Der Streik des 21. Jahrhunderts

Angesichts einer größeren Zahl an Ausständen ist derzeit vom »Streikland Deutschland« die Rede. Tatsächlich hat die Zahl der Streiktage abgenommen. Das liegt auch an den veränderten Arbeits- und Streikformen.

In Brandenburg rief der Sender RBB in der vergangenen Woche eine alte Aktionsform der außerparlamentarischen Bewegung in Erinnerung, den »Roten Punkt«. Zwischen 1968 und 1971 hatten Fahrgäste aus Protest gegen die Erhöhung der Ticketpreise in verschiedenen bundesdeutschen Städten den öffentlichen Nahverkehr boykottiert. Autofahrer konnten damals mit einem »Roten Punkt« am Wagen zeigen, dass sie den Boykott unterstützten und die Protestierenden kostenlos transportierten.

Der RBB hat den »Roten Punkt« allerdings unter anderen Vorzeichen übernommen, wie schon das Motto »Mit dem Roten Punkt gemeinsam durch den Streik« zeigt. Der Sender hat Autofahrer dazu aufgerufen, Busse und Bahnen für die Zeit des Streiks kostenlos zu ersetzen. In Brandenburg befinden sich seit über einer Woche die Fahrer von 16 Verkehrsgesellschaften für eine Lohnerhöhung von 120 Euro im Monat im Streik. Der Ausstand könnte dazu beitragen, dass Mitfahrgelegenheiten in Brandenburg wieder populärer werden.

Schwierig wird es mit der Selbsthilfe allerdings angesichts eines anderen Streiks. Manche Geldautomaten in Potsdam geben keine Scheine mehr aus, manche Einzelhändler und Supermärkte in Brandenburg und Berlin haben kein Kleingeld oder zu viel Papiergeld im Tresor. Dafür ist ein Streik der Fahrer der Geldtransportfirma Prosegur verantwortlich. Die Beschäftigten verlangen einen höheren Stundenlohn als den bisherigen von 10,92 Euro und Verbesserungen beim Weihnachts- und Urlaubsgeld. Doch das Unternehmen zeigte sich bislang nicht zu Zugeständnissen bereit. Und nicht nur in Berlin und Brandenburg wird gestreikt. In Rheinland-Pfalz traten beispielsweise Beschäftigte des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Ende April in einen eintägigen Warnstreik.

Solche Arbeitskämpfe sorgen in der Regel kaum für Schlagzeilen. Der Streik der Lokführer unter Leitung der Gewerkschaft deutscher Lokomotivführer (GDL) hat hingegen zur Konsequenz, dass in Wirtschaft, Politik und Medien weitere Einschränkungen des Streikrechts gefordert werden. Zu den vorgeschlagenen Maßnahmen gehört die Etablierung einer Zwangsschlichtung, mit der aufsässigen Gewerkschaften das Streiken erheblich erschwert werden soll. Ohnehin soll das geplante Tarifeinheitsgesetz dafür sorgen, dass Gewerkschaften wie die GDL ihre Verhandlungsmacht verlieren.

Ideologische Rechtfertigungen für die Einschränkung der Gewerkschaftsrechte konnte man in diesen Tagen häufig hören und lesen. »Streikland Deutschland« heißt ein neuer Slogan, mit dem der Eindruck erweckt werden soll, deutsche Beschäftigte zettelten besonders häufig Arbeitskämpfe an. Der Düsseldorfer Streikforscher Werner Dribbusch widersprach im RBB diesem Eindruck: »Die derzeitige Häufung von Streiks ist ein Zufall.« Von einer Absprache der unterschiedlichen Einzelgewerkschaften könne keine Rede sein.

Der Streik bei der Bahn wird sogar von der Konkurrenz zwischen der im Beamtenbund organisierten GDL und der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) befeuert, die zum DGB gehört. Aber auch unter den Einzelgewerkschaften des DGB gibt es Revierkämpfe. So streiten sich die IG Metall und Verdi in manchen Branchen um Mitglieder. Auch die Zahlen des wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung widerlegen die Behauptung vom »Streikland Deutschland«. Demnach sank die Zahl der ausgefallenen Arbeitstage von 551 000 im Jahr 2013 auf 392 000 im Folgejahr, die Zahl der an Arbeitskämpfen beteiligten Kollegen ging von einer knappen Million 2013 auf 345 000 im vergangenen Jahr zurück.

Diese Zahlen und der Eindruck von recht häufigen Ausständen in den vergangenen Wochen stehen nicht im Widerspruch. Mit der Auflösung der fordistischen Arbeitsverhältnisse sind Arbeitskämpfe entgegen einer auch in Teilen der Linken verbreiteten Meinung nicht obsolet geworden. Doch ihre Erscheinungsformen haben sich verändert. In Deutschland und den meisten europäischen Staaten sind nur noch selten große Arbeitermassen zu sehen, die Streikparolen rufend, mit geballten Fäusten vor ihrer Fabrik stehen. Dafür gibt es Lohnabhängige, die auch in kleinen Firmen und Geschäften, teilweise über längere Zeiträume hinweg, Arbeitskämpfe führen.

Manchmal streiken auch Personen, die formal nicht zu den Lohnabhängigen gehören. So traten Ende April die Künstler des Projektraums OKK in Berlin-Wedding wegen ihrer prekären Lebensbedingungen in einen unbefristeten Streik. Dieser richte sich vor allem gegen die verschärften Aufnahmebedingungen in die Künstlersozialkasse, sagte Pablo Hermann, Mitorganisator des »Art Strike«, dem Neuen Deutschland. Es handle sich um eine »Arbeitskampfmaßnahme im politischen Sinn«, mit der auch auf die schwierige Lage für bildende Künstler in ganz Berlin aufmerksam gemacht werden solle, nicht um eine Kunstaktion.

Dieser Wandel der Arbeitskämpfe führt dazu, dass trotz einer größeren Anzahl von Streiks die Zahl der Streiktage und der daran beteiligten Menschen sinkt. Allerdings wird auch das Bewusstsein der Beschäftigten dafür geweckt, dass sie selbst die Initiative für einen Arbeitskampf ergreifen können. In großen Fabriken war es in der Vergangenheit für eine gut verankerte DGB-Gewerkschaft einfach, ihre Mitglieder für einen Warnstreik vor die Tore zu bewegen. In kleinen Betrieben mit häufig niedrigem gewerkschaftlichen Organisationsgrad kommt es hingegen in höherem Maß auf die Eigeninitiative und das Engagement der einzelnen Beschäftigten an. Zudem müssen diese neben ihren Kollegen weitere Verbündete suchen.

Besonders im Care-Bereich kann ein solcher Arbeitskampf nur erfolgreich sein, wenn auch die Nutzer der bestreikten Einrichtungen in die Schritte einbezogen werden. So wandten sich Beschäftigte der Berliner Charité in ihrem Streik für einen besseren Personalschlüssel Ende April auch an Patienten und Angehörige, die ebenfalls ein Interesse an der Durchsetzung dieser Forderung haben. Der Erfolg des Kita-Streiks, der Anfang Mai in verschiedenen Bundesländern begonnen hat, wird unter anderem davon abhängen, ob die Eltern bereit sind, Nachteile durch den Ausstand in Kauf zu nehmen, weil sie die Forderungen der Beschäftigten unterstützen. Allerdings wiegen die Nachteile in diesem Fall schwer. Eltern müssen nicht nur sehen, wo die Kinder in der Zeit bleiben. Sie müssen für die wegen des Streiks entfallenden Kita-Tage trotzdem Gebühren zahlen. Die Arbeitgeber werden hingegen kaum

http://jungle-world.com/artikel/2015/20/51947.html

Peter Nowak