Was sagen die Zahlen über die politische Gewalt in Deutschland aus?

Die neue Speerspitze der ArbeiterInnenbewegung

Über die Notwenigkeit gewerkschaftlicher Organisierung im Care-Bereich

Die verstaubten Verhältnisse wegcaren. Aufkleber mit dieser Parole finden sich noch zahlreich im Berliner Stadtbild. Es sind Erinnerungen an die Aktionskonferenz Care-Revolution, die dort Mitte März stattgefunden hatbenutzen. Nicht nur die große Resonanz, auf die der Kongress stieß, macht deutlich, dass es sich hier nicht um eine der vielen Konferenzen handelt, die schnell wieder vergessen sind. Es war bei vielen der meist jungen TeilnehmerInnen fast eine Aufbruchstimmung zu spüren. Ein neues Thema und moderne Slogans, die auch gesellschaftlich im Trend sind wann kann eine linke Bewegung das schon einmal von einer Debatte behaupten? Doch genau hier liegt eine Gefahr. Denn der ganze Hype um das Neue und Moderne, das die Thematik der Care-Revolution ausstrahlt, lässt schnell in Vergessenheit geraten, dass es sich eigentlich um ein sehr altes Thema handelt. Nur lange Zeit wurde es unter dem Begriff Reproduktionsarbeit gefasst. Das klingt manchen dann doch zu altmodisch. Seither gibt es gleich eine ganze Reihe neuerer Begriffe. Care-Revolution steht dabei eindeutig auf dem ersten Platz. Doch auch von Sorgearbeit wird häufig gesprochen.

Daher hat die Berliner Politikwissenschaftlerin Pia Garske in einem Beitrag in der Zeitschrift analyse und kritik den Care-Begriff als beliebig kritisiert: Seine Offenheit und auch die unscharfen Bestimmungen von AkteurInnen und möglichen Interessengegensätzen macht ihn zu einem Containerbegriff, der gbenutzenanz unterschiedlich, auch neoliberal gefüllt werden kann. Ein Beispiel dafür ist die Auslagerung von Care-Arbeit auf Frauen, in seltenen Fällen auch Männern, aus den Krisenländern der europäischen Peripherie aber auch aus Asien sowie Zentral- und Lateinamerika. Deutsche Frauen aus der Mittelschicht erlangen so mehr persönliche Autonomie für ihre berufliche Karriere. Für die CarearbeiterInnen, die oft sogar mit im Haushalt leben, gilt das allerdings nicht.

Es wäre naiv zu glauben, dass der Kapitalismus nicht auch Teile der Care-Revolution-Debatte für seine Modernisierung vereinnahmen kann, so wie es die Umweltbewegung und viele andere neue soziale Bewegungen erleben mussten. Gerade aus einem syndikalistischen Verständnis heraus wäre es wichtig, die Veränderungen in der Arbeitswelt in den letzten Jahren in den Blick zu nehmen, die mit dazu beigetragen haben, dass die Care-Revolution-Debatte nicht nur in Deutschland an Bedeutung gewonnen hat. Diese Veränderungen brachten Jörn Boewe und Johannes Schulten in einem Beitrag in der Wochenzeitung Der Freitag etwas zugespitzt so auf den Punkt: Vor 30 Jahren schrieben Männer im Blaumann Tarifgeschichte: Stahlkocher, Automobilbauer und Drucker erkämpften 1984 in wochenlangen Streiks den Einstieg in die 35-Stunden-Woche. Heute, 30 Jahre später, ist die Speerspitze der Arbeiterbewegung überwiegend weiblich und trägt blaue, grüne und weiße Kittel.

Man kann den Kampf um die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse in der Berliner Charité als aktuelles Beispiel heranziehen. Die Beschäftigten waren auf der Care-Revolution-Konferenz vertreten. Zeitgleich fand ebenfalls in Berlin ein Treffen des Netzwerks europäischer BasisgewerkschafterInnen statt. Leider gab es keine Bezugnahme aufeinander, was nicht nur im Bereich Gesundheit möglich und wünschenswert gewesen wäre. Das soll keine Kritik, sondern eine Aufforderung sein, die Care-Arbeit in gewerkschaftlichen Zusammenhängen zu organisieren und nicht erst, wenn der nächste Kongress ansteht.

aus: Direkte Aktion, Mai/Juni 2014


Peter Nowak

Community Organizing – ein Modell für den Mieterkampf?

Protest kontra Schäuble im Berliner Ensemble

Am Theatervorplatz des Berliner Ensembles (BE) haben am Sonntag einige Dutzend Menschen gegen einen Auftritt von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) im Theater protestiert, der dort mit dem Dirigenten Daniel Barenboim diskutierte. Die linken Protestierenden kritisierten, dass nur wenige Wochen nach einem Auftritt von Thilo Sarrazin im BE jetzt Schäuble eine Bühne geboten werde. In einem Beitrag wurde betont, dass nicht die Person Schäuble, sondern die Politik der Bundesregierung kritisiert werde. BE-Direktor Claus Peymann diskutierte angeregt mit den Demonstranten.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/931275.protest-kontra-schaeuble-im-berliner-ensemble.html

Peter Nowak

„Mietrebellen“

Das gläserne Bankkonto und die soziale Kontrolle

Die Kontenabfragen der Behörden nehmen zu; die Datenschutzbewegung zeigt sich diesem Ausspähen gegenüber desinteressiert

In den letzten Jahren war der Datenschutz ein großes Thema in Teilen der Gesellschaft. Vor allem die Vorratsdatenspeicherung hat die öffentliche Debatte angeheizt. Jetzt wurde bekannt, dass die staatliche Datenschnüffelei in einem Sektor zugenommen hat, der auch in der Datenschutzdebatte immer unterbelichtet war. Die Süddeutsche Zeitung berichtet [1], dass staatliche Behörden in den vergangenen 15 Monaten private Konten so oft durchleuchtet haben wie noch nie.

2013 verzeichnete das zuständige Bundeszentralamt für Steuern knapp 142.000 dieser Kontenabfragen. Sie haben sich damit im Vergleich zu 2012 verdoppelt. Im ersten Quartal des neuen Jahres wuchs ihre Zahl ähnlich stark – von gut 24.000 auf mehr als 48.000. Seit 2005 haben die Behörden erst die gesetzliche Möglichkeit, die Konten zu durchleuchten Seitdem machen Jobcenter, Arbeitsagenturen, Finanz-, Bafög- und Wohngeldämter immer häufiger davon Gebrauch.

Steuerbehörden und Gerichtsvollzieher auf Datenjagd

Nach Angaben der Süddeutschen Zeitung nutzen vor allem Steuerbehörden und Gerichtsvollzieher das Instrumentarium immer häufiger. Steuerbehörden hätten in fast 69.000 Fällen Kontodaten abgefragt, 7.000 mehr als 2012. Bei den Kontoabfragen der anderen Behörden ist der Anstieg in den vergangenen 15 Monaten nach Angaben des Finanzministeriums „nahezu vollständig“ auf die Gerichtsvollzieher zurückzuführen.

Für sie wurde erst Anfang 2013 die gesetzliche Möglichkeit geschaffen, Auskünfte bei der Rentenversicherung, beim Bundeszentralamt für Steuern und beim Kraftfahrt-Bundesamt über Arbeitsverhältnisse, Konten und Fahrzeuge einzuholen, wenn sich die Ansprüche des Gläubigers auf mehr als 500 Euro belaufen.

Dieses Instrument werde vor allem bei unkooperativen Schuldnern genutzt, die keine Vermögensauskunft vorgelegt haben, wird der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Gerichtsvollzieherbundes [2], Detlef Hüermann, in der Zeitung zitiert. Damit wird Gerichtsvollziehern ein Überwachungsinstrumentarium in die Hand gegeben, das tief in die Privatsphäre reicht.

Denn im Zeitalter des bargeldosen Zahlungsverkehrs verrät ein Kontoabgleich eine Menge nicht nur über die Arbeitsverhältnisse, sondern auch über die Einkaufsgewohnheiten und das Freizeitverhalten des Überprüften. Schließlich schlägt sich heute jeder dieser Aktivitäten in einer Kontobewegung nieder. Selbst wenn man davon ausgeht, dass sich die Gerichtsvollzieher an die gesetzlichen Festlegungen halten und das Augenmerk nur auf bestimmte Transaktionen richten, müssen sie alle Kontobewegungen kontrollieren, um die gesuchten Daten herauszufinden. Dass gilt auch für alle übrigen Behörden, die Zugriff auf das Bankkonto haben.

Wenn ein eBay-Handel zu Sanktionen führt

Besonders Erwerbslose empfinden es als besondere Demütigung, dass jede Kontobewegung den Arbeitsagenturen bekannt wird und oft auch Folgen hat. So berichtet ein Berliner Hartz IV-Empfänger gegenüber Telepolis, er sei sanktioniert worden, weil sich aus seinen Kontodaten ergeben hat, dass er eine Angelausrüstung über eBay verkauft hat. Obwohl der Betrag nur im unteren dreistelligen Bereich lag, hätte er dem Jobcenter gemeldet werden müssen.

Ähnliche Beschwerden häufen sich in letzter Zeit. Doch auch in der Datenschutzbewegung war diese Form der Schnüffelei in der Privatsphäre bisher kein Thema. Das liegt auch daran, dass sich der Kern der Aktivisten zum Mittelstand zählt und wenig dafür interessierte, wenn Erwerbslose zu gläsernen Bankkunden werden.

Doch das könnte sich ändern. Denn die zeigende Zahl der Kontoabfragen zeigt, dass der Mittelstand auch davon so wenig verschont bleibt wie vom Abrutschen auf das Hartz IV-Niveau. Übrigens hat man das Kontoausspähen ursprünglich damit gerechtfertigt, dass damit Straftaten wie der internationale Drogenhandel und der „internationale Terrorismus“ bekämpft [3] werden sollten.

Damit wurde Akzeptanz erzeugt. Längst zeigte sich, dass es um die soziale Kontrolle vieler Menschen geht. Das sollte bei der Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung bedacht werden. Auch die wird von Sicherheitsbehörden und – politikern als unverzichtbar im Kampf gegen Kapitalverbrechen erklärt und dürfte in der Praxis ebenso zur Massenausspähung führen wie die Kontoabfragen.

[1]

[2]

[3]http://www.ad-hoc-news.de/datenschutzbeauftragter-kritisiert-erleichterte–/de/News/2239907

Kein Bleiberecht im Protestcamp

Nach der Räumung des Flüchtlingscamps auf dem Berliner Oranienplatz ist die Stimmung zwischen manchen ehemaligen Bewohnern und den verantwortlichen Politikern immer noch angespannt. Die Unterstützer der Flüchtlinge beginnen mit der Analyse eigener Fehler.

»Eine Diskussion ist nicht mehr möglich, daher beende ich die Veranstaltung jetzt«, sagte ein sichtlich gestresster Reza Amiri. Er ist Bezirksverordneter in Friedrichshain-Kreuzberg für die Linkspartei und moderierte in der vergangenen Woche eine zweistündige Diskussion im Veranstaltungsort SO 36, bei der die Stimmung von Beginn an überaus gereizt war. Wenige Tage nach der Räumung des Flüchtlingscamps auf dem Oranienplatz trafen die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) und diejenigen Flüchtlinge aufeinander, die die freiwillige Räumung abgelehnt hatten.

»Wir wollen kein Blabla hören« und »Sie sind Teil des Problems« waren noch die freundlicheren Sätze, die die Bürgermeisterin zu hören bekam. Bei vielen verfing es auch nicht, dass Herrmann die Ausdauer der Flüchtlinge lobte und die bundesdeutsche Flüchtlingspolitik als rassistisch bezeichnete. Auch als es um die Zukunft der besetzten ehemaligen Gerhard-Hauptmann-Schule ging, redeten Politiker und Geflüchtete aneinander vorbei. Der Bürgermeisterin schwebte ein Flüchtlingsprojekt vor, das von Politikern und Bewohnern gemeinsam entwickelt werden sollte. Die derzeitigen Bewohner des Gebäudes riefen schlicht: »Wir wollen endlich eine funktionierende Dusche.«

Und so schienen im SO 36 die Fronten eindeutig zu verlaufen. Auf der einen Seite stand die grüne Bürgermeisterin, die die Flüchtlingsproteste im Allgemeinen lobte, aber auch klarstellte, dass es am Oranienplatz kein Camp zum Übernachten mehr geben werde. Auf der anderen Seite standen die Flüchtlinge und ihre Unterstützer, die sich wieder einmal darin bestätigt sehen konnten, dass SPD und Grüne es bestens verstehen, eine Protestbewegung zu spalten. Schließlich waren Bilder durch die Presse gegangen, auf denen zu sehen war, wie diejenigen Geflüchteten, die mit dem Senat das Abkommen geschlossen hatten, den Platz gegen eine feste Unterkunft einzutauschen, auch Zelte von Flüchtlingen abrissen, die diese Vereinbarung abgelehnt und in den vergangenen Wochen mehrmals erklärt hatten, den Platz nicht räumen zu wollen.

Für die Verhandlungen mit den Flüchtlingen wurde die Berliner Senatorin für Arbeit, Frauen und Integration, Dilek Kolat (SPD), von liberalen Medien sehr gelobt. Die Taz beförderte sie sogar in den Kreis der potentiellen Nachfolgerinnen und Nachfolger von Klaus Wowereit (SPD). In der Zeitung war in den vergangenen Monaten wiederholt der angeblich liberale Berliner Umgang mit den Flüchtlingsprotesten der Law-and-Order-Politik von Olaf Scholz (SPD) in Hamburg gegenübergestellt worden.

Nach der Räumung des Oranienplatzes zeigte sich jedoch, worin der Unterschied vor allem besteht. In Hamburg gab es Massendemonstrationen zur Unterstützung der Geflüchteten, die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hat mit der Aufnahme von Flüchtlingen organisationsintern eine Diskussion über eine Gewerkschaftsmitgliedschaft für Migranten ohne Aufenthaltstitel ausgelöst. In Berlin geschah nichts Vergleich­bares.

In der Berliner Antirassismusbewegung hat nach der Räumung des Oranienplatzes eine Debatte über die eigenen Fehler begonnen. Denn die Fronten sind nicht so klar, wie es im S0 36 schien. Dort waren die Geflüchteten, die den Platz freiwillig verlassen hatten, gar nicht anwesend. Dabei wäre es wichtig gewesen, ihre Sichtweise einzubeziehen und sie nicht einfach als Handlanger der Politik abzuqualifizieren, wie es einige Unterstützer und Gruppen taten. Diese Geflüchteten gehörten monatelang zum Flüchtlingsprotest und organisierten im vergangenen Jahr Demonstrationen und auch ein mehrtägiges Tribunal. Viele von ihnen haben auch nicht die Absicht, den Protest einzustellen. Sie hatten aber das nachvollziehbare Bedürfnis, morgens nicht schon beim Weg zur Toilette von Passanten beobachtet oder fotografiert zu werden. Ein Geflüchteter, der sich dazu entschlossen hatte, den Platz zu verlassen, formulierte es gegenüber einem Unterstützer prägnant: »Wir sind nicht die Affen, die ihr begaffen könnt, sondern Menschen mit Bedürfnissen.«

Das größte Problem scheint im Rückblick jedoch gewesen zu sein, dass es den Geflüchteten und ihren Unterstützern nicht gelungen ist, im Laufe der monatelangen Auseinandersetzungen Entscheidungswege zu finden, mit denen die Bedürfnisse und Forderungen sämtlicher Campbewohner berücksichtigt und Kompromisse ermöglicht worden wären. So hätten auch Forderungen an die Öffentlichkeit gestellt werden können, die alle Geflüchteten unterstützt hätten.

Die Bundestagsabgeordnete Halina Wawzyniak (Linkspartei) stellte während der Veranstaltung im SO 36 ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags vor, das eine rechtliche Handhabe aufzeigt, wie allen Flüchtlingen nach Paragraph 23 des Aufenthaltsgesetzes ein Aufenthalt aus humanitären Gründen gewährt werden könnte. Eine gemeinsame Forderung nach einem solchen Aufenthaltstitel hätte vielleicht Unterstützung über den unmittelbaren Kreis der Helfer hinaus erhalten. Die Versuche, die Solidaritätsarbeit mit den Geflüchteten unter dem Motto »Die letzte Meile laufen wir« (Jungle World 33/13) auszuweiten, stießen im vergangenen Jahr auf wenig Resonanz. So blieb den Campbewohnern und dem engeren Kreis der Unterstützer die Hauptarbeit überlassen, auch während der ­Verhandlungen mit dem Senat. Das machte es den politischen Verantwortlichen leicht, die unterschiedlichen Interessen gegeneinander auszuspielen.

http://jungle-world.com/artikel/2014/17/49730.html

Peter Nowak

Je besser es dem Standort Deutschland geht, desto mehr wächst die Armut

US-Militärhilfe für Ägyptens Putschregierung

Demokratie steht nicht auf der Agenda: Die US-Regierung hat die Beziehungen zum ägyptischen Regime wieder normalisiert

Das Pentagon hat die Lieferung von zehn Apache-Helikoptern an das Militär in Kairo angekündigt. US-Verteidigungsminister Chuck Hagel habe seinen Amtskollegen Sidki Subhi über die Entscheidung in Kenntnis gesetzt, hieß es aus Washington.

„Wir glauben, dass diese neuen Hubschrauber der ägyptischen Regierung im Kampf gegen Extremisten, die die Sicherheit der USA, Ägyptens und Israels bedrohen, helfen werden“, sagt Pentagon-Sprecher John Kirby. Die USA hatte die Militärhilfe für Ägypten im vergangenen Jahr eingefroren, nachdem die ägyptische Armee unter Führung von Abd al-Fattha al-Sisi den demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Mursi von der Moslembrüderschaft gestürzt hatte.

Nach Einschätzung von Außenminister Kerry könne die US-Regierung derzeit noch nicht feststellen, dass die neue Regierung in Kairo einen Übergang zur Demokratie unterstütze. Politische Beobachter sprechen eher von einer anderen innenpolitischen Entwicklung in Ägypten. Unter General Sisi, der sich bald zum zivilen Präsidenten wählen lassen will, ist Ägypten in seine autoritärste Phase getreten. Selbst die Mubarak-Herrschaft kann dagegen noch als liberal bezeichnet werden.

Unterdrückung jeglicher Opposition und der Presse

Selbst der regierungsnahe ägyptische Menschenrechtsrat kam kürzlich in einem Untersuchungsbericht zu der Feststellung, dass es sich bei den 632 Menschen, die bei der Räumung von Protestcamps gegen den Putsch ums Leben kamen, überwiegend um friedliche Demonstranten gehandelt [1] habe. Sie hatten nichts anders gefordert als die Wiedereinsetzung eines demokratisch gewählten Präsidenten, also eigentlich eine bürgerlich-demokratische Selbstverständlichkeit.

Nur weil es sich bei dem demokratisch gewählten Präsidenten um einen Moslembruder handelte und seine Anhänger in der Regel in die Nähe von islamistischen Fanatikern gerückt werden, gab es keinen weltweiten Aufschrei gegen die Massenrepression, die auch nach der blutigen Räumung der Protestcamps nicht abebbte.

Vor einigen Wochen verhängte ein ägyptischer Richter im Schnellverfahren 529 Todesurteile gegen vermeintliche Teilnehmer der Proteste gegen die Absetzung von Mursi. Plädoyers der Verteidigung wurden erst gar nicht zugelassen [2] . Gleichzeitig läuft seit Wochen ein Prozess gegen 20 in- und ausländische Journalisten, die als terroristische Mariott-Zelle angeklagt sind.

Mariott ist ein ägyptisches Hotel, in dem sich viele der Journalisten einquartiert hatten. In dem Prozess, in dem die Angeklagten in Käfigen vorgeführt wurden, präsentierte die Anklage auch „Beweise“ für das terroristische Treiben der Journalisten, wie ein Taz-Korrespondent aus Kairo schrieb [3]:

„Kistenweise wurden dem Richter im Verfahren gegen den Australier Peter Greste alltägliche Geräte der Fernseharbeit, bis hin zu elektrischen Kabeln und einer Computertastatur, vorgeführt. Der Vorsitzende Richter kämpfte damit, die Kisten zu öffnen und verzählte sich zwischendrin bei der Zahl der Kameras. Unklar ist, was die Staatsanwaltschaft mit diesen Ausrüstungsgegenständen zu beweisen sucht.“

Längst ist auch die nichtislamistische Opposition ins Visier der ägyptischen Repressionsorgane geraten. Weltweit gibt es kaum Kritik an dem autoritären Kurs der Regierung.

Dämonisierung einer demokratisch gewählten Regierung

Man stelle sich die Reaktionen in aller Welt vor, wenn es unter der Herrschaft Mursis einen politischen Massenprozess mit Todesstrafen und eine Inhaftierung kritischer Journalisten gegeben hätte. Eine internationale Protestwelle wäre die richtige Konsequenz gewesen.

Nur bleibt diese jetzt aus, wo nicht die Islamisten, sondern die alten Eliten den Terror vorantreiben. Die freie Journalistin Charlotte Wiedemann untersucht seit Jahren, wie weltweit bestimmte Regierungen und politische Strömungen politisch dämonisiert werden, damit dann als Reaktion auf sie jedes poltische Mittel legitimiert scheint, um sie zu bekämpfen. Genau dies ist anscheinend bei der ägyptischen Moslembruderschaft der Fall.

Die Bewegung hat sicher keinerlei emanzipatorische Ziele und es gibt für ägyptische Liberale und Linke genügend Gründe, um die Moslembrüder politisch zu bekämpfen und gegen jede Machtanmaßung zu protestieren. Doch es gibt keinen Grund, den blutigen Feldzug der alten ägyptischen Eliten gegen die Moslembrüder und alle Oppositionellen in irgendeiner Weise zu rechtfertigen, schon gar nicht mit der Regierungspraxis von Mursi.

Der zeigte sich als inkompetenter Politiker, dem aber keine gravierenden Menschenrechtsverletzungen und schon gar keine blutige Abrechnung mit der Opposition nachzuweisen ist. Charlotte Wiedemann bringt diesen Zusammenhang in einer Kolumne [4] so auf den Punkt:

„Wie es zu Ägyptens Absturz in die Militärautokratie kam, wird von Legenden vernebelt. Die US-amerikanischen Nahost-Experten Shadi Hamdi und Meredith Wheeler Meredith untersuchten die Regierungszeit von Mohammed Mursi jüngst anhand von Parametern, die in der Politikwissenschaft üblich sind, um die Entwicklung von Übergangsgesellschaften nach dem Sturz autokratischer Regime zu bewerten. Der Befund: Im globalen Maßstab sei Mursi, trotz Anmaßung und Inkompetenz, eher Durchschnitt gewesen; auf der Skala zwischen Demokratie und Autokratie habe das Mursi-Ägypten keineswegs am unteren Ende rangiert. Der Putsch, sagen die Forscher, sei legitimiert worden ‚durch eine grundlegende Fehldeutung und Verzerrung dessen, was vorher geschah.'“

Doch ein Terroristenprozess gegen Journalisten, drohende Massenhinrichtungen und eine Repression gegen sämtliche Fraktionen der oppositionellen Bewegung sind keine Kriterien für US-Militärhilfen. Die habe Ägypten nach Angaben der US-Außenministers an den Kongress erfüllt.

Zu den Kriterien gehöre, dass die Führung am Nil „ihren Verpflichtungen aus dem ägyptisch-israelischen Friedensvertrag nachkommt und gute Verhältnisse zu den USA anstrebt“.

http://www.heise.de/tp/news/US-Militaerhilfe-fuer-Aegyptens-Putschregierung-2175806.html

Peter Nowak

[1]

[2]

[3]

[4]

„Der Markt ist eine Zumutung“

PROTESTKINO In „Mietrebellen“ zeichnen Matthias Coers und Gertrud Schulte Westenberg die Mieterproteste der letzten Jahre nach – und räumen mit Klischees über Betroffene auf

INTERVIEW PETER NOWAK

taz: Frau Schulte Westenberg, Herr Coers, wer sind eigentlich die „Mietrebellen“ Ihres gleichnamigen Films?

Matthias Coers: Wir haben mit dem Titel auf den Begriff der Mietnomaden reagiert, der von der Wohnungswirtschaft erfolgreich lanciert wurde. Damit wurde ein absolutes Nebenproblem aufgeblasen, um MieterInnen als BetrügerInnen zu diffamieren. Wir bezeichnen die MieterInnen als RebellInnen, die sich gegen Mieterhöhungen und Vertreibungen solidarisch wehren.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Gertrud Schulte Westenberg: Das betrifft alle MieterInnen, die wir im Film zeigen. Ich will exemplarisch die Rentnerin Rosemarie Fließ nennen, die sich wenige Tage vor ihrer eigenen Räumung an einer Demonstration gegen die Räumung der Familie Gülbol in Kreuzberg beteiligte, obwohl sie sich nur noch mit Mühe bewegen konnte.

Die Beerdigung von Rosemarie Fließ, die zwei Tage nach ihrer Zwangsräumung starb, ist ein zentrales Element des Films

Coers: Der Tod von Rosemarie Fließ hat die Dramaturgie des Films verändert. Meine Grundidee war zunächst, in dem Film die unterschiedlichsten Menschen zu zeigen, die sich gegen ihre Vertreibung wehren und so den Zuschauern Mut zu machen. Dieses Konzept war durch den Tod von Rosemarie Fließ nicht mehr aufrechtzuerhalten. Wir setzten die Beerdigung an den Anfang und wollten damit deutlich machen, dass Zwangsräumungen keine Seltenheit sind – und mitunter auch tödlich sein können. Doch so wie die meisten Zwangsräumungen ohne öffentliche Aufmerksamkeit über die Bühne gehen, werden auch Krankheit, Trauer und Tod der Mieter nach dem Verlust der Wohnung in der Regel nicht wahrgenommen.

Schulte Westenberg: Ich war als Mieterin von einer Modernisierungsankündigung mit angedrohter Mieterhöhung konfrontiert, schloss mich meinen NachbarInnen zusammen – und wir hatten Erfolg. Diese eigene Erfahrung hat mich sensibel für den MieterInnenprotest gemacht. Ich habe Menschen kennengelernt, die sich gegen Mieterhöhung und Verdrängung engagieren und war davon stark beeindruckt. Ich dachte mir, dass die eine Arbeit machen, für die eigentlich die Politik zuständig ist. Das war meine zentrale Motivation für den Film.

Der Film konzentriert sich sehr stark auf die einzelnen Protagonisten. Warum fokussieren Sie sich so auf die einzelnen Charaktere, auf das Persönliche des Protests?

Coers: Damit wollten wir die Unterschiedlichkeit der Mietrebellen deutlich machen. Die migrantische Rentnerin gehört genauso dazu wie der Fahrradkurier aus der autonomen Szene. Wir wollten so auch der Vorstellung entgegentreten, dass Menschen, die ihre Wohnung verlieren, mit den finanziellen Realitäten nicht zurechtkommen. In Wirklichkeit sind die ökonomischen Realitäten auf dem Mietenmarkt eine Zumutung für immer größere Teile der Menschen, bis hin zur Mittelschicht. Wir haben MietrebellInnen in Pankow und Spandau ebenso kennengelernt wie in Kreuzberg und Neukölln.

„Mietrebellen“ läuft morgen in den Kinos an – ist das Thema nun für Sie auserzählt?

Schulte Westenberg: Mich würde ein investigativer Film reizen, der nachzeichnet, wie der soziale Wohnungsbau in Berlin von der Politik zielstrebig gegen die Wand gefahren wurde.

Coers: MieterInnen als selbstbewusste TeilnehmerInnen in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen werden mich auch weiter beschäftigen.

„Mietrebellen“. Von Gertrud Schulte Westenberg und Matthias Coers. Zu sehen ist der Film ab heute im Lichtblick-Kino (18 Uhr) und im Moviemento (18.30 Uhr). Weitere Termine: mietrebellen.de
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=me&dig=2014%2F04%2F23%2Fa0099&cHash=a060d5ec1031d8497dc6cf4e920ab484
Interview: Peter Nowak

»Mietrebellen« im Kino

Gespräch mit Regisseur Matthias Coers

Heute um 18.30 Uhr hat im Kino Moviemento der Dokumentarfilm »Mietrebellen« Premiere, der die Berliner Mieterkämpfe der letzten beiden Jahren zeigt. Mit Regisseur Matthias Coers sprach Peter Nowak.

nd: Wie entstand das Konzept für den Film?
Coers: : Ich habe bereits seit Jahren Videoclips zu sozialpolitischen Themen gedreht. Meine Co-Regisseurin Gertrud Schulte Westenberg hatte bereits einen Film zur Hartz IV- und zur »Mietenproblematik gedreht. Wir haben uns bei der Videoarbeit kennengelernt.

Wir haben Ihr es geschafft, die Mietenrebellen vor die Kamera zu bekommen?
Anfangs gab es schon Zurückhaltung. Schließlich will niemand gerne in einer Notlage gezeigt werden, besonders, wenn er seine Wohnung verlieren soll. Doch gerade die aktiven Menschen haben uns auch vertraut und unsere positive Grundhaltung zu ihren Anliegen gespürt. So konnten wir eine Nähe herstellen, ohne die der Film nicht möglich gewesen wäre.

Der Film beginnt mit dem Tod der Rentnerin Rosemarie Fließ zwei Tage nach ihrer Zwangsräumung. Hat dies die Konzeption des Films beeinflusst?
Der Tod der Rentnerin hat nicht die Grundstruktur, aber die Dramaturgie des Films verändert. Unsere Grundidee war zunächst, die unterschiedlichsten Menschen zu zeigen, die sich gegen ihre Vertreibung wehren. Dieses Konzept war durch den Tod von Rosemarie Fließ nicht mehr aufrechtzuerhalten. Wir setzten die Beerdigung an den Anfang. Es ist ein extremes Ereignis. So wie die meisten Zwangsräumungen ohne öffentliche Aufmerksamkeit über die Bühne gehen, werden auch Krankheit und Tod nach dem Verlust der Wohnung in der Regel nicht wahrgenommen.

Warum sind auf dem Ankündigungsplakat einige der Mietrebellen abgebildet?
Wir wollten ihre Unterschiedlichkeit zeigen. Die migrantische Rentnerin ist ebenso betroffen wie der autonome Fahrradkurier. Damit wollten wir der Vorstellung entgegentreten, Menschen, die ihre Wohnung verlieren, kommen mit den finanziellen Realitäten nicht zu recht. In Wirklichkeit sind die ökonomischen Realitäten auf Immobilienmarkt eine Zumutung für immer größere Teile der Menschen bis hin zur Mittelschicht.

Haben Sie die Hoffnung, dass der Film etwas verändert?
Sicher wird niemand nach dem Film aus dem Kinosessel aufstehen und sagen, jetzt wehre ich mich gegen meinen Vermieter. Er ist aber ein Lehrstück. Wenn die Menschen in der Nachbarschaft erfahren, dass jemand von Mieterhöhungen betroffen ist, wissen sie durch den Film, dass es eine Alternative dazu gibt, die Verhältnisse ohnmächtig hinzunehmen.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/930932.mietrebellen-im-kino.html

Interview: Peter Nowak

Wie Deutschland gegenüber Russland konfliktfähig gemacht werden soll

Europa von unten aufgerollt

Europäisches Netzwerk der Basisgewerkschaften tagt und demonstriert in Berlin – Bericht von Peter Nowak und Willi Hajek

Ein seltenes Bild bot sich den wenigen PassantInnen, die am 16. März an der Zentrale des DGB-Vorstands in Berlin-Mitte vorbeikamen. Dort hatten sich GewerkschafterInnen aus mehreren europäischen Ländern versammelt und hielten ihre Transparente und Fahnen in den scharfen Wind. Darunter Banner der Cobas aus Italien, mehrere Sektionen der französischen Gewerkschaft Sud und der polnischen Gewerkschaft der Krankenschwestern und Hebammen. Vor der DGB-Zentrale protestieren sie gegen alle Versuche, die Gewerkschaftsrechte für Basis- und Spartengewerkschaften einzuschränken. Dieser Protest hatte einen konkreten Grund.

In Deutschland unterstützt der DGB ein Gesetz zur Tarifeinheit, das die Rechte von kleineren Gewerkschaften, Branchen- und Basisgewerkschaften einschränken würde. In Italien, Frankreich und Spanien schließen die großen Gewerkschaften Abkommen mit der Regierung. Branchen- und Basisgewerkschaften werden ignoriert, ihre Rechte teilweise massiv eingeschränkt. Daher appellierten die RednerInnen in mehreren Sprachen an den – am Sonntag allerdings abwesenden – DGB-Vorstand, sich nicht an der Einschränkung von Gewerkschaftsrechten zu beteiligen. Die zu der Aktion per Presseerklärung eingeladenen Medien ignorierten diese europäische Aktion von BasisgewerkschafterInnen vollständig. Das Neue Deutschland hatte für so viel Kritik am DGB schlicht „keinen Platz“, wie die verantwortliche Redakteurin dem Verfasser mitteilte.

Die Aktion bildete den Abschluss des diesjährigen Treffens der europäischen Basisgewerkschaften in Berlin, an dem sich vom 14.-16. März mehr als 60 GewerkschafterInnen aus Italien, Spanien, Schweiz, Frankreich, Polen und der BRD beteiligten. Seit 2001 finden diese Treffen jährlich in einem anderen europäischen Land statt. Die Wurzeln des Netzwerks reichen bis in das Jahr 1995 zurück, als die Erhöhungen des Renteneintrittsalters in Frankreich zu Massenstreiks führten und die Notwendigkeit deutlich machten, dass sich Basisgewerkschaften europaweit koordinieren. Den Kern des Netzwerks bilden heute die Gewerkschaften der SUD Solidaires aus Frankreich, die CGT aus Spanien und die italienischen Cobas. Aus Deutschland beteiligten sich an der Vorbereitung und der Veranstaltung die FAU-Berlin, die Wobblies (Berlin), TIE-Germany, labournet.de, labournet.tv, der Arbeitskreis Internationalismus der IG Metall/Berlin und die Basisinitiative Solidarität (BaSo) aus Wuppertal.

Ein Schwerpunkt der theoretischen Debatte war die Bedeutung von Betriebsbesetzungen, Betriebsübernahmen und Arbeiterselbstverwaltung in der Krise. Hierzu wurden gemeinsame Orientierungsthesen erarbeitet.

In mehreren Resolutionen wurde darüber hinaus die Mobilisierung für den „Marsch der Würde“ am 22. April in Madrid sowie die Teilnahme an den Blockupy-Aktionstagen, die Mitte Mai in mehreren europäischen Ländern stattfinden werden, beschlossen. Obwohl das Verfassen von Resolutionen nach dem Geschmack eines Delegierten der FAU deutlich zu viel Raum auf dem Treffen einnahm, erschöpfte sich die Arbeit nicht darin. Mittlerweilen existieren innerhalb des Netzwerks Branchennetzwerke für Call Center, Gesundheit, Transport, Industrie, Erziehung und den Öffentlichen Dienst. In entsprechenden Arbeitsgruppen ging es um den Ausbau der vorhandenen Kontakte und gemeinsame Aktivivtäten. So beratschlagten in dem Netzwerk „Bahn ohne Grenzen“, an dem sich neben europäischen Bahnbeschäftigten, NutzerInnen-Initiativen und ökologisch orientierten Gruppen auch afrikanische Bahnbeschäftigte beteiligen, auch Gäste eines linksgewerkschaftlichen Berliner Bündnisses bei der S-Bahn, wie man weitere Privatisierungen verhindern kann. Ihre gemeinsame Perspektive richtet sich auf einen Kampf für eine öffentliche Bahn unter Kontrolle der Beschäftigten und der NutzerInnen.

Interessant war der Bericht einer Cobas-Neugründung aus Norditalien, die aus einem mittlerweile vier Jahre andauernden militanten Streik in einem der wachsenden Logistik-Zentren bei Mailand vor zwei Monaten entstanden war. Ausführlich berichteten die KollegInnen über ihren Kampf gegen Logistikkonzerne wie TNT, DHL und GLS und den Milchriesen Granarolo, in dem sie sich – weitgehend erfolgreich – u.a. für die Wiedereinstellung von 51 entlassenen KollegInnen, die Einhaltung von Tarifverträgen (die bei den italienischen Großgenossenschaften gesetzlich außer Kraft gesetzt sind) und einen geregelten Acht-Stunden-Tag eingesetzt haben. Zu der Auseinandersetzung gibt es auch einen Film („Granarolo – eine Woche der Leidenschaft“, 15 min., italienisch mit dt. Untertiteln, bei labournet.tv unter: http://de.labournet.tv/laender/italien/) und einen längeren Hintergrundtext zum Boom der Logistikbranche in Italien und zur Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse in dieser Branche (http://debatteforum.wordpress.com/).

Aus Polen waren die Gewerkschaften der Krankenschwestern und Hebammen gekommen, die das „europäische Manifest gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens“ vorstellten (s. auch express, Nr. 10/2012). Die Initiative für diesen Aufruf und die laufende Kampagne war von belgischen, französischen und polnischen BasisgewerkschafterInnen im Gesundheitsbereich ausgegangen. Etwas enttäuscht zeigte sich eine Delegierte der polnischen Gewerkschaft, die in dem Workshop über den Widerstand gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens allein blieb. Dabei existiert das Manifest seit über einem Jahr und liegt übersetzt in verschiedenen Sprachen vor. (Auf Deutsch kann es auf der Homepage des vdää nachgelesen werden[1]).

Dass hier die Chance für eine internationale Koordinierung nicht besser genutzt werden konnte, ist auch deshalb bedauerlich, weil aktuell Beschäftigte an der Berliner Charité gemeinsam mit einer Solidaritätsinitiative gegen die zerstörerischen Folgen der Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und für den Zusammenhang von besseren Arbeitsbedingungen und Qualität der Pflege kämpfen. Die GesundheitsaktivistInnen waren jedoch auf dem Care-Revolution-Kongress vertreten, der zeitgleich mit den Treffen des europäischen Gewerkschaftsnetzwerkes in Berlin stattfand (S. dazu den Bericht von Stefan Schoppengerd, S.12  in diesem express). Zu der geplanten gemeinsamen Demonstration kam es leider aus Gründen der Konferenzdramaturgie nicht. Diess  ist aber sicher nicht der kleinen Vorbereitungsgruppe vorzuwerfen, die sich für die Durchführung des mehrsprachigen Kongresses nur auf wenige aktive Gruppen und Einzelpersonen in Berlin stützen konnte. Vielleicht beim nächsten Mal. Verabredet wurde wurde eine Folgekonferenz,  die im Oktober 2014 in Paris stattfinden soll.

express-Ausgabe 3-4/2014

http://www.labournet.de/express/

Care statt Cash

Das Bundesverfassungsgericht hält an der Diskriminierung häuslicher Care-Arbeit fest. Die Care-Revolution-Bewegung macht dagegen mobil

„Die geringeren Geldleistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung bei häuslicher Pflege durch Familienangehörige gegenüber den Geldleistungen beim Einsatz bezahlter Pflegekräfte verstoßen nicht gegen das Grundgesetz.“ Das ist der Kernsatz eines am Donnerstag veröffentlichten Beschlusses [1]
des Bundesverfassungsgerichts.

Geklagt hatten die Ehefrau und die Tochter eines Mannes, der während seiner schweren Krankheit von den beiden Familienangehörigen bis zu dessen Tod zu Hause gepflegt wurde. Sie mussten sich mit einem Pflegegeld der Stufe III in Höhe von 665 Euro begnügen. Bezahlte Pflegekräfte hätten mit 1.432 Euro mehr als doppelt so viel Geld bekommen.Durch mehrere gerichtliche Instanzen versuchten die beiden Frauen unter Hinweis auf den grundgesetzlichen Gleichheitssatz erfolglos den Differenzbetrag zwischen dem Pflegegeld und der höheren Pflegesachleistung einzuklagen. Nun sind sie auch beim Bundesverfassungsgericht gescheitert.

Berufung auf familiäre Beistandspflicht

Das Gericht argumentiert dabei mit Familienwerten sowie dem Ehrenamt, die eine geringere Vergütung der häuslichen Pflege möglich machen. „Während der Zweck der sachgerechten Pflege im Fall der Pflegesachleistung nur bei ausreichender Vergütung der Pflegekräfte durch die Pflegekasse
sichergestellt ist, liegt der Konzeption des Pflegegeldes der Gedanke zugrunde, dass familiäre, nachbarschaftliche oder ehrenamtliche Pflege unentgeltlich erbracht wird. Der Gesetzgeber darf davon ausgehen, dass die Entscheidung zur familiären Pflege nicht abhängig ist von der Höhe der Vergütung, die eine professionelle Pflegekraft für diese Leistung erhält. Die gegenseitige Beistandspflicht von Familienangehörigen rechtfertigt es, das Pflegegeld in vergleichsweise niedrigerer Höhe zu gewähren.“

Mit dem Urteil werden Kritikerinnen wie Claudia Pinl bestätigt [2], die seit Jahren konstatieren, dass die Propagierung von Familienwerten und demunentgeltlichen Ehrenamt zur Begleitmusik zur Schleifung des Sozialstaates im Wirtschaftsliberalismus gehört. Besonders in den Ländern der europäischen Peripherie wie Spanien und Griechenland kollabierten öffentliche Sozialsysteme wie Bildungs- und Gesundheitswesen. Die sozialen Arbeiten wurden weitgehend in die Familien zurückverlagert, wo traditionell Frauen besonders betroffen sind. Aber auch in Deutschland propagieren Gesundheitsforscher [3] wie Fritz Beske [4] ein extrem verschlanktes Gesundheitssystem [5], das sich einkommensschwache Menschen nicht mehr leisten können.

Neben drastischen Leistungseinschränkungen für die große Mehrheit der Bevölkerung propagieren Konservative wie Beske den Vorrang der ambulanten vor der stationären medizinischen Versorgung. Da kommt der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts gerade recht, der die finanzielle Abwertung der häuslichen Care-Arbeit noch einmal bestätigt. Mit dem Verweis auf die familiären Beistandspflichten wird verdeutlicht, dass es sich hier durchaus um ein Zwangsverhältnis handelt.

Auftrieb für Care-Revolution-Debatte?

Der Beschluss dürfte einer Debatte über die Krise der sozialen Reproduktion Auftrieb geben, wie sie seit einigen Jahren in feministischen Kreisen (http://www.feministisches-institut.de/aktionskonferenz/), aber auch in zunehmend größeren Teilen sozialer Initiativen geführt wird. Mitte März hat in Berlin ein gutbesuchter Kongress [6] stattgefunden, der der neuen Bewegung großen Auftrieb gegeben hat.

„In einem kapitalistischen System spielen menschliche Bedürfnisse jedoch nur insofern eine Rolle, als sie für die Herstellung einer flexiblen, kompetenten, leistungsstarken, gut einsetzbaren Arbeitskraft von Bedeutung sind. Sorgearbeit wird gering geschätzt und finanziell kaum unterstützt. Dies gilt insbesondere in der derzeitigen Krise sozialer Reproduktion, die wir als einen zugespitzten Widerspruch zwischen Profitmaximierung und Reproduktion der Arbeitskraft verstehen“, lautete eine der Thesen im Einladungspapier. In einer auf der Konferenz verabschiedeten Resolution [7] wurde die Sorgearbeit als „unsichtbare Seite der kapitalistischen Ökonomie“ bezeichnet.

„Der größte Teil der Sorgearbeit wird weiterhin unbezahlt geleistet – bleibt gesellschaftlich unsichtbar. Wegen der mangelhaften öffentlichen Versorgung wird Sorgearbeit wieder in die Haushalte verschoben. Ihre zwischenmenschliche Qualität muss sich aber auch hier gegen zeitlichen und finanziellen Druck sowie Überforderung behaupten. Damit wird sie zur Doppelt‐ und Dreifachbelastung.

Wer für wen sorgt, wie gut jemand für sich und andere sorgen kann, und wer wie viel Lohn und Anerkennung für geleistete Sorgearbeit erhält – all das ist entlang von Herrschaftsverhältnissen organisiert: Beispielsweise wird auf Grund patriarchaler Verhältnisse bezahlte wie unbezahlte Sorgearbeit noch immer eher Frauen zugewiesen, geht ihnen angeblich quasi ’natürlich‘ von der Hand. Dadurch werden Fachkompetenzen abgewertet, das Geleistete als Selbstverständlichkeit missachtet.“

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hat diese Einschätzung einmal mehr bestätigt. In Zukunft wird sich zeigen, ob es gelingt, die Care-Revolution-Bewegung mit gewerkschaftlichen Kämpfen zusammenzubringen. Dass es zumindest auf theoretischer Ebene gelingen kann, zeigt ein von dem Schweizer Denknetz [8] herausgegebener Band unter dem Titel „Care statt Cash“ [9]. Dort werden sowohl die wichtigsten Positionen [10] der Care-Revolution-Debatte und Schweizer Gewerkschaften vorgestellt und diskutiert.

http://www.heise.de/tp/news/Care-statt-Cash-2173608.html

Peter Nowak

[1]

[2]

[3]

[4]

[5]

[6]

[7]

[8]

[9]

[10]

Montagsdemos unter unklaren Vorzeichen

Linke Gruppen distanzieren sich von «rechtsesoterischer Lyrik» und rufen zur Teilnahme an Ostermärschen auf

Montagsdemonstrationen machen einmal mehr von sich reden. Doch was wollen die Veranstalter? Die «Friedensbewegung 2014» findet keinen Beifall der traditionellen Friedensbewegung.

«Ich war das erste Mal im Leben auf einer Demonstration», erklärt der 20-jährige Stefan. Er wohnt erst seit Kurzem in Berlin und wurde von Freunden auf die Kundgebungen aufmerksam gemacht, die seit dem 7. März jeden Montag um 18 Uhr vor dem Brandenburger Tor stattfinden. Beim ersten Termin waren es knapp 100 Menschen, die vor allem über das Internet mobilisiert wurden.

Für den Weltfrieden, eine ehrliche Presse und gegen die US-Notenbank FED wollte man auf die Straße gehen. Die Bewegung hat sich mittlerweile ausgeweitet. Am 14. April fanden in 24 Städten Mahnwachen oder Kundgebungen statt, an denen insgesamt mehrere tausend Menschen teilgenommen haben.

Obwohl die meisten Kundgebungen in westdeutschen Städten stattfinden, sprechen die Organisatoren von Montagsdemonstrationen. Sie wollen damit an die Großdemonstrationen am Ende der DDR anknüpfen. Es gab in den letzten 25 Jahren bereits mehrere Bewegungen, die sich in die Tradition der Montagsdemonstrationen stellten. Am bekanntesten wurden die Proteste gegen die Agenda 2010, die im Sommer 2004 von Magdeburg aus auf viele weitere ostdeutsche Städte übergriffen. Damals waren unter den Teilnehmern viele, die noch die Montagsdemonstrationen der DDR aus eigenem Erleben kannten. Das ist nun, zehn Jahre später, anders. In Berlin beteiligen sich viele junge Menschen, die 1989 noch gar nicht geboren waren.

Stefan und seine Freunde gehören dazu. Besonders interessiert hat er den Ausführungen von Andreas Popp gelauscht, der auf der Kundgebung einen längeren Vortrag hielt. «Man muss nicht allem zustimmen, aber ich finde seine Theorien sehr plausibel», erklärt Stefan, und seine Freunde nicken.

Im Internet bekennt sich Popp dazu, Verschwörungstheoretiker zu sein. Er will den Begriff von seinem negativen Beiklang befreien. Auch die Anschläge vom 11. 9. 2001 in den USA bezeichnet er als ungeklärt. Diese Ansicht teilt er mit anderen Rednern, die immer besonders viel Applaus bekamen, wenn sie ihre Zweifel zum 11. September äußerten.

In Magdeburg warnte die Linke Jugend- und Hochschulgruppe vor der Teilnahme an der Montagsdemonstration. Frieden, Pressefreiheit – auf den ersten Blick höre sich das nach linken Themen, also einer guten Sache an, die man bedenkenlos unterstützen könnte. Nach einer Recherche sei man allerdings auf eine «Mischung von verschwörungsideologischem Denken, rechtsesoterischer Lyrik und Truther-Propaganda» in den Texten der Montagsdemonstranten gestoßen. Als Truther bezeichnet sich eine weltweite Bewegung, die für die Anschläge vom 11. September den USA die Schuld gibt.

Auch die Kooperation für den Frieden, ein Zusammenschluss von über 60 Initiativen der Friedensbewegung, hat sich in einer Erklärung kritisch mit der neuen Montagsdemonstrationsbewegung und ihrem Mobilisierungstext befasst. «Es gibt in diesem Aufruf, der bundesweit gleichlautend ist, nur eine einzige konkrete Position: »Gegen die tödliche Politik der Federal Reserve. Was dieses Bankensystem mit internationalen Konflikten oder gar Krieg zu tun haben soll, wird nicht im entferntesten benannt.« Die Friedenskooperative erinnert daran, dass die FED oft als Synonym für das »jüdische Finanzkapitel« herhalten muss. »Wer auch immer sich durch die ›Friedensbewegung 2014‹ angesprochen fühlt, sollte genau hinsehen, für welche Ziele diese Bewegung eintritt, und für welche Ziele Demonstrantinnen und Demonstranten gesucht werden«, heißt es am Ende im Aufruf der Friedensinitiativen.

In einer Stellungnahme betonen Aktivisten der Montagsdemonstrationen, weder links noch rechts zu sein, und distanzieren sich von »jedem Extremismus«. Auch für den ehemaligen Radiomoderator Ken Jebsen, der bei mehreren Montagsdemonstrationen als Redner auftritt, steht fest: »Die Redner mögen teilweise naiv sein, aber nicht völkisch und national«.

Jebsen ist als Autor des rechtskonservativen Compact-Magazins in die Kritik geraten. Am kommenden Montag erwarten die Organisatoren der Demonstrationen weiteren Zulauf. In mehreren Städten werben Antimilitaristen allerdings für die Teilnahme an den traditionellen Ostermärschen, die sich von Militarismus, Rassismus und jeder rechten Ideologie abgrenzen.

Peter Nowak

Peter Nowak