die Beschäftigten hatten die Musiker in einen Brief aufgefordert, sich eindeutig zu positionieren oder das Konzert abzusagen. Nach einem Gespräch mit allen Beteiligten haben die Eigentümer der Restaurants ihren Mitarbeitern zugesichert, dass bei ihnen künftig das Arbeitsrecht zur Anwendung komme. Demnach müsste ein Mindestlohn von 8,50 Euro, eine 30minütige Pause nach sechs Stunden Arbeit und ein Kündigungsschutz für Schwangere eingeführt werden.

Ob zur Durchsetzung des gültigen Arbeitsrechts in den Pizzabuden nicht die Gründung einer Gewerkschaftsgruppe sinnvoller gewesen wäre als die Hilfe von Szenebands, könnte man sich fragen. Schließlich können solche Zusagen schnell gebrochen werden, und ob die Musiker noch einmal vermitteln, ist völlig offen.

Diesen Weg wählten die rumänischen Arbeiter, die monatelang auf der Baustelle der »Mall of Berlin« schufteten und um große Teile ihres Lohns geprellt wurden. Sie setzten auf die eigene Kraft und die Unterstützung der Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU). Am 26. April rief sie zu einer mehrstündigen Belagerung der Shoppingmall am Rande des Potsdamer Platzes auf. »Sechs Monate Kampf und noch immer kein Lohn«, lautete das Motto.

»Sie haben die Arroganz der Macht, doch sie haben nicht mit unserer Bereitschaft zum Widerstand gerechnet. Was das Aufgeben betrifft, da haben sie bei uns keine Chance.« Die knapp 200 Demonstrationsteilnehmer brechen in Applaus aus, als Janko E. spricht. Er gehört zu einer Gruppe von rumänischen Arbeitern, die um ihren Lohn kämpfen. Ein Stundenlohn von sechs Euro sowie Kost und Logis war ihnen versprochen worden. Der Betrag ist wesentlich niedriger als der im Baugewerbe gültige Mindestlohn. Aber selbst dieser Niedriglohn wurde den Bauarbeitern vorenthalten.

Im Oktober 2014 wandten sie sich zunächst an den DGB Berlin-Brandenburg. Das im dortigen Gewerkschaftshaus angesiedelte »Beratungsbüro für entsandte Beschäftigte« nahm Kontakt auf mit dem Generalunternehmer der Baustelle, der Firma Fettchenhauer Controlling & Logistic, und schrieb Geltendmachungen. Außer Abschlagszahlungen, die nur einen Bruchteil des vorenthaltenen Lohnes ausmachten, konnten die Bauarbeiter auf diesem Weg allerdings nichts erreichen. Sie hatten weder Arbeitsverträge noch Gewerbescheine – das macht die Durchsetzung ihrer Ansprüche schwierig. Einige nahmen die Abschlagszahlungen und unterzeichneten zudem eine vom Unternehmen vorbereitete Erklärung, nach der sie auf weitere rechtliche Schritte verzichten sollten. Andere beharrten darauf, ihren vollen Lohn zu erhalten und wollten weiter streiten. Erst nachdem sich die verbliebenen Bauarbeiter an die FAU gewandt hatten, begann die Öffentlichkeitsarbeit. »Mall of Berlin – auf Ausbeutung gebaut«, lautete die Parole. Der von der FAU kreierte Begriff »Mall of Shame« hat sich mittlerweile im Internet verbreitet. Der gesellschaft­liche Druck reichte bisher nicht so weit, dass der Generalunternehmer und seine Subunternehmen die ausstehenden Löhne bezahlten. Dabei handelte es sich um einige Tausend Euro. Für die Unternehmen sind es Beträge aus der Portokasse. Für die betroffenen Bauarbeiter und ihre Familien in ihrem Herkunftsland ist das Geld existentiell.

Anfang April sah es zunächst so aus, als hätten zwei der Bauarbeiter einen juristischen Etappensieg errungen. Das Berliner Arbeitsgericht bestätigte die Forderungen von Nicolae Molcoasa und Niculae Hurmuz. Das beklagte Subunternehmen war nicht zur Verhandlung erschienen und hatte auch keinen Anwalt geschickt. So musste das Gericht der Klage stattgeben. Doch wenige Tage später ging ein Anwalt des Unternehmens in Berufung; die Arbeiter müssen weiter auf ihren Lohn warten.

Nur ein Teil der Betroffenen kann die Auseinandersetzung jetzt noch in Berlin führen. Andere mussten wieder nach Rumänien zurück oder haben in einer anderen Stadt Arbeit gefunden. Die Kollegen, die bis heute durchgehalten haben, ­berichten über die vielen Schwierigkeiten. Als sie den Kampf begannen, hatten sie weder Geld noch Unterkunft. Die FAU kümmerte sich um Essen und Obdach.

Wenn sie auch nach sechs Monaten Kampf noch immer auf ihren Lohn warten müssen, so haben sie doch schon einen wichtigen Erfolg errungen. Sie haben deutlich gemacht, dass ausländische Arbeiter in Deutschland nicht rechtlos sind und sich wehren können.

Der Fall der rumänischen Bauarbeiter ist keine Ausnahme. »Es gibt viele solcher Fälle. Nur leider sind die Betroffenen nur selten in der Lage, sich zu wehren«, meint eine Mitarbeiterin einer Organisation von Roma in Berlin. Das Leben von vielen Arbeitsmigranten aus Osteuropa sei von ständiger Verunsicherung geprägt. Das erstrecke sich nicht nur auf die Löhne und die Arbeitsbedingungen. »Sie werden in den Jobcentern benachteiligt, sind oft von medizinischer Versorgung ausgeschlossen und müssen wegen rassistischer Diskriminierung am Wohnungsmarkt oft in teuren Schrott-Immobilien wohnen«, fährt sie fort. Zudem fehle es den Betroffenen oft an Kontakten zu Organisationen und Initiativen, die sie im Widerstand unterstützen könnten.

Juristischer Etappensieg. Das Berliner Arbeitsgericht bestätigte am 10. April zunächst die Forderungen wegen unbezahlter Löhne. Die beklagte Openmallmaster GmbH blieb dem Gerichtstermin fern.

Mittlerweile ist die Foreigners-Sektion der FAU ein Anlaufpunkt für Arbeiter aus den verschiedenen Ländern geworden, die in Deutschland um ihren Lohn oder um bessere Arbeitsbedingungen kämpfen.

Im Februar 2014 hatte die Berliner Erwerbslosenorganisation »Basta« einen kurzen Arbeitskampf im Weddinger Hostel Amadeus begonnen. Junge Menschen aus verschiedenen Ländern, die dort für Kost und Logis arbeiteten, waren in die Beratung gekommen, weil das Jobcenter ihnen Leistungen als Aufstocker verweigerte. Erst bei den Gesprächen wurde das ganze Ausmaß der Ausbeutung deutlich.

»Ich arbeitete täglich rund acht Stunden an sechs Tagen die Woche. Am Monatsende erhielt ich für die Arbeit 100 Euro«, erzählt etwa Thomas aus Belgien. Er wollte Berlin kennenlernen und landete im Amadeus-Hostel. Ähnlich erging es Nathan Letore aus Frankreich: »Wir suchten ein Zimmer und im Hostel sagten sie uns, wir können hier leben und arbeiten.« Nach einer von den Betroffenen gemeinsam mit Erwerbslosengruppen organisierten Protestkundgebung im Februar 2014 meldete der Hostel-Besitzer Konkurs an. Noch immer klagen einige der Betroffenen juristisch ihren Lohn ein. Einige haben sich durch die Auseinandersetzung politisiert. Mittlerweile arbeiten sie in der FAU mit und unterstützen Kollegen aus anderen Ländern, die in einer ähnlichen Situation sind.

Beschäftigte in allen Branchen sind betroffen. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Menschen aus dem europäischen Ausland, die in Deutschland Arbeit suchen, gewachsen. Der Grund liegt in einer von den europäischen Institutionen vor allem auf Initiative Deutschlands ­vorangetriebenen Austeritätspolitik, die sich die »Agenda 2010« zum Vorbild nimmt. »Tatsächlich geht es eher darum, durch Angst und Schrecken vor Arbeitsplatzverlust und Verarmung einen wirtschaftlichen Entwicklungsweg durchzusetzen, der sich durch eine stetig sinkende Lohnquote und dürftige Wachstumsraten auszeichnet«, schreibt der Berliner Soziologe Heiner Ganßmann in Le Monde diplomatique.

Vor allem in den Ländern der europäischen Peripherie sorgte diese Politik für den Anstieg der Arbeitslosigkeit und die Senkung von Löhnen und Gehältern. Viele gut ausgebildete junge Menschen kommen nach Deutschland in der Hoffnung, bessere Arbeits- und Lebensbedingungen vorzufinden. Doch oft arbeiten sie in besonders schlecht bezahlten Ausbeutungsverhältnissen, beispielsweise im boomenden Restaurant- und Gastronomiebereich oder in der Pflegebranche.

Gegen die schlechten Arbeitsbedingungen in diesen Bereichen zu kämpfen, haben sich die Mitglieder der Grupo de Acción Sindical (GAS) zum Ziel gesetzt. Sie wurde vor einigen Monaten von Beschäftigten aus Portugal und Spanien gegründet, die in Deutschland in Pflegeberufen arbeiten. »Die Krankenpflegerinnen und -pfleger müssen zwölf bis 14 Tage lang ohne Pause arbeiten und bekommen bis zu 40 Prozent weniger Lohn als die deutschen Kollegen. Manchmal müssen sie Tätigkeiten verrichten, die nicht in den Bereich der Krankenpflege fallen. Und wenn sie den Job kündigen wollen, bekommen sie eine Konventionalstrafe, die in einigen Fällen bis zu 12 000 Euro beträgt«, beschreibt Mayte Marin die Situation an ihrem Arbeitsplatz.

Ein Schwerpunkt der Gruppe liegt in der Information von Kollegen über ihre Rechte und Widerstandsmöglichkeiten. »Weil sie manchmal die Sprache nicht genug beherrschen und aus einem Land mit einer hohen Arbeitslosigkeit kommen, fällt es ihnen oft schwer, sich über ihre Arbeitsbedingungen zu beschweren«, so Marin.

Dominique John, der beim DGB das Projekt »Faire Mobilität« betreut, unterstützt die Gruppe. Er hat die Broschüre »Wissen ist Schutz« in spa­nischer Sprache herausgegeben, die Arbeitsmigranten in Spanien und Deutschland über ihre Rechte informiert. Zusammen mit der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi haben sie im Juni vergangenen Jahres eine Veranstaltung für das Fachpflegepersonal aus Spanien organisiert. »Dort wurde auch das Problem mit den Knebelverträgen besprochen«, sagt John. Obwohl die Beschäftigen durch die Verträge unter Druck gesetzt werden, seien diese rechtlich schwer anzugreifen, bedauert er. Daher begrüßt es John, dass die Kol­legen die Verträge politisch bekämpfen wollen.

Auch der für den Fachbereich Gesundheit und soziale Dienstleistungen bei Verdi zuständige Gewerkschaftssekretär Kalle Kunkel spricht von einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der migrantischen Gruppe. Im Kampf gegen die Knebelverträge habe man die gleiche Position. »Wir lehnen sie ab und gehen politisch und, wo es möglich ist, auf betrieblicher Ebene dagegen vor.« Außerdem kämpfe Verdi überall, wo man stark genug sei, für Tarifverträge. »Das ist der einzige wirklich wirksame Schutz gegen ungleiche Bezahlung«, betont Kunkel. Im September 2014 hat Verdi gemeinsam mit Pflegekräften aus verschiedenen europäischen Ländern eine Kundgebung für bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne und eine Aufhebung der Knebelverträge organisiert.

Viele der bei GAS aktiven Pflegekräfte haben sich in den vergangenen Jahren in Spanien und Portugal in der Bewegung der Empörten engagiert und setzen ihre Aktivitäten nun in Deutschland fort. Auch die jungen Italiener, die die Gruppe »Berlin Migrant Strikers« gegründet haben, politisierten sich vor einigen Jahren in der Bewegung der Prekären oder in sozialen Zentren in Italien. Bereits die erste Generation der Arbeitsmigranten aus Italien, Spanien und der Türkei brachte Erfahrungen von politischer und gewerkschaft­licher Arbeit aus ihren Herkunftsländern mit. So gab es in den frühen sechziger Jahren in Wolfsburg, einer der Hochburgen der damaligen italienischen Arbeitsmigration, immer wieder Konflikte zwischen der autochthonen Bevölkerung der von den Nazis gegründeten Musterstadt und ita­lienischen Beschäftigten, die teilweise in linken Parteien sozialisiert worden waren. Türkische und spanische Kollegen hatten oft Erfahrungen mit der Arbeit der in ihren Ländern illegalisierten und verfolgten linken Parteien und Gewerkschaften, die sie in die deutschen Fabriken mitbrachten. Beim Fordwerk in Köln traten vor allem kämpferische Arbeiter aus der Türkei 1973 in einen mehrtätigen wilden Streik, der von der lokalen DGB-Bürokratie gemeinsam mit der Polizei zerschlagen wurde. Bild titelte »Türkenterror bei Ford«. Es gab gerade in den siebziger Jahren aber auch erfolgreiche Arbeitskämpfe, die wesentlich von Arbeitsmigranten getragen wurden.

Die neue Generation der »Berlin Strikes« aus Italien, Portugal und anderen europäischen Ländern wurde nicht in großen linken Parteien und Gewerkschaften, sondern eher in basisdemokratischen linken Bewegungen politisiert. Sie arbeiten auch nicht in Großbetrieben, sondern in schwer organisierbaren Branchen wie der Gastronomie oder der Pflege. Oft ist es kompliziert, die Verbindung zwischen den unterschiedlichen Branchen herzustellen.

Dabei gab es vor fast zehn Jahren mit dem Euromayday bereits einen branchenübergreifenden Organisationsversuch. Diese Mai-Aktivitäten der Prekären breiteten sich über Spanien und Italien nach Deutschland aus. Prekär Beschäftigte aus unterschiedlichen Ländern und Branchen gehen mit Erwerbslosen gemeinsam auf die Straße und kämpfen für ihre Rechte, lautete das Konzept. In den meisten Städten stagnierten die Mayday-Aktivitäten bald und wurden nach wenigen Jahren eingestellt. Die Suche nach gemeinen Organisationskonzepten geht weiter. Im vergangenen Herbst machten die Berlin Migrant Strikers das Konzept des »Sozialstreiks« in Deutschland bekannt, der ebenfalls von linken Kollektiven und Organisationen von Prekären in Italien ausging.

http://jungle-world.com/artikel/2015/18/51873.html

Peter Nowak

Zwangsräumung ausgesetzt

Aktivisten besetzten zuvor Zentrale der landeseigenen Immobiliengesellschaft Berlinovo

Ausgesetzt ins Nichts – so laufen viele Zwangsräumungen in der Hauptstadt. Aber manchmal werden die Räumungen zum Glück der Mieter selber ausgesetzt.

Eigentlich sollte Nils S. am Montag seine Wohnung im Berliner Stadtteil Hellersdorf verlieren. Für 10 Uhr hatte sich der Gerichtsvollzieher angekündigt. Doch in letzter Minute wurde der Räumungstermin ausgesetzt. 25 Mitglieder des Berliner Bündnisses »Zwangsräumungen verhindern« hatten am vergangenen Donnerstag das Foyer der Berlinovo Immobilien AG-Zentrale besetzt. Der Firma gehört das Haus, in dem S. wohnt. Sie hatte dem schwer kranken Mieter gekündigt und sich damit juristisch durchgesetzt. Hintergrund war ein Streit zwischen S. und einigen Nachbarn. Nach Gesprächen mit den Besetzern teilte ein Jurist der Berlinovo mit, dass die Räumung ausgesetzt werde.

Der Räumungstitel bleibt allerdings weiterhin gültig. Für das Bündnis gegen Zwangsräumungen ist die Auseinandersetzung daher auch noch längst nicht beendet. Inwieweit die Berlinovo bereit ist, das Mietverhältnis generell fortzusetzen, werden Verhandlungen zwischen dem Unternehmen und dem Mieter zeigen. Trotzdem sehen die Aktivisten die Aussetzung der Zwangsräumung als einen Erfolg: »Ohne die Aktion sowie der Solidarität und Hartnäckigkeit der Beteiligten wäre es am 4. Mai zu einer Zwangsräumung inklusive deren Folgen gekommen«, meinte Bündnisaktivistin Sarah Walter gegenüber »nd«. Die Aktivisten haben Gesprächspartner der Berlinovo darauf aufmerksam gemacht, dass eine Räumung für S. eine existenzielle Gefahr bedeute. »Der Mieter ist schon gesundheitlich angeschlagen. Wenn er auf die Straße gesetzt wird oder in einem Obdachlosenheim leben muss, kann sich sein Zustand schnell verschlechtern«, redete ein Aktivist den Mitgliedern des Vorstands der Berlinovo ins Gewissen. Doch bei der Aussetzung der Räumung dürfte vor allem die Präsenz von Medienvertreten bei der Aktion eine Rolle gespielt haben.

Schließlich kann die Firma schlechte Nachrichten kaum gebrauchen, ist sie doch ein Überbleibsel einer der kostspieligsten Berliner Politaffären der letzten Jahrzehnte. In der Berlinovo sind die ursprünglich von der Bankgesellschaft Berlin AG aufgelegten Immobilienfonds zusammengefasst, die im Jahr 2001 ein Grund für den Berliner Bankenskandal waren. In den letzten Jahren hat sie einiges für ihre Imagepflege getan. So wirbt die Berlinovo mit dem Label »Fair-mieter« und verspricht auf ihrer Homepage »Gemeinsam Zukunft gestalten« zu wollen. Für Mieter S. haben sich die Zukunftsaussichten nach der Aussetzung der Zwangsräumung zunächst einmal etwas verbessert.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/970070.zwangsraeumung-ausgesetzt.html

Peter Nowak

Tee und andere Drogen

Vor Kriminalisierung wird gewarnt.

Die Null-Toleranz-Politik gegenüber Drogen und Stoffen, die man dafür hält, hat eine lange Tradition. Oft gibt es politische Gründe.

1777 wurde in Preußen Tee zur Droge erklärt und verboten. Das Getränk wurde damals gerade bekannt und der Staat wollte mit dem Verbot verhindern, dass die Leute viele Stunden untätig bei einem Glas Tee herumsitzen statt zu arbeiten. Der Berliner Historiker Jan-Henrik Friedrichs erzählte diese Anekdote um zu verdeutlichen, dass gesellschaftliche und politische Gründe bei der Frage maßgeblich sind, welche Drogen wann illegal sind. Er war Teilnehmer einer Diskussionsveranstaltung beim Verein Helle Panke, in der es unter dem Titel »Mach meinen Görli nicht an« um den Umgang mit aktuellen Drogen geht.

Der Görlitzer Park in Kreuzberg ist seit Monaten in der Diskussion. Seit 31. März gilt dort die Null-Toleranz-Regel. Selbst kleinste Mengen Cannabis können zu einer Anzeige führen. Die Kritik an dieser Maßnahme, mit der sich Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) als Law-and-Order-Mann profilieren will, ist groß. Der Jurist Wolfgang Neskovic bezeichnete die Null-Toleranz-Linie als unvereinbar mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts.

Auch auf der Podiumsdiskussion wollte die Politik von Henkel niemand verteidigen. »Kriminalisierung der Drogennutzer und -verkäufer ist keine Lösung für gesellschaftliche Probleme«, sagte der Vorsitzende der Berliner Linkspartei, Klaus Lederer. Während in mehreren Bundesstaaten der USA, aber auch in Portugal von der Politik erkannt worden sei, dass der Krieg gegen die Drogen gescheitert ist und die Entkriminalisierung an Zustimmung gewinnt, setzten Berlins Konservative weiter auf alte, gescheiterte Konzepte, so Lederer. Dabei sei der Görlitzer Park für Henkel eine lange gesuchte Gelegenheit, mit der liberalen Drogenpolitik der letzten Jahre zu brechen.

Auch Astrid Leicht von der Organisation Fixpunkt, die Drogenkonsumenten berät und unterstützt, lehnte eine Kriminalisierung entschieden ab. Sie warnte allerdings auch vor einer Romantisierung der Drogenverkäuferszene. Dort herrsche Kapitalismus pur. Regulierung sei im Interesse der Konsumenten dringend notwendig.

Katharina Oguntoye vom Interkulturellen Netzwerk Joliba beschäftigte sich mit der Frage, warum der Drogenhandel im Görlitzer Park auf ein derart starkes mediales Interesse stößt, obwohl es in Berlin viele andere Orte gibt, in denen solche Stoffe ebenfalls verkauft werden. Sie sieht eine Aversion gegen Menschen aus Afrika als einen Grund. Joliba hat mehrere Monate den Kontakt mit den Drogenverkäufern gesucht. Postkarten wurden gedruckt und verteilt. »Wir haben gesehen, dass es hier nicht um eine anonyme Masse, sondern um Menschen mit ihren ganz persönlichen Schicksalen geht.« Viele würden gerne eine legale Arbeit verrichten, wenn sie die Möglichkeit hätten.

Manche im Publikum brachten den Hang zur null Toleranz gegenüber Drogen mit dem Wandel der Bevölkerungsstruktur in Kreuzberg in Verbindung. Der gut verdienende Mittelstand wolle weder einkommensarme Menschen noch Drogenkonsumenten in seiner Nähe dulden.

Kreuzberger Stadtteilinitiativen protestieren regelmäßig gegen die Kriminalisierung von Flüchtlingen. »Nicht die Drogen, sondern Vertreibung und Rassismus sind das Problem«, sagen sie.

Neues Deutschland Berlin-Ausgabe vom Donnerstag, 30. April 2015, Seite 12

Peter Nowak

Berlinovo hat Zwangsräumung eines schwerkranken Mieters ausgesetzt

Die für den 4. Mai angesetzte Räumung eines Mieters in Marzahn-Hellersdorf wird vorerst ausgesetzt. Das ist das Ergebnis eines Go-In von ca. 30 Personen in die Zentral der landeseigenen Berlinnovo Immobilien Gesellschaft am Halleschen Ufer. Das Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ hatte zu der Aktion am Donnerstagnachmittag aufgerufen, nachdem es relativ kurzfristig von der anstehenden Zwangsräumung des schwerkranken Mieters der Berlinnovo erfahren hatte. Zunächst sah es nicht so aus, als wäre das Unternehmen verhandlungsbereit. Ein Jurist erklärte, er hätte kein Verhandlungsmandat und forderte die Unterstützer des Mieters zum sofortigen Verlassen des Gebäudes auf. Die Räumung wollte er auf keinen Fall zurücknahmen, weil den anderen MieterInnen sei ein Zusammenleben mit dem Mieter nicht zuzumuten sei. Dem widersprachen die Aktivist/innen heftig. Sie hätten sich mehrmals mit den Nachbarn unterhalten. Sie hatten bestätigt, dass es in der Vergangenheit Probleme gegeben hatte. Eine Zwangsräumung des Mieters hätten sie aber vehement abgelehnt. Zunächst alles nach einer Konfrontation aus. Erst als ein Mitglied des Berlinnovo-Vorstands erschien, begannen die Verhandlungen. Nach einer knappen Stunde wurde das Ergebnis verkündet. Die Räumung wird vorerst ausgesetzt. In den nächsten Wochensoll es eitere Verhandlungen mit den Mieter geben, um eine einvernehmliche Lösung zu erzielen. Das Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ betonte, dass der Aufschub ein großer Erfolg sei, weil es jetzt Raum für andere Lösungen gebe. Allerdings sei die Räumung nur ausgesetzt. Zu einer Erklärung, dass auf die Räumung des Mieters verzichtet wird, hat sich die Berlinnova nicht bereit erklärt. Vor dem Hintergrund des weiterhin gültigen Räumungsurteil ist der Mieter also immer noch von der Verlaust der Wohnung bedroht. Hier könnte auch ein Druckmittel liegen, um ihn zu für ihn ungünstigen Zugeständnissen zu nötigen. Auch in der Vergangenheit hat es bereits Gespräche zwischen den Mieter/innen und der Berlinovo gegeben.
„Der Mieter war zu einer Mediation bereit. Doch die Berlinovo hatte die Gespräche abgebrochen und auf den Räumungstermin bestanden“, erklärte  ein Mitglieds des Bündnisses Zwangsräumung verhindern.

Das Erbe des Berliner Bankenskandals

Durch die drohende Räumung kam mit der Berlinnovo eine Immobilienfirma in den Focus, die bisher wenig bekannt ist. Ihre Geschichte reicht in die 1990er Jahre zurück. In der Berlinnov sind die ursprünglich von der Bankgesellschaft Berlin AG aufgelegten Immobilienfonds zusammengefasst, die im Jahr 2001 ein Grund für den „Berliner Bankenskandal“ waren. Die Berlinovo hält diese Fondsbestände heute als landeseigenes Nachfolgeunternehmen der Berliner Immobilien Holding (BIH) bzw. der Immobilien und Baumanagement der Bankgesellschaft Berlin GmbH (IBG). Für die Fondszeichner/innen wurden seinerzeit langjährige Gewinngarantien ausgestellt, die vom Land Berlin gedeckt wurden und bis heute gültig sind. Um diese Gewinngarantien zu bedienen, verfolgt die Berlinovo eine eindeutig renditeorientierte Unternehmenspraxis.. Die Aussetzung der Zwangsräumung war der Angst vor einem Imageverlust geschuldet. Schließlich war ein RBB-Team während des Go-Ins vor Ort. Nur wenn der Druck nicht nachlässt, kann der Mieter hoffen, dass die Räumung nicht nur vorübergehend ausgesetzt wird.

aus: MieterEcho online 01.05.2015

http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/berlinovo-zwangsraeumung.html

Peter Nowak

Kunduz-Angriff: Klage von Opfern erneut abgewiesen

Gericht entscheidet, dass dem Befehlsgeber des Luftangriffs mit etwa 100 Toten, Oberst Klein, „keine schuldhafte Verletzung von Amtspflichten vorzuwerfen“ ist

Das Oberlandesgericht Köln bestätigte [1] am 30. April ein Urteil des Bonner Landgerichts vom Dezember 2013 [2], wonach Angehörige der Opfer eines Militäreinsatzes leer ausgehen. Anfang September 2009 waren nahe dem deutschen Feldlager in Kunduz Tankfahrzeuge von Taliban-Kämpfern entführt worden. Der damalige Oberst Klein gab in der Nacht zum 4. September 2009 den Befehl für den Angriff.

Daraufhin bombardierte ein US-Kampfjet die Laster, die in einem Flussbett feststeckten. Bei der Bombardierung waren etwa 100 Menschen getötet worden, darunter viele Zivilisten. Die Opfer waren meinst junge Männer, die Benzin von dem gestrandeten Tanker abzapfen wollten. Geklagt hatten ein afghanischer Vater, dessen zwei Söhne bei der Bombardierung getötet wurden, und eine Witwe, deren Mann ums Leben kam. Als freiwillige Leistung hatte die Bundesrepublik Deutschland an die Familien von 90 Opfern jeweils 5.000 US-Dollar (4.470 Euro) gezahlt, die Kläger forderten zwischen 40.000 und 50.000 Euro.

Weißwäscher von Klein und der Militärlobby

Das Gericht beschränkte sich nicht darauf, die Entschädigungsklage aus formalen Gründen zurückzuweisen, sondern begründete ihre Entscheidung politisch. Nach Auffassung des Gerichts ist Oberst Klein keine schuldhafte Verletzung von Amtspflichten vorzuwerfen. Er habe alle verfügbaren Aufklärungsmaßnahmen genutzt, um auszuschließen, dass sich Zivilisten am Zielort befanden.Unter anderem habe er sich mehrfach bei einem Informanten vergewissert.

Es ist schon bemerkenswert, dass sich das Gericht hier unkritisch zum Claqueur von Oberst Klein und seinen Unterstützern macht. Schließlich haben Recherchen längst ergeben, dass er Warnungen ignoriert und sogar US-Soldaten bewusst getäuscht [3] habe. So heißt es in einem Natogeheimbericht:

Der Bundeswehroberst Georg Klein wollte, dass US-Truppen am 4. September 2009 die von Taliban entführten Tanklaster bombardieren – dafür hat er sie bewusst mit Falschinformationen versorgt, meldete der Spiegel – mit Verweis auf einen Natogeheimbericht [4].

In dem rund 500 Seiten starken Untersuchungsbericht, der bisher nur in Auszügen bekannt war und dem SPIEGEL vorliegt, korrigiert die Nato dagegen, dass es keine sicheren Erkenntnisse gegeben habe, „die auf einen geplanten Angriff der Taliban“ gegen das deutsche Feldlager hinwiesen.

Gegenüber den Nato-Ermittlern gab Klein zudem zu, dass er gezielt die Unwahrheit angegeben habe, um sich die amerikanische Luftunterstützung zu sichern. Dafür musste er den Eindruck erwecken, dass seine Soldaten Feindberührung hatten, also „troops in contact“ waren, kurz: TIC.

„Sein Problem sei gewesen, dass er gewusst hätte, dass es in Wirklichkeit keine TIC-Situation gab“, heißt es in dem Protokoll von Kleins Befragung zusammenfassend. „Er war der Ansicht, dass er bei Meldung einer TIC-Situation die gewünschte Luftunterstützung bekommen werde.“

Laut Spiegel wurde Klein für sein Verhalten sogar von deutschen Militärs kritisiert. Kleins Beförderung zum General standen aber weder die über 100 Toten noch die militärinterne Kritik an seinen Verhalten im Wege. Das ist natürlich die Praxis der Militärs überall auf der Welt.

Auch das Oberlandesgericht zeigt mit seiner Weißwäscherei für Oberst Klein nur, dass es in einer alten Tradition steht. Auch die zivilen Opfer des Natokrieges in Jugoslawien, die in Deutschland auf Entschädigung klagten, gingen leer [5] aus. Der juristische Streit um die Entschädigung der Kunduz-Opfer ist noch nicht zu Ende.

Das OLG Köln hat eine Revision beim Bundesgerichtshof zugelassen. Die Anwälte der Kläger haben schon angekündigt, dass sie diesen Weg gehen werden. All zu große Hoffnungen sollten sie sich allerdings nicht machen.

„Töte einen Menschen und du kommst lebenslänglich ins Gefängnis. Töte Hunderte und Du bekommst einen Orden umgehängt und wirst befördert.“ – Dieser Spruch kursierte bereits in pazifistischen Kreisen der Weimarer Republik und wie sich nicht nur am Fall Klein zeigt, hat sich daran auch heute wenig geändert.

http://www.heise.de/tp/news/Kunduz-Angriff-Klage-von-Opfern-erneut-abgewiesen-2631119.html

Peter Nowak

Links:

[1]

http://www.olg-koeln.nrw.de/index.php

[2]

http://www.olg-koeln.nrw.de/index.php

[3]

http://www.zeit.de/politik/ausland/2010-01/afghanistan-klein-gesteht-luege

[4]

http://www.spiegel.de/politik/ausland/kunduz-affaere-oberst-klein-gibt-gezielte-falschinformationen-zu-a-672261.html

[5]

http://www.lto.de/recht/nachrichten/n/bverfg-beschluss-2-bvr-2660-06-2-bvr-487-07-bruecke-varvarin-nato-angriff-zivile-opfer-schadensersatz/