Marcel Kallwass wurde für seine Kritik an den Hartz-IV-Sanktionen gekündi
Marcel Kallwass’ Berufswunsch war bereits als Schüler Berufsberater. Daher hat er ein dreijähriges Studium bei der Bundesanstalt für Arbeit in Mannheim begonnen, das er in wenigen Monaten beendet hätte. Doch am 27. Januar kündigte die Arbeitsagentur Ulm dem 22-Jährigen fristlos. Begründung: Er habe seine Loyalitätspflichten verletzt und den Arbeitgeber beleidigt.
Überraschend kam das nicht. Bereits Ende November 2013 war Kallwass zweimal von der Hochschule abgemahnt worden. Der Konflikt begann während seiner Hospitanz im Jobcenter Ulm. »Dort habe ich zweimal mitbekommen, wie Erwerbslose sanktioniert wurden. Mir war sofort klar, dass es nicht der richtige Weg ist«, berichtet Kallwass. Daraufhin versuchte er, unter seinen Kommilitonen Diskussionen über die Sanktionen anzuregen – mit mäßigem Erfolg. Zu radikal erschien die Kritik, die Kallwass auch auf seinem Blog kritischerkommilitone.wordpress.com veröffentlichte.
Zusätzlich solidarisierte er sich mit der Hamburger Jobcenter-Mitarbeiterin und Hartz-IV-Kritikerin Inge Hannemann. Sein Engagement blieb der Hochschulverwaltung nicht verborgen. Ein Gespräch mit dem Leiter der Hochschule im August 2013 verlief noch relativ moderat. Bald jedoch wurde der Ton rauer. Als Kallwass in einem offenen Brief an den Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit Vorschläge für eine Berufsberatung ohne Sanktionen machte, wurde ihm von der Regionaldirektion Baden-Württemberg erstmals mit einer Abmahnung gedroht.
Nachdem er an der Hochschule kritische Flugblätter verteilt hatte, bekam er zwei Abmahnungen. In diesen wurde ihm Beleidigung des Arbeitgebers und Störung des Betriebsfriedens vorgeworfen. Unmittelbarer Anlass für die Kündigung war dann das Versenden eines sanktionskritischen Flugblatts über den hochschulinternen Mailverteiler. In den nächsten Tagen sind verschiedene Solidaritätsaktionen für Marcel Kallwass geplant. Die LINKE.SDS Mannheim solidarisierte sich bereits mit ihm.
Marcel Kallwass wollte Berufsberater werden. Aber er kritisierte die Hartz-IV-Sanktionen. Das ging der Bundesagentur für Arbeit zu weit.
„Dicht dran sein am Arbeitsmarkt, das wünschen sich viele junge Menschen, die ein Studium beginnen.“ Mit diesem Slogan wirbt die Hochschule der Bundesagentur für Arbeit (HdBA) in Mannheim für ihr dreijähriges Studium.
Für Marcel Kallwass schien die Ausbildung ideal. Schon als Schüler wollte er Berufsberater werden. In wenigen Monaten hätte der 22-Jährige sein Studium an der HdBA beendet. Doch am 27. Januar wurde ihm vom zuständigen Jobcenter Ulm fristlos gekündigt. Die Begründung: Er habe seine Loyalitätspflichten verletzt und den Arbeitgeber beleidigt.
http://www.taz.de/Hartz-IV-Sanktionen-/!132053/
Peter Nowak
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Der Konflikt begann, als Kallwass im Rahmen seines Studiums im Jobcenter Ulm hospitierte. „Dort habe ich zweimal mitbekommen, wie Erwerbslose sanktioniert wurden. Mir war klar, das ist nicht der richtige Weg“, sagt Kallwass. Er begann an der Hochschule Diskussionen über eine sanktionsfreie Beratung im Jobcenter. „Manche KommilitonInnen begannen nachzudenken, doch viele verteidigten die Praxis“, beschreibt Kallwass die Reaktionen. Viele warnten ihn, dass er mit seiner Kritik seine Ausbildung gefährde.
Kallwass’ Engagement blieb der Hochschulverwaltung nicht verborgen. Das erste Gespräch sei noch moderat abgelaufen, so Kallwass. Doch bald sei der Ton rauer geworden.
Kallwass hatte auf dem Blog Kritischer Kommilitone konkrete Vorschläge für eine sanktionsfreie Berufsberatung publiziert und die Auseinandersetzungen an der HdBA darüber dokumentiert. Im November 2012 wurde er innerhalb weniger Wochen zweimal abgemahnt, nachdem er an der Hochschule Flugblätter verteilt hatte.
Flugblatt über den Mailverteiler
Ende Januar erfolgte mit der dritten Abmahnung der Rausschmiss aus der Hochschule, nachdem Kallwass ein sanktionskritisches Flugblatt über den hochschulinternen Mailverteiler versandt hatte. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) betrachtet die Verwendung des Mailverteilers für politische Zwecke als rechtswidrig.
Unterstützung erhält Kallwass von Erwerbslosengruppen und der Mannheimer Hochschulgruppe Die Linke.SDS. Deren Sprecher Julien Ferrat bezeichnete es als unerträglich, dass Kallwass drei Monate vor dem Ende seines Studiums gekündigt wird, weil er an der Hochschule Diskussionen angeregt hat.
„Eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit Ausbildungscharakter war für die Bundesagentur für Arbeit aus verschiedenen Gründen nicht mehr vertretbar“, erklärte hingegen BA-Sprecherin Ilona Mirtschin gegenüber der taz. Einzelheiten könne sie aber nicht nennen.
In ihrer Regierungserklärung stellt sich Kanzlerin Merkel bedingungslos auf die Seite der ukrainischen Opposition
Die Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel wurde im Großteil der Medien als langweilig sowie ohne Ziel und Vision beschrieben. Ein solches Urteil ist nicht schwer bei einer Regierungserklärung, die die Floskel „im Zweifel für die Menschen“ in den Mittelpunkt stellt. Allerdings sollte die scheinbare Belanglosigkeit und Banalität der Erklärung nicht darüber hinwegtäuschen, dass in ihr klare politische Stellungnahmen enthalten waren, die den deutschen Machtanspruch deutlich machen.
Solidarisierung mit einer Protestbewegung ohne jegliche Einschränkungen
So hat sich Merkel ganz eindeutig hinter die ukrainische Opposition gestellt.
„Viele Menschen in der Ukraine haben seit dem EU-Gipfel zur Östlichen Partnerschaft Ende November in Vilnius in mutigen Demonstrationen gezeigt, dass sie nicht gewillt sind, sich von Europa abzukehren. Im Gegenteil: Sie setzen sich für die gleichen Werte ein, die auch uns in der Europäischen Union leiten und deshalb müssen sie Gehör finden.“
Bemerkenswert ist hier die Solidarisierung mit einer Protestbewegung ohne jegliche Einschränkungen. Dabei konnte in den letzten Tagen beobachtet werden, wie diese Demonstrationen mit teilweise großer Gewalt vorgegangen sind, Barrikaden gebaut und Regierungsgebäude angegriffen haben. In den Medien waren in den letzten Tagen Fotos von blutig geschlagenen Regierungsanhängern zu sehen, die von den Oppositionellen durch die Straßen geführt worden sind.
Doch Merkel erwähnte diese Militanz mit keinem Wort. Indem sie allgemein von den mutigen Demonstranten in der Ukraine sprach, die die europäischen Werte teilen würden, gibt sie das Signal, dass eine Differenzierung gar nicht angestrebt ist. Das ist besonders unter dem Aspekt fatal, dass die Ultranationalisten und Faschisten als organisierte Kräfte innerhalb der ukrainischen Opposition nach Ansicht verschiedener Beobachter des Geschehens in den letzten Monaten zugelegt haben („Ukraine über Alles!“).
Aufruf der Jüdischen Konföderation der Ukraine ignoriert
„Die Leute haben echte Angst, in die Synagoge zu gehen. Das hat mir auch Oberrabbiner Yaakov Bleich bestätigt“, erklärte der Präsident der Jüdischen Konföderation in der Ukraine Ayala Goldman im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Er berichtete dort über zahlreiche antisemitische Angriffe durch die oppositionellen Nationalisten. Die Jüdische Konföderation in der Ukraine hatte einen offenen Brief an die westlichen Botschaften in Kiew gerichtet, in dem auf das Anwachsen der ultrarechten Kräfte in dem Land aufmerksam gemacht wird.
Zudem werden die Vertreter der westlichen Staaten aufgefordert, sich nicht mit der ultranationalistischen Swoboda-Partei an einen Tisch zu setzen. Sie spielt in der Oppositionsbemerkung eine starke Rolle und beruft sich auf Nazikollaborateure, die mit der deutschen Wehrmacht gemeinsam Juden und Kommunisten gejagt hatte.
Deren Anführer Stefan Bandera genießt bei großen Teilen der Opposition großes Ansehen. Wenn Merkel nun den ukrainischen Oppositionellen allgemein und undifferenziert bescheinigt, „unsere Werte“ zu vertreten, muss man schon fragen, welche Werte da wohl gemeint sind.
Wenn dann in Merkels Stellungnahme nicht einmal mit einem Halbsatz eine Distanzierung von den ultrarechten Kräften eingebaut und damit auch die Angst der Angehörigen der jüdischen Gemeinde in der Ukraine ignoriert wird, kann man schon sagen, dass hier eine deutsche Regierungschefin eine in großen Teilen gewalttätige Bewegung, in der Antisemiten und Nachfolger von NS-Kollaborateuren eine wichtige Rolle spielen, unkritisch ihre Unterstützung erklärt hat. Dabei spielte das Anwachsen der ultranationalistischen Bewegungen in Osteuropa und speziell in der Ukraine und ihre Unterstützung durch deutsche Ultrarechte im deutschen Bundestag durchaus eine Rolle.
Auslandseinsätze werden nicht nur fortgesetzt sondern erweitert
Während Merkels Passagen zur Solidarität mit der ukrainischen Opposition scheinbar auch keiner der beiden Bundestags-Oppositionsparteien aufgefallen ist, gab es zu ihren Ausführungen zur Militär- und Außenpolitik zumindest ansatzweise Kritik. Der Bundesausschuss Friedensratschlag befürchtet unter der großen Koalition noch mehr Kriege unter Beteiligung der Bundeswehr. In einer Pressemitteilung zur Regierungserklärung von Merkel heißt es:
„Die Große Koalition möchte die Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht nur fortsetzen, sondern entsprechend des Koalitionsvertrags erweitern. Die Ausbildung der malischen Armee soll ausgebaut und der Einsatz in der Zentralafrikanischen Politik soll ‚gegebenenfalls‘ durch Verwundetenbehandlung neu aufgenommen werden. Wir warnen davor, dass damit ein weiterer Schritt in ein militärisches Abenteuer in der afrikanischen Wüste mit nicht absehbaren Folgen getan wird.“
Der Friedensratschlag bemängelt auch, dass Merkel zu dem Thema der steigenden deutschen Rüstungsexporte kein Wort gesagt hat. Es ist auffällig, dass in den meisten Kommentaren zur Merkel-Rede diese politischen Aspekte nicht einmal erwähnt wurden. Die beiden Oppositionsparteien Grüne und Linke machten ihren Job und kritisierten die Regierung.
Dabei echauffierte sich Gregor Gysi darüber, dass die Regierung gegenüber den USA in Bezug auf die NSA-Affäre zu unterwürfig sei. Da wollte also wieder einmal jemand in den Wettbewerb mit der Regierung treten, wer gegen die USA die deutschen Interessen selbstbewusster durchsetzt.
Über das deutsche Selbstbewusstsein, das sich beim Umgang mit der Ukraine ausdrückt, verlor Gysi dagegen kein Wort, und auch die Redner aus den Reihen der Grünen schienen nichts dagegen einzuwenden haben, wenn sich die Bundesregierung mit einer in großen Teilen ultrarechten Bewegung gemein macht.
Es gibt einen Volksentscheid, meist beteiligt sich daran nur der Mittelstand
„Jetzt auf zum Volksentscheid“, lautet die Parole des Bündnisses 100% Tempelhof, das sich dagegen ausspricht, dass das Areal des ehemaligen Flughafen-Areals mitten in der Berliner Innenstadt nicht bebaut wird. Jetzt ist es amtlich: In Berlin werden in den nächsten Monaten genau darüber die Wahlberechtigten entscheiden können.
Ob es der Tag der Europawahl sein wird, wie die Volksbegehren-Befürworter vorschlagen, ist noch nicht sicher. Es wäre auf jeden Fall eine demokratische und kostengünstige Entscheidung. Schließlich sind an diesem Tag die Wahllokale schon geöffnet und das Interesse an dem Volksentscheid ist dann auch größer. Beim letzten Volksentscheid des Berliner Energietisches verhinderte vor allem die CDU, dass der Termin auf den Tag der Bundestagswahl gelegt wurde. Das Anliegen einer Rekommunalisierung der Berliner Energienetze verfehlte das vorgeschriebene Quorum. So kann man Demokratie auch behindern, monierten die Initiatoren des Volksbegehrens. Der Diplompolitologe Birger Scholz hat in einer Auswertung des Volksbegehrens allerdings auch einige Schwachpunkte angesprochen, die nicht dem Senat angelastet werden können.
Die Marginalisierten ignorieren Volksbegehren oft
So konnte Scholz gut aufzeigen, dass sich an dem Volksbegehren hauptsächlich Angehörige des Mittelstands beteiligten, während es von den einkommensschwachen Teilen der Berliner Bevölkerung weitgehend ignoriert wurde. „Im westlichen Spandau und im östlichen Marzahn-Hellersdorf, beides Bezirke mit Hochhaussiedlungen und sozialen Brennpunkten, erhielt das Volksbegehren die geringsten Zustimmungswerte. Das erfolgreiche Wasservolksbegehren hingegen warb mit sinkenden Wassergebühren und konnte in beiden Bezirken das nötige Quorum erreichen“, schreibt Scholz.
Er sieht die Gründe für die Ignoranz in die Programmatik: „Zwar wurde versprochen, dass das neue Stadtwerk die ‚Energiewende sozial gestalten‘ werde, doch bei Lichte betrachtet war das Versprechen vage. Stromsperren sollten vermieden und die Anschaffung energieeffizienter Haushaltsgeräte gefördert werden. Keine Rolle spielte die Frage, ob der ökologische Strom der neuen Stadtwerke günstiger sein würde als der Kohle- und Atomstrom von Vattenfall (was in einem liberalisierten Strommarkt kaum realisierbar ist).“
Allerdings berücksichtigt Scholz zu wenig, dass mehrere Gruppen unter dem Stichwort Energiearmut sehr wohl die soziale Komponente in das Blickfeld genommen haben. Ob das allerdings auch bei den Betroffenen angekomt, ist natürlich die Frage. Wobei auch Volksbegehren, die eindeutig Menschen mit niedrigen Einkommen tangieren, von diesen oft ignoriert wurden, zeigte sich 2010 in Hamburg. Damals ist eine vom Senat geplante Schulreform, die mehr Chancen für einkommensschwache Bevölkerungsteile bringen sollte, daran gescheitert, dass sich genau diese Teile der Bevölkerung an der Abstimmung nicht beteiligt haben. Den Ausschlag gab die Hamburger Mittelschicht, die sich massiv gegen die Reform engagierte.
Der Kultursoziologe Thomas Wagner hat sich in mehreren Büchern kritisch mit Bürgerbeteiligungsmodellen befasst und ist dabei zu dem Schluss gekommen, dass sie vor allem von Angehörigen des Mittelstandes genutzt werden und die Interessen einkommensschwacher und marginalisierter Bevölkerungsteile dort oft noch weniger zur Geltung kommen als bei traditionellen Partizipationsmodellen in Parteien und Gewerkschaften.
Wie ernst ist es dem Senat mit den Sozialwohnungen?
Diese Frage wird bei dem Volksbegehren zum Tempelhofer Feld eine besondere Rolle spielen. Der Berliner Senat wirbt nun für seine Bebauungspläne damit, dass dort angeblich Sozialwohnungen errichtet werden solle.
Dann könnte sich die Alternative zwischen einer innenstadtnahen Erholungsfläche für die gestressten Kreativbeschäftigten oder einem bezahlbaren Wohnraum abzeichnen. Nur gab es in der Vergangenheit genügend Beispiele, in dem bezahlbare Wohnungen herangezogen wurden, um Projekte von sozialen Initiativen auszubremsen. Zudem muss natürlich die Frage gestellt werden, wie viele einkommensschwache Mieter ihre Wohnungen in der Nähe des Tempelhofer Flughafens bereits verlassen mussten, weil sie die Miete nicht mehr zahlen konnten. Schließlich war mit dem Ende des Flughafens in den Stadtteilen Neukölln und Tempelhof eine Aufwertung verbunden.
„Jahrelang konnte ich kein Fenster öffnen, weil der Lärm des Flughafens zu laut war. Jetzt konnte ich endlich auf meinen Balkon sitzen, doch jetzt muss ich die Wohnung verlassen, weil ich mir nach dem Ende des Flughafens die Miete nicht mehr leisten können“, berichtete eine Mieterin, die direkt am Flughafengelände im Neuköllner Schillerkiez wohnte. Wenn die Initiatoren des Volksbegehrens allerdings ihren Anspruch ernst nehmen, eine Demokratie für Alle zu wollen, müssten sie mit den gerade in Neukölln aktiven Erwerbslosen-, Mieter- und Migrantenorganisationen von Anfang an zusammenarbeiten.
Vor einigen Monaten war bei einer Diskussionsveranstaltung der Berliner Mietergemeinschaft über die Zukunft des Tempelhofer Feldes trotz Einladung und Zusage kein Vertreter der Initiative erschienen, um sich den kritischen Fragen zu stellen. Am kommenden Freitag gibt es in Berlin eine neue Möglichkeit zur gemeinsamen Diskussion. Dann wird Thomas Wagner gemeinsam mit Aktivisten der Neuköllner Stadtinitiativen über das Thema „Von der Mitmachfalle zur Verdrängung „ diskutieren.
Keine Tempelhofer Freiheit
Die Diskussionen der nächsten Wochen sind schließlich mehr noch als die Abstimmung ein Zeichen, dass man den Anspruch Ernst nimmt, über die Gestaltung der innenstadtnahen Flächen mit allen Bewohnern Berlins zu beratschlagen. Weil an solchen Diskussionsveranstaltungen auch Menschen ohne deutschen Pass partizipieren können, die am Volksentscheid nicht teilnehmen können, macht Deutlich, wie wichtig die Diskussion ist. Ob sich dann eine Mehrheit für eine Grünfläche oder für eine Bebauung entscheidet, ist dann eher sekundär, wenn es eine lebhafte Debatte gegeben hat.
Dass bisher alle im Berliner Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien dem Anliegen der Volksbegehreninitiatoren nicht zustimmen, muss keine Vorentscheidung über den Ausgang sein. Schon das Wasservolksbegehren wurde gegen alle diese Parteien im damaligen Abgeordnetenhaus gewonnen. Die Diskussion der nächsten Wochen wird auch zeigen, wie geschichtsbewusst die Menschen in Berlin sind. Dann müssten sie auf die lange offiziell benutzte Phrase von der Tempelhofer Freiheit verzichten. Sie ist eine Verhöhnung der vielen Menschen, die just auf dem Areal während des NS leiden mussten. Schon 1933 wurde dort mit dem Columbiahaus ein wildes KZ errichtet, in dem Nazigegner misshandelt wurden. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden auf dem Gelände Zwangsarbeiterlager errichtet, in denen Menschen aus ganz Europa eingepfercht waren, die für die deutsche Luftrüstung schuften mussten.
Im Berliner Bewusstsein hatte sich aber mit dem Flughafen Tempelhof eher das Bild vom Rosinenbomber verbunden, der während der Berlinblockade am Beginn des Kalten Krieges die Westberliner Bevölkerung aus der Luft versorgte. Es waren nur kleine Initiativen, die die NS-Geschichte des Tempelhofer Geländes wachhielten.
Krise, welche Krise? Wenn man das Davoser Weltwirtschaftsforum zum Maßstab nimmt, überwiegt bei den Eliten der Wirtschaft und Politik Optimismus
„Die existenzielle Bedrohung des Euro sei abgewendet und der Prozess der Erholung habe begonnen, wird EU-Währungskommissar Olli Rehn in der FAZ zitiert. Ähnlich haben sich in den letzten Tagen beim World Economic Forum (WEF) viele der Elitenvertreter geäußert.
Für die Wirtschaftsvertreter gab und gibt es auch keine Krise. Sie können auch dank der von ihnen durchgesetzten Austeritätspolitik wieder auf kräftige Gewinne hoffen. Bundesfinanzminister Schäuble kündigte schon mal weitere Belastungen an. „Wir müssen die Probleme durch finanzielle Disziplin bei gleichzeitigen Strukturreformen lösen“, erklärte er. Als Thermometer der Weltwirtschaft bezeichnete ein Taz-Kommentator das WEF mit einen Rückblick auf die letzten fünf Jahre: „Die Stimmung beim diesjährigen Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos war deutlich besser als in den Vorjahren. 2009 und 2010 stand die akute Finanzkrise im Mittelpunkt, danach ging es um die Reparaturmaßnahmen. 2013 dann herrschte eine Stimmung von Verschnaufen und Durchatmen. Nun lautete die zentrale Botschaft: Manches liegt im Argen, aber vieles wird auch besser.“ Auch er vergisst natürlich zu erwähnen, dass hier die Stimmung der Eliten und nicht der von der Krisenpolitik Betroffenen beschrieben wird.
Vor einer Annäherung des Iran an den Westen
In den meisten Medien wurde das WEF in diesem Jahr als ereignisarm dargestellt. Lediglich die Rede des iranischen Präsidenten Rohani sorgte weltweit für größere Aufmerksamkeit. Er hat sein Land als Wirtschaftspartner für den Westen angeboten. Relevante Teile der Eliten in diesen Ländern würde das Angebot gerne annehmen.
Das WEF hat schon immer mit dabei zu beigetragen, in der Schweizer Bergwelt Kooperationen anzubahnen, die in manchen Ländern politisch noch nicht durchzusetzen sind. Vor allem in den USA wird die Frage des Umgangs mit dem Iran noch länger Gegenstand größerer innenpolitischer Debatten bleiben.
Erstmals war auch die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff Teilnehmerin des WEF. Die Protagonistin der gemäßigten lateinamerikanischen Linken wurde dort mit offenen Armen aufgenommen. Zwischen dem WEF und Brasilien gab es immer eine besondere Beziehung. Schließlich ging vom brasilianischen Porto Alegre mit dem Weltsozialforum eine Gegenbewegung zum WEF aus, die vom ehemaligen brasilianischen Präsidenten Lula protegiert wurde. Der aber reiste nach seiner Eröffnungsrede beim Weltsozialforum nach Davos und verkündete dort vor den versammelten Eliten, dass er Brücken bauen wolle.
Mit dem Niedergang der Anti-WEF-Bewegung änderte sich auch der mediale Diskurs
Seit Anfang den 1990er Jahren gab es neben den Sozialforen auch große, medial beachtete Proteste gegen das WEF. Die Schweizer Polizei reagierte darauf mit massiver Repression und wurde von Deutschland unterstützt. 2014 sind die Proteste gegen das WEF nicht ganz verschwunden, aber fast nicht mehr wahrnehmbar.
An Aufstieg und Niedergang des Widerstands gegen das WEF wird auch deutlich, wie sich dadurch Diskurse verändert wurden. Während der Hochzeit der Anti-WEF-Proteste wurde auch in einem Großteil der Medien zunehmend kritischer über das WEF berichtet. Von einem Elitentreffen mit esoterischem Einschlag war die Rede. Es wurde offen darüber diskutiert, ob für ein solches Stelldichein ein solch großer und teurer Polizeieinsatz nötig ist.
2002 fand erstmals kein WEF in Davos statt. Die offizielle Begründung lautete, es sei aus Solidarität mit den USA nach den Anschlägen vom 11. September nach New York verlegt worden. Damals wurde in vielen Medien spekuliert, ob mit dem Ortswechsel ein Abschied von Davos eingeleitet wurde. Das Szenario trat nie ein. Denn der Niedergang der Anti-WEF-Bewegung setzte damals ein. An der von den Davoser Grünen organisierten NoWEF-Rally und anderen Aktionen nahmen lediglich 30-50 Personen teil, dafür gab es ein Großaufgebot der Polizei. Die Veranstalter sprechen von 100 Teilnehmern.
Die Mini-Proteste werden höchstens noch in den lokalen Medien erwähnt. Auch die grünennahe Taz erwähnt sie nicht mehr. „Beim Weltwirtschaftsforum treffen sich die mächtigsten Konzerneliten und neuerdings auch junge Kreative, die eine bessere Welt wollen“ schreibt etwa der Taz- Wirtschaftsredakteur Hannes Koch. Dabei könnte man den Sachverhalt ganz anders beschreiben. Die globalen Eliten betätigen sich neben hier als Mäzene, die einige findige Subalterne aus dem globalen Süden in ihre Festung Davos einladen, auszeichnen und damit ihre scheinbar grenzenlose Macht demonstrieren. Dass dieses klassische Mäzenatentum dann selbst in der Taz zum Beitrag für eine bessere Welt veredelt wird, macht eines deutlich. Wenn es wahrnehmbaren Proteste gibt, gewinnen die alten Eliten ihre Hegemonie in der öffentlichen Meinung zurück und selbst die Berichterstattung in linksliberalen Medien liest sich so, als wäre sie vom WEF-Pressesprecher verfasst.
ÖPNV Berliner NaturFreunde wollen mehr Solidarität im Nahverkehr und starten Ticketteilen-Kampagne
„Ticketteilen“ steht auf dem gelben Button, der demnächst in Berlin häufiger zu sehen sein soll. Der Button ist das Herzstück einer Kampagne, die am vergangenen Freitag vom Landesverband der Berliner NaturFreunde (NF) gestartet wurde. Neben den Plaketten sollen auch Tausende Flyer und Plakate über eine wenig bekannte Möglichkeit informieren, sich solidarisch zu zeigen und andere den öffentlichen Nahverkehr in Berlin kostenfrei nutzen zu lassen, und das ganz legal.
Nach den Beförderungsrichtlinien der BVG können nämlich auf einer Umweltkarte, die eine Woche oder einen Monat gültig ist, wochentags ab 20 Uhr und am Wochenende und an Feiertagen ganztägig ein Erwachsener und bis zu drei Kinder zwischen 6 und 14 Jahren mitfahren. Eine erste Infotour am Freitag rund um den U-Bahnhof Schlesisches Tor war ermutigend. Mehrere Fahrgäste waren sofort bereit, den Button zum Ticketteilen zu tragen.
„Damit kann jeder sofort erkennen, wer eine kostenfreie Mitfahrt anbietet oder sucht. Bei diesem Angebot handelt es sich nicht um ein Almosen, sondern um die Wahrnehmung eines Rechts“, betont Judith Demba, Geschäftsführerin der Berliner NaturFreunde. Einkommensschwache Bürger sollen nicht wie bisher um noch nicht abgelaufene Tickets betteln müssen. „Dass sich Menschen ein BVG-Ticket nicht leisten können, ist längst keine Ausnahme mehr“, betont Uwe Hiksch, stellvertretender Landesvorsitzender der Berliner NaturFreunde. „Wir wollen mit der Kampagne die Diskussion anregen, dass Mobilität ein Menschenrecht unabhängig vom Geldbeutel ist“, betont Hiksch die politische Komponente der Ticketteilen-Kampagne.
Heftige Kritik äußert er an den Plänen der BVG, die Zahl der Kontrolleure noch weiter zu erhöhen, um den Druck auf Fahrgäste ohne Fahrschein zu erhöhen. Dabei waren es in den letzten Jahren mehr als 30 Prozent der Insassen in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee, die wegen Fahrens ohne Ticket verurteilt wurden und die Geldstrafe nicht zahlen konnten.
In der nächsten Zeit wollen die NaturFreunde den Service zum Ticketteilen ausbauen. So sollen auf der Kampagnen-Homepage von Abonnenten ungenutzte Umwelttickets angeboten werden. In einer zweiten Runde wollen sie politische Parteien als Unterstützer gewinnen. Als Kooperationspartner kann sich Hiksch Die Linke, die Grünen und die Piraten vorstellen.
Bunker-Parties und Skaten auf den Ruinen des Realsozialismus: In der albanischen Hauptstadt Tirana entwickelt sich postsozialistisches metropolitanes Flair nach bestem Ostberliner Vorbild. Doch trotz des pulsierenden Stadtlebens träumen viele junge Albaner nur davon, ihr Land zu verlassen
Auf den ersten Blick macht das kegelförmige Gebäude den Eindruck einer Ruine, die aus irgendwelchen Gründen bisher nicht abgerissen wurde. Die Wände sind vollständig mit Graffiti besprüht. Der Putz bröckelt, die Stufen zum Eingang sind mit Moos und Gräsern überwuchert. An manchen Stellen weist die Fassade große Löcher auf. Sämtliche Fenster des Eingangstors sind zerschlagen. Kartons, Wellblech und Holzplatten können die Lücken nicht verdecken. Große Löcher geben den Blick in den riesigen, fast leergeräumten Innenraum frei. Schutt, zerschlagenes Mobiliar und eine Menge Glasscherben erinnern daran, dass dieses Gebäude bessere Zeiten gesehen hat.
Verlässt man das Universitätsviertel und die Innenstadt von Tirana, ändert sich das Straßenbild schnell. EU-Fahnen findet man dort nicht, dafür enge Straßen, in denen Handwerker an alten Maschinen sitzen. Pferdefuhrwerke fahren über die Straßen und ein junger Mann sucht am Straßenrand nach Gegenständen, die sich verwerten lassen. An einer Straßenecke haben Kinder einige Utensilien ausgepackt, die sie verkaufen wollen. Auch einige alte Taschenlampen und Batterien sind darunter. Nach Einbruch der Dunkelheit bringen sich an vielen Straßenecken Sexarbeiterinnen in Position.
Viele Menschen versuchen ihr Glück aber im europäischen Ausland. Auf Plakaten, die an verschiedenen Stellen in den albanischen Städten zu sehen sind, werden Busreisen von Tirana nach Mailand oder in andere italienische Städte angeboten. Viele Albaner versuchen, mit Jobs in Italien sich und ihre Familien über die Runden zu bringen. Mittlerweile arbeiten Hunderttausende Albaner in allen Branchen in Italien. Im Putzgewerbe sind sie ebenso zu finden wie bei der Erntehilfe, in der Pflege oder auf dem Bau. Nur wenige Arbeitsmigranten kommen in den Genuss geregelter Arbeitsverhältnisse, die meisten sind auf einige Monate befristet. Andere arbeiten ohne gültige Papiere. Ihnen droht stets Abschiebung und ihr Reiseweg ist immer noch abenteuerlich. Die Passagen mit Schlauchbooten über das Meer aber gehören heute in Albanien der Vergangenheit an. Noch vor zehn Jahren gab es von der albanischen Küste Bilder, wie wir sie heute von den nordafrikanischen Staaten kennen. Junge Albaner versuchten immer wieder, mit Schlauchbooten die italienische Küste zu erreichen, dabei kamen viele Menschen ums Leben. Die größte Tragödie ereignete sich am 9. Januar 2004, als mindestens 20 Jugendliche auf dem Weg von Nordalbanien nach Italien starben.
Neben Italien war Griechenland lange Jahre ein begehrtes Ziel für albanische Arbeitsmigranten. Doch mit der Verschärfung der Schulden- und Wirtschaftskrise gab es dort auch für viele ausländische Arbeitskräfte kein Auskommen mehr. Noch immer versuchen albanische Jobber am Hafen von Piräus und anderen Arbeitsstellen in Griechenland ihr Glück. Die Arbeitsbedingungen der albanischen Migranten sind auch im Ausland nicht ideal. Oft arbeiten sie zu wesentlich geringeren Löhne als die einheimische Bevölkerung. Der größte Teil des Lohnes geht nach Albanien und soll das Überleben der Familien sichern. Mittlerweile sind viele Albaner, die jahrelang im europäischen Ausland gearbeitet haben, wieder in ihr Herkunftsland zurückgekehrt. Besonders der Boom in der Baubranche hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen, aber auch Menschen aus ihren Wohnungen verdrängt.
Am Rande der Küstenstadt Durres reißt ein Bagger mit Abrissbirne gerade mehrere Häuser ein. Das Gelände wird von Mitarbeitern der Abrissfirma und Polizisten bewacht, die jeden Zutritt verhindern. »Hier musste ein Wohnpark einem Hotel weichen«, erklären zwei junge Männer, die am Zaun stehen. Mehrere ehemalige Bewohner, die gegen den Abriss protestierten, seien vor wenigen Tagen von der Polizei festgenommen worden, berichten sie. Selbst das albanische Fernsehen hatte in den Nachrichten über die Mieterproteste berichtet.
Für knapp drei Jahre gehörte es zu den Vorzeigeprojekten der sozialistischen Gedenk- und Erinnerungskultur. Hier wurde dem verstorbenen Gründer der Sozialistischen Republik Albanien, Enver Hoxha, nach seinen Tod ein High-Tech-Mausoleum errichtet, das bald nur noch »die Pyramide« genannt wurde. Kaum etwas an der Ruine erinnert heute noch an den futuristischen Bau, der hier einmal gestanden hat.
Ivo Shtrepi kann sich noch gut an das Gebäude mit den zahlreichen Spiegelfenstern erinnern, das nachts angestrahlt wurde. Er hat als Verwaltungsangestellter in den späten Jahren das Museum zweimal besucht. Als Rentner beobachtet er heute die Touristen, die ratlos vor der Ruine stehen und nach Informationen suchen.
Die »Pyramide« im Zentrum von Tirana barg keine Gold- und Silberschätze, sondern zahlreiche Videoprojektoren. Dort wurden in Kurzfilmen Szenen aus Hoxhas Leben nachgestellt. Besonders als Tierfreund sei er in Filmen häufig gezeigt worden, erinnert sich Shtrepi. Er kann sich an Filme erinnern, in denen der stalinistische Diktator mit Hunden zu sehen ist, in anderen habe er Schafe und Kühe gestreichelt. Daneben hingen im Museum Fotos, die Hoxha beim Händeschütteln mit zahlreichen Staatspräsidenten, vornehmlich aus dem realsozialistischen Lager, zeigen. Doch die albanische Pharaonenverehrung währte nur kurze Zeit. Der Pyramide, die 1988 mit einem großen Staatsakt eingeweiht worden war, wurden nach dem Umsturz 1991 zunächst sämtliche Mittel entzogen. In der Folge wurde das Gebäude mehrmals von der wütenden Menge gestürmt und die Inneneinrichtung zerstört. In den neunziger Jahren wurde auf Demonstrationen ihr baldiger Abriss gefordert.
Dass sie noch immer vor sich hin verrottet, hat nach Ansicht vieler hier politische Gründe. Direkt gegenüber wurde eine Kapelle errichtet. Eine Jesusfigur an ihrem Eingang weist mit der Hand auf das ehemalige Mausoleum. Eine Geste, die den Triumph der Kirche über den untergegangenen Sozialismus albanischer Prägung symbolisieren soll. Zudem wurde die Straße an der Rückseite des ehemaligen Mausoleums nach dem aus Polen stammenden Papst Johannes Paul II. benannt, dem seine Anhänger bescheinigen, zum Ende des Nominalsozialismus in Europa beigetragen zu haben. Dabei hatte der Sturz dessen albanischer Variante eine besondere Bedeutung, weil dort eine strikt antiklerikale Politik verfolgt wurde. Viele ehemalige Kirchen waren in Albanien zu Kindergärten und Krankenhäusern umfunktioniert worden. Vor dem Eingang des Mausoleums soll eine Freiheitsglocke an den Sieg über den Sozialismus albanischer Prägung erinnern. Während die meisten albanischen Passanten achtlos vorbeigehen, lassen sich Touristen oft beim Anstoßen der Glocke fotografieren.
Unter den vielen Menschen, die sich bei schönem Wetter an der Pyramide treffen, erinnern sich die wenigsten an die Zeit, als dort Enver Hoxhas gedacht wurde. Mittlerweile ist der Platz um die Mausoleumsruine zum angesagten Treffpunkt junger Menschen geworden. Denn anders als der unbelebte Platz mit dem monumentalen Skanderbeg-Denkmal, das im Zentrum Tiranas den albanischen Diktator glorifiziert, ist der Platz um die Pyramide ein Ort verschiedener Freizeitaktivitäten geworden. Skater und Sprayer haben auf den Wänden der Ruine unübersehbar ihre Spuren hinterlassen, Fassadenkletterer erproben ihre Künste an den steilen Mauern. Verblichene Poster erinnern an eine Plakatausstellung, die einige Künstler im Sommer vergangenen Jahres an den Wänden der Mausoleumsruine organisierten und die auch international beachtet wurde.
So wie die Pyramide hat ein weiteres Symbol der Hoxha-Ära eine Zweitverwertung erfahren. Es handelt sich um die berühmten Bunker, die in der sozialistischen Zeit überall in Albanien gebaut wurden. Über 750 000 dieser Schutzräume soll es Mitte der achtziger Jahre gegeben haben. In den überwiegend sehr kleinen Bunkern sollten sich Soldaten im Fall einer Invasion verschanzen. Allzuviel Schutz hätten sie nicht geboten. Während des Kosovo-Krieges, als einige Nato-Bomben irrtümlich über albanischem Territorium abgeworfen wurden, wurde auch ein Bunker getroffen und stürzte ein. Ob sozialistischer Pfusch die Ursache war, blieb allerdings unklar. Denn bereits in der frühen Nachwendezeit wurden zahlreiche Bunker zerstört, weil sich der Stahl unter dem Beton verwerten ließ. Hofften viele Menschen nach der Wende, dass über die Bunker schnell Gras wachsen würde, haben in den vergangenen Jahren junge Menschen die Unterstände als Party-Location entdeckt. Im Universitätsviertel von Tirana laden Flyer zur Bunker-Party ein. Auch die ersten Bunker-Hostels, in denen vor allem Individualtouristen während ihres Aufenthalts in Tirana sozialistischen Flair genießen können, haben mittlerweile geöffnet. Ein Bunker, der im Zentrum von Tirana nachgebaut wurde, soll dort neben einem Stück der Berliner Mauer die Befreiung vom Sozialismus symbolisieren und bietet Fototermine für Touristen. Schließlich war der Bunker ein weltweit bekanntes Symbol des Hoxha-Sozialimus.
Ein Besuch im albanischen Nationalmuseum kann tiefere Einblicke in diese Epoche liefern. In den großen Räumen des Gebäudes im Zentrum Tiranas wird nicht nur Kunst aus der Hoxha-Ära gezeigt. Auf Tafeln gibt es zu vielen Werken kurze Erklärungen in albanischer und englischer Sprache, die die Einordnung der Arbeiten erleichtern sollen. In einer Halle finden sich Bilder, die wohl Enver Hoxha, seine Frau und hohe Parteifunktionäre im Umgang mit der Bevölkerung zeigen. Solche Herrschaftsmalerei macht allerdings nur einen kleinen Teil der präsentierten Werke aus. Daneben finden sich Bilder, deren Malweise als modern, sogar als avantgardistisch bezeichnet werden kann. Auffallend häufig sind auf den Bildern Frauen in zentralen Funktionen im Betrieb, der Universität oder im Forschungslabor zu sehen. Sie sind entweder den Männern gleichgestellt oder haben sogar eine herausragende Position. In den Begleittexten wird erläutert, dass die von der Kommunistischen Partei propagierte Gleichstellung der Frau sich auch in der Kunst ausdrücken sollte.
Eine besondere Rolle spielten Frauen auch in der albanischen »Kulturrevolution«, für die ab 1967 nach dem chinesischen Vorbild gegen die »kleinbürgerliche Ideologie« mobilisiert wurde. Vor allem in ländlichen Regionen engagierten sich Frauen, unterstützt von der Kommunistischen Partei, gegen den Einfluss von Religion und Kirche. Wie sich die »Kulturrevolution« auf die Kunst auswirkte, wird im Nationalmuseum an der Geschichte einzelner Bilder erläutert. So wurden nach 1967 Kunstwerke, die nackte Frauen darstellten, aus den Museen und dem Stadtbild verbannt, weil sie nicht zum neuen Frauenbild passten. In dieser Zeit wurde gezielt versucht, die Kunst mit der Arbeitswelt in Kontakt zu bringen. So haben Arbeiterdelegationen unter Anleitung der Partei Ausstellungen besucht und es wurde über die präsentierten Werke diskutiert, oft in Anwesenheit der Künstler. In der Ausstellung sind mehrere Bilder zu sehen, die aus den Museen entfernt wurden, nachdem sie von den organisierten Arbeiterdelegationen kritisiert worden waren, weil sie angeblich nicht das reale Leben darstellten. Künstler, deren Werke häufiger Gegenstand der Kritik waren, sollten in der Produktion die Probleme der arbeitenden Bevölkerung besser kennenlernen.
Im Hof des Nationalmuseums kann man noch eine unfreiwillige Kunstaktion der besonderen Art bestaunen: drei Statuen, fast vollständig von hellen Planen verdeckt, nur ihre Füße sind zu erkennen. An den Umrissen kann man erkennen, dass es sich um die Denkmäler von Lenin, Stalin und Enver Hoxha handelt, die bis 1990 an verschiedenen Stellen in Tirana aufgestellt waren. Danach wurden sie abgebaut und sind seitdem im Hof der Nationalgalerie zwischengelagert. Dort findet der Besucher auch unverhüllte Statuten aus der realsozialistischen Ära, die geschichtliche Ereignisse wie den Kampf gegen die italienischen Faschisten darstellen. Das Interesse an der Kunst im Sozialismus und am heutigen Umgang damit kann so groß nicht sein, zumindest ist die Zahl der Museumsbesucher gering.
Will man auf junge Menschen in Tirana treffen, braucht man nur die am Nationalmuseum angrenzenden Straßen entlangzugehen. In Bloku, in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt von Tirana, wohnen viele Studenten. Überall in den vielen kleinen Cafés und Imbissstuben sitzen junge Leute mit ihren Smartphones, wie in jeder anderen europäischen Großstadt. An vielen Häuserwänden erinnern die langsam verblassenden bunten Streifen an die Ära von Edi Rama, der als Bürgermeister von Tirana etwas Farbe in das graue Häusermeer brachte. Heute ist der Sozialdemokrat albanischer Ministerpräsident und strebt eine EU-Mitgliedschaft für das Land an. Zumindest in Bloku scheint diese Forderung populär zu sein. An manchen Häuserwänden sieht man die blauen Fahnen mit den EU-Sternen. Ein EU-Infocenter nur wenige Straßen vom Hauptgebäude der Universität entfernt wird vor allem von jungen Leuten besucht, die in einem EU-Land studieren wollen. Ein Auslandsstudium ist auch deshalb so beliebt, weil es für albanische Hochschulabsolventen viel schwieriger als für andere ist, nach dem Studienabschluss im Ausland Arbeit zu finden. Das nämlich ist der Traum vieler junger Albaner. Schließlich kann das pulsierende Stadtleben von Tirana nicht über den niedrigen Lebensstandard großer Teile der Bevölkerung hinwegtäuschen.
Verlässt man das Universitätsviertel und die Innenstadt von Tirana, ändert sich das Straßenbild schnell. EU-Fahnen findet man dort nicht, dafür enge Straßen, in denen Handwerker an alten Maschinen sitzen. Pferdefuhrwerke fahren über die Straßen und ein junger Mann sucht am Straßenrand nach Gegenständen, die sich verwerten lassen. An einer Straßenecke haben Kinder einige Utensilien ausgepackt, die sie verkaufen wollen. Auch einige alte Taschenlampen und Batterien sind darunter. Nach Einbruch der Dunkelheit bringen sich an vielen Straßenecken Sexarbeiterinnen in Position.
Viele Menschen versuchen ihr Glück aber im europäischen Ausland. Auf Plakaten, die an verschiedenen Stellen in den albanischen Städten zu sehen sind, werden Busreisen von Tirana nach Mailand oder in andere italienische Städte angeboten. Viele Albaner versuchen, mit Jobs in Italien sich und ihre Familien über die Runden zu bringen. Mittlerweile arbeiten Hunderttausende Albaner in allen Branchen in Italien. Im Putzgewerbe sind sie ebenso zu finden wie bei der Erntehilfe, in der Pflege oder auf dem Bau. Nur wenige Arbeitsmigranten kommen in den Genuss geregelter Arbeitsverhältnisse, die meisten sind auf einige Monate befristet. Andere arbeiten ohne gültige Papiere. Ihnen droht stets Abschiebung und ihr Reiseweg ist immer noch abenteuerlich. Die Passagen mit Schlauchbooten über das Meer aber gehören heute in Albanien der Vergangenheit an. Noch vor zehn Jahren gab es von der albanischen Küste Bilder, wie wir sie heute von den nordafrikanischen Staaten kennen. Junge Albaner versuchten immer wieder, mit Schlauchbooten die italienische Küste zu erreichen, dabei kamen viele Menschen ums Leben. Die größte Tragödie ereignete sich am 9. Januar 2004, als mindestens 20 Jugendliche auf dem Weg von Nordalbanien nach Italien starben.
Neben Italien war Griechenland lange Jahre ein begehrtes Ziel für albanische Arbeitsmigranten. Doch mit der Verschärfung der Schulden- und Wirtschaftskrise gab es dort auch für viele ausländische Arbeitskräfte kein Auskommen mehr. Noch immer versuchen albanische Jobber am Hafen von Piräus und anderen Arbeitsstellen in Griechenland ihr Glück. Die Arbeitsbedingungen der albanischen Migranten sind auch im Ausland nicht ideal. Oft arbeiten sie zu wesentlich geringeren Löhne als die einheimische Bevölkerung. Der größte Teil des Lohnes geht nach Albanien und soll das Überleben der Familien sichern. Mittlerweile sind viele Albaner, die jahrelang im europäischen Ausland gearbeitet haben, wieder in ihr Herkunftsland zurückgekehrt. Besonders der Boom in der Baubranche hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen, aber auch Menschen aus ihren Wohnungen verdrängt.
Am Rande der Küstenstadt Durres reißt ein Bagger mit Abrissbirne gerade mehrere Häuser ein. Das Gelände wird von Mitarbeitern der Abrissfirma und Polizisten bewacht, die jeden Zutritt verhindern. »Hier musste ein Wohnpark einem Hotel weichen«, erklären zwei junge Männer, die am Zaun stehen. Mehrere ehemalige Bewohner, die gegen den Abriss protestierten, seien vor wenigen Tagen von der Polizei festgenommen worden, berichten sie. Selbst das albanische Fernsehen hatte in den Nachrichten über die Mieterproteste berichtet.
Auch in Deutschland wird die geplante Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft zwischen der EU und den USA kritisiert. Meist kommen die Kritiker nicht über das Unbehagen an den Großkonzernen hinaus.
»Studie zu EU-Freihandel mit den USA: Deutschland winken 180 000 neue Jobs«, verbreitete der Spiegel vor einiger Zeit die Kunde über die angeblich segensreichen Auswirkungen der geplanten Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) zwischen der EU und den USA. Führende Wirtschaftsverbände fordern einen zügigen Abschluss der Verhandlungen und prognostizieren einen Wirtschaftsaufschwung samt neuen Arbeitsplätzen.
Mittlerweile melden sich auch Kritiker zu Wort. Über 20 Nichtregierungsorganisationen, darunter Attac, der Bund für Umwelt und Naturschutz und das Forum Umwelt und Entwicklung, fordern mit der Kampagne »TTIP nein danke« ein Ende der Verhandlungen. Sie befürchten durch das Abkommen Nachteile für den Umwelt-, Verbraucher-, Tier- und Arbeitsschutz. Ein zentraler Kritikpunkt ist die mangelnde Transparenz, der Vertrag ist nach Ansicht der Organisationen in der Öffentlichkeit nicht ausreichend bekannt.
Die Betreiber der Kampagne versuchen, an die Entwicklung der Bewegung gegen das Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) anzuknüpfen, das Ende der neunziger Jahre den Anstoß für die globalisierungskritische Bewegung gab. Das Scheitern des MAI war zwar den Widersprüchen zwischen den verhandelnden Staaten geschuldet, doch die Anti-MAI-Kampagne verbuchte es als ihren eigenen Erfolg. Linke Kritiker monierten damals, dass die Bewegung statt der Kapitalismuskritik das Unbehagen an der Macht der Konzerne in den Mittelpunkt ihrer Aktionen gestellt hatte.
Dies scheint sich nun fortzusetzen. Auch viele Erklärungen gegen die TTIP lassen eine grundsätzliche Kritik am Kapitalismus vermissen. So fordert eine Kandidatin der Piratenpartei für die Europawahl in einem Artikel in der Wochenzeitung Freitag, die USA mit dem Abbruch der TTIP-Verhandlungen für die NSA-Affäre zu bestrafen. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hat eine 15seitige Studie erstellt, in der die TTIP kritisch beurteilt wird. Letztlich fordert Verdi jedoch nur ein verändertes Abkommen. Auf den ersten Seiten der Studie kritisieren die Autoren zwar präzise die Ideologie des Freihandels. Dann heißt es aber: »Die WTO ist einseitig auf freien Handel ausgerichtet. Die Rechte der Menschen drohen zu kurz zu kommen.« Dass das Wohl der Lohnempfänger überhaupt nicht der Zweck des Kapitalismus ist, wird nicht erwähnt. Mit der Forderung nach einem »fairen und die Interessen aller Länder und Kontinente beachtenden Welthandelsabkommen« erweckt Verdi den Eindruck, dass die TTIP lediglich verbindlicherer Vorgaben bedürfe. Wenn zudem beklagt wird, dass in den Verhandlungen über das Handelsabkommen zahlreiche Wirtschaftslobbyisten, aber keine Gewerkschaften vertreten seien, fällt schnell auf, dass die Hauptkritik darin besteht, nicht auch ein bisschen mitreden zu dürfen.
Treffender ist die Kritik an der TTIP in einem Aufruf des Internetprojekts arbeitsunrecht.de. Dort werden die negativen Auswirkungen für Lohnabhängige verdeutlicht. So wird darauf verwiesen, dass die USA sechs von acht Normen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nicht unterzeichnet haben. Dazu gehört das Abkommen zum Schutz der Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Vertrags- und Koalitionsfreiheit und das Verbot von Zwangs- und Pflichtarbeit in den Gefängnissen. In dem Aufruf wird auch kritisch auf die sogenannten Right-to-Work-Gesetze verwiesen, mit denen in mittlerweile 25 US-Bundesstaaten Sonderzonen eingerichtet wurden, in denen die Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte stark eingeschränkt sind.
Die EU kommt ebenfalls nicht gut davon. »Die Staaten der EU haben zwar die meisten Normen der ILO ratifiziert, halten sich aber in abnehmendem Maße daran«, heißt es in dem Aufruf. Verwiesen wird vor allem auf die Austeritätspolitik, in deren Zuge in Griechenland, Spanien, Italien und Portugal Tarifverträge aufgelöst, Lohnsenkungen verordnet und Streiks erschwert wurden.
Das Dossier über Folter in Syrien dokumentiert nur, was seit Jahren bekannt war. Trotzdem sollten noch 2009 Tausende syrische Oppositionelle ausgewiesen werden
Allgemeine und geheime Wahlen seien die Lösung aus der syrischen Krise. Dieser Vorschlag kommt von einer Seite, die an der Syrienkonferenz gar nicht beteiligt ist. Der iranische Präsident Rohani äußerte sie auf dem World-Economic-Forum im schweizerischen Davos. Dass er dort hofiert, zeigt, wie sich der Einfluss des Iran auf die Weltpolitik in der letzten Zeit verändert hat. Führenden Wirtschafts- und Kapitalkreisen der verschiedenen Länder kann es nicht schnell genug gehen, mit dem Iran wieder Handel zu treiben.
Die hätten das Land auch gerne als Teilnehmer bei der Syrienkonferenz gesehen. Doch die Spannungen mit den an Saudi-Arabien orientierten Kräften erzwangen eine Ausladung in letzter Minute. Welche Position das Land dort vertreten hätte, hat nun Rohani in Davos verkündet. Dabei merkt man auch, wie man mit gefälligen Positionen Nebelwände ziehen kann.
Denn die Wahlen solle nach Rohanis Vorstellung erst dann stattfinden, wenn die Terrorgruppen zerschlagen sind. Damit aber sind im Zweifel nicht nur die islamistischen Gruppen, sondern alle Oppositionellen gemeint. Mit der Bekämpfung werden auch die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen gerechtfertigt, die kurz vor der Konferenz wieder einmal weltweit für Empörung sorgen.
Welche Alternative gibt es zu den Verhandlungen?
Ein Überläufer aus dem Polizeiapparat hat einen Rapport veröffentlicht, der systematische Folterung und Tötung von Tausenden Menschen in syrischen Gefängnissen berichtet. Sofort setzte eine Diskussion darüber ein, ob man sich mit Vertretern eines solchen Regimes überhaupt an den Verhandlungstisch setzen kann. Dabei drückte man sich gerne um die Alternative herum, die in einen militärischen Angriff auf Syrien bestehen würde. Oder wie soll sonst die Unterstellung der syrischen Gefängnisse unter internationale Aufsicht bewerkstelligt werden, die der Taz-Kommentator Dominic Johnson in seinen Kommentar forderte?
Wenn er dort schreibt: „Das Verbrecherregime in Damaskus hat nicht erst durch seine Kriegstaktik der verbrannten Erde und der systematischen Vernichtung oppositioneller Bevölkerungsteile seine Legitimität verspielt, sondern schon vorher durch seinen brutalen Umgang mit jeder inneren Infragestellung. 2013 führten Chemiewaffenangriffe bei Damaskus dazu, dass Syriens Chemiewaffenarsenale unter internationale Aufsicht gestellt und zwecks Vernichtung ins Ausland gebracht werden“, unterschlägt er souverän, dass über die Urheber des Giftgaseinsatzes keine Klarheit besteht.
Die US-Forscher Richard Lloyd, ein früherer UN-Waffeninspekteur, und Theodore Postol, ein Professor am Massachusetts Institute of Technology kamen in einer in der letzten Woche veröffentlichten Studie zu dem Schluss, dass sie eher vom Rebellengebiet aus als von dem unter Regierungskontrolle stehenden Areal abgefeuert wurden. Damit ist nun keineswegs geklärt, wer für den Giftgaseinsatz verantwortlich ist. Allerdings wird deutlich, wie schwierig eine Klärung ist.
War Folterdossier Störung des Friedensprozesses?
Auch das Folterdossier wurde von „antiimperialistischen Medien“ umgehend als Störfeuer gegen den Friedensprozess bezeichnet. Dabei hat auch die Taz, die das Dossier zum Anlass für eine umfangreiche Berichterstattung nahm, die Zweifel nicht verschwiegen, die vor alle mit dem Datum der Veröffentlichung unmittelbar vor Beginn der Syrien-Konferenz zusammenhängt.
„Es ist gewiss kein Zufall, dass der Bericht über die systematische Tötung syrischer Gefangener am Dienstag bekannt geworden ist: Am Mittwoch beginnt im schweizerischen Montreux die UNO-Syrienkonferenz. Alle Protagonisten und ihre Unterstützer haben ein vehementes Interesse daran, den Gegner in ein möglichst schlechtes Licht zu setzen. Der Report über die Gefangenenmorde wurde von einer bekannten Londoner Kanzlei als Rechtsgutachten im Auftrag des Emirats Katar erstellt. Katar unterstützt syrische Rebellen. Es handelt sich also um einen interessengeleiteten Auftrag, und die Informationen wurden mit Bedacht zunächst dem US-Sender CNN und dem britischen Guardian zugeleitet,“ heißt es in der Anmerkung unter der Überschrift „Folter und Verantwortung für die Medien“. Doch auch die Schlussfolgerung, die der Autor zog, ist logisch:
„Ist der Report also in Wirklichkeit Propaganda? Der Tag der Veröffentlichung und der Auftraggeber der Studie könnten darauf schließen lassen. Jedoch: Nur weil der Zeitpunkt der Veröffentlichung im Interesse einer der Konfliktparteien liegt, muss die darin enthaltene Information nicht falsch sein.“
Diese Erklärung überzeugt. Nur weil Informationen zu strategisch und taktisch günstigen Terminen veröffentlicht werden, müssen sie nicht falsch sein.
Islamisten wurden nach Syrien zum Foltern überstellt
Zumal niemand dieses Dossier brauchte, um über die Folterpraktiken des syrischen Regimes zu wissen. Menschenrechtsorganisationen stießen in der deutschen Politik und Öffentlichkeit jahrelang auf Desinteresse, als sie über die Folterpraktiken und die ständigen Menschenrechtsverletzungen des syrischen Regimes informierten.
Im Jahr 2009 versuchten sich syrische Oppositionelle in Berlin verzweifelt gegen ihre Abschiebung nach Syrien zu wehren. Darunter befand sich der syrisch-kurdische Schriftsteller Abdellhamid Osman.
Gemeinsam mit anderen Flüchtlingen befand er sich seit dem 24. Februar 2009 mehrere Wochen in einem Hungerstreik und campierte in Protestzelten gegenüber dem Bundesinnenministerium. Sie wurden von den Ordnungsbehörden schikaniert, durften sich nicht einmal mit Regenschirmen gegen das feuchte Winterwetter schützen. Auch die Medienöffentlichkeit ignorierte das Anliegen der Protestierenden zum größten Teil. Sie machten darauf aufmerksam, dass Anfang 2009 über 50.000 Ausweisungs- oder Abschiebungsforderungen gegen in Deutschland lebende syrische Staatsbürger ergangen ist.
Die Öffentlichkeit interessierte kaum, dass ihnen genau diese Folter drohte, die nun für große Empörung sorgt. Wahrscheinlich hat die Eskalation in Syrien die meisten der Flüchtlinge vor diesem Schicksal bewahrt. Eine wahrnehmbare zivilgesellschaftliche Bewegung für ihre Anliegen aber gab es nicht. 2009 galt schließlich Syrien als heimlicher Verbündeter.
In das Land wurden schon mal gefangene Islamisten wie Mohammed Zammar überstellt, wenn es galt, von ihnen Aussagen zu erfoltern. Schließlich konnten sich die syrischen Ermittler einiges leisten, das in anderen Staaten nicht möglich gewesen wäre. Genau diese Fakten sorgen nun für die Empörung, wenn sie auf Fotos dokumentiert werden.
Vielleicht soll die rituelle Empörung von der Frage ablenken, was denn Deutschland davon wusste, als man Flüchtlinge, die in dem Land Schutz suchten, zur Ausreise aufforderte. Wenn man nun auch nicht mehr mit dem Folterstaat Syrien paktieren will, sollte das nicht als Hinwendung zu einer menschenrechtlichen Position missverstanden werden. Schließlich sind die Beziehungen zu Saudi-Arabien, das in Sachen Folter und Verfolgung von Oppositionellen Syrien noch einiges voraus hat, weiterhin hervorragend. Von dort werden auch einige der Islamisten unterstützt, die in Syrien auf Seiten der Opposition für Verfolgung und Terror sorgen.
Weder Assad noch Islamisten
Derweil befindet sich die zivilgesellschaftliche Opposition, die weder den Terror des Assad-Regimes noch der oppositionellen Islamisten erdulden will, in einen Zweifrontenkrieg. Die Initiative hat einen Blog eingerichtet, in dem Stimmen dieser Zivilgesellschaft zu Wort kommen.
Neben den dort vertretenen oppositionellen Gruppen und Einzelpersonen, gibt es noch eine weitere moderate Opposition zum syrischen Regime, die sich ebenfalls auf der Genfer Konferenz nicht vertreten fühlt. Dazu gehören auch syrische Frauengruppen. Ihre Forderungen nach einer angemessenen Beteiligung von Frauen an der Konferenz werden auch von deutschen Frauengruppen unterstützt.
»Keine Hundesteuer, keine Mietsabgaben, keine neuen Maschinen und im Tiergarten rauchen« – das waren die Forderungen einer Demonstration im Juli 1830, die als Berliner Schneideraufstand in die Geschichte einging. Mit dieser sozialen Bewegung beginnt der Historiker Axel Weipert seine »Geschichte des Roten Berlin«. Es folgen der Kartoffelaufstand am Mehringplatz 1847 und die Blumenstraßenkrawalle gegen Zwangsräumungen in Kreuzberg 1872, die vom Militär blutig unterdrückt wurden. Auch in der Weimarer Zeit legt Weipert das Augenmerk auf die Geschichte sozialer Bewegungen. Die beginnt mit den Revolutionären Obleuten, den eigentlichen Trägern der Novemberrevolution. Der Autor zeigt, wie die Rätebewegung von den Freikorps blutig unterdrückt wurde, die im Auftrag der SPD die Revolution abwürgten. Wenig bekannt sind die starke Erwerbslosenbewegung in der Frühzeit der Weimarer Republik und eine Schöneberger Siedlung, die noch in der Frühphase des Naziregimes als Rote Insel bekannt war. Weipert konzentriert sich auf den Stadtteil und selbstorgansierte Kämpfe. Diese wurden in der sozialdemokratischen Presse oft mit Krawall in Verbindung gebracht, etwa die Demonstrationen junger Erwerbsloser 1892 oder die Proteste von Obdachlosen einige Jahre später. Es ist verdienstvoll, dass Weipert diese von den Parteien und Gewerkschaften oft ignorierten oder gar diffamierten Kämpfe in seinem gut lesbaren Buch einer größeren Öffentlichkeit bekannt macht.
http://www.akweb.de//ak_s/ak590/03.htm
Peter Nowak
Axel Weipert: Das Rote Berlin. Eine Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung 1830 – 1934. Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2013. 251 Seiten, 29 EUR.
In den deutschen Medien wird viel Verständnis für rechte ukrainische Organisationen gezeigt, selbst wenn sie äußert gewalttätig auftreten
Es ist erst ein paar Wochen her, da war in Deutschlands Medienlandschaft die Aufregung groß: Weil eine Demonstration der außerparlamentarischen Linken unfriedlich endete, sah man schon die Demokratie in Gefahr. Von Chaoten und Straftätern war die Rede, die kein Recht haben, sich auf das Demonstrationsrecht zu berufen.
Wenn dann gar einige parlamentarische Linke und Liberale fragten, ob denn die Polizei mit ihrem wenig deeskalierenden Verhalten nicht auch eine Mitverantwortung an der Gewalt trage, gerieten diese schnell in Verdacht, womöglich Sympathisanten der Gewalttäter zu sein. Vor einigen Tagen nun flimmerten Bilder über Straßenschlachten in Kiew über die Bildschirme, gegen welche die Hamburger Auseinandersetzungen kleine Scharmützel waren. All das, was manche Politiker und Boulevardmedien in die Hamburger Ereignisse hineininterpretierten, in Kiew konnte man es sehen.
Die Bilder zeigen, dass es nicht übertrieben ist, von bürgerkriegsähnlichen Zuständen zu reden. Demonstranten waren am Sonntag mit Holzknüppeln, Brandsätzen und Feuerwerkskörpern gegen die Miliz vorgegangen. Sie warfen auch mit Steinen. Zahlreiche Einsatzfahrzeuge der Sicherheitskräfte gerieten in Brand.
„Regierung holt Schläger nach Kiew“
Doch viele der Medien, die nach dem unfriedlichen Ende einer Demo in Hamburg eine harte Reaktion des Staates forderten, zeigten sich im Fall Ukraine sehr viel verständiger für den als gemäßigt konservativ geltenden Oppositionspolitiker Klitschko, dem gute Beziehungen zur CDU/CSU nachgesagt werden. Er machte im Wesentlichen die ukrainische Regierung für die Auseinandersetzung verantwortlich.
Klitschko beschuldigte die Regierung, Schläger nach Kiew mit der Anweisung zu randalieren gebracht zu haben; er lieferte allerdings dafür keinerlei Belege. Dafür haben Regierungsmitglieder zumindest in der Öffentlichkeit eher auf Deeskalation gesetzt und versucht, mit Teilen der Opposition ins Gespräch zu kommen. Die Taktik scheint aufzugehen.
Am gestrigen Dienstag blieb die Lage in Kiew gespannt, aber ruhig. Doch Klitschko beschuldigte die Regierung nicht nur, die Auseinandersetzungen angezettelt zu haben. Er warf ihr auch vor, durch ihre Politik eine Situation erzeugt zu haben, in der sich junge Ukrainer zur Gewalt provoziert gefühlt hätten – eine Distanzierung sieht anders aus.
Toleranz für militante Nationalisten
In deutschen Medien wird selten auf den politischen Kontext aufmerksam gemacht, in dem die Randalierer von Kiew stehen. Bei den jungen Männern, „die sich zur Gewalt provoziert fühlen“, handelt es sich überwiegend um Angehörige der extremen ukrainischen Rechten. Manche bewegen sich im Umfeld der Swoboda-Bewegung, die sich offen in die Tradition der NS-Kollaborateure und Antisemiten stellen, die sich gemeinsam mit der deutschen Wehrmacht am Überfall auf die Sowjetunion beteiligten.
Mittlerweile wird die Swoboda-Bewegung auch als Teil einer neuen, extrem rechten Fraktion für das EU-Parlament umworben. Gespräche mit den belgischen Vlaams Belang und dem Front National hat es schon gegeben. Dabei muss die Partei ihre Propaganda etwas vom allzu offenen Nazismus reinigen. Das geht manchen Rechten zu weit; sie organisieren sich in Konkurrenz zu Swoboda in offenen Neonazigruppen.
Sie sind in den letzten Wochen öffentlich in Erscheinung getreten, in dem sie Lenin-Statuen umgestürzt oder Linke und Gewerkschaftler bei Demonstrationen angegriffen haben. So wurde der Gewerkschaftler Denis Lewin beim Verteilen von Flugblättern im Dezember in Kiew von Rechten attackiert.
Lange Zeit wurde in der deutschen Öffentlichkeit die massive rechte Präsenz in der ukrainischen Oppositionsbewegung weitgehend ignoriert. Als sich in den letzten Wochen deutsche Politiker wie der vormalige Bundesaußenminister Westerwelle in Kiew medienwirksam mit der ukrainischen Opposition solidarisierten, wurde nicht erwähnt, dass mindestens ein Drittel der extremen Rechten angehört, die natürlich auf die altbewährte deutsch-ukrainische Zusammenarbeit anstoßen können (Hass auf Moskauer, Juden und „andere Unreine“).
Gegen die Entnahme von DNA-Proben durch Ermittlungsbehörden regt sich Widerstand – vor allem von potenziellen Kandidaten von Ermittlungen.
»Unsere DNA könnt ihr uns nehmen, unseren Willen brecht ihr nicht«, lautete das Motto auf dem zentralen Transparent, das Ende letzter Woche auf einer kleinen Kundgebung in Berlin getragen wurde. Zuvor waren zwei linke Aktivisten zwangsweise zur DNA-Entnahme von der Polizei vorgeführt worden. Wie bei einer weiteren Entnahme in Stuttgart werden die Betroffenen beschuldigt, an der Herstellung der klandestinen Zeitschrift »radikal« beteiligt gewesen zu sein und die Revolutionären Aktionszellen (RAZ) unterstützt zu haben. Bundesweit ermittelt die Bundesanwaltschaft in diesem Zusammenhang gegen neun Personen. Sie wurden von den Ermittlungsbehörden schriftlich aufgefordert, ihre DNA freiwillig abzugeben, was sie ablehnten. In der nächsten Zeit wird daher mit weiteren zwangsweisen Vorführungen zur Speichelabgabe gerechnet.
Das Netzwerk »Freiheit für alle politischen Gefangenen« will diese Maßnahmen nutzen, um einen größeren Widerstand gegen die DNA-Entnahme aufzubauen. Schließlich müssen sich auch Umweltgruppen und antimilitaristische Zusammenhänge mit dieser Ermittlungsmethode beschäftigten. So sollte sich ein Antimilitarist aus Stendal am 21. Januar im Polizeirevier von Salzwedel zur Speichelentnahme einfinden. Auch er lehnt das ab und rechnet nun mit einer Zwangsvorführung. Gegen ihn wird wegen »Sabotage gegen Wehrmittel« beim antimilitaristischen Camp gegen das Gefechtsübungszentrum (GÜZ) in der Altmark im September 2012 ermittelt. Auf einem bundesweit verbreiteten Plakat, das zwei zerbrochene Wattestäbchen zeigt, wird unter dem Motto »DNA-Sammelwahn – das könnt ihr knicken« zu vielfältigem Widerstand aufgerufen.
Während es seit Jahren eine große Protestbewegung gegen die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland gibt, blieb die Datenentnahme per Wattestäbchen bisher ein Thema vor allem für einen kleinen Kreis von Experten. Dabei hatte das das »gen-ethische Netzwerk«, das seit Jahrzehnten kritisch die neuen Ausforschungsmethoden beobachtet, bereits 2011 eine Kampagne unter dem Motto »DNA-Sammelwut stoppen« initiiert. In diesem Rahmen wurden Aufrufe und öffentliche Briefe verfasst, Seminare angeboten und mit einem riesigen Wattestäbchen auf Demonstrationen und Kundgebungen um Aufmerksamkeit geworben. Doch seit 2012 wird die Kampagnenhomepage nicht mehr betreut. »Wir hätten gerne weiter gemacht, aber die Bewegungsstiftung, die unsere Arbeit finanzierte, hat uns signalisiert, dass andere Themen wichtiger sind«, erklärte Alexander Schwerin vom »gen-ethischen Netzwerk«. In den nächsten Monaten wird die Organisation eine Broschüre zur Geschichte der DNA-Datenbanken und den Widerstand dagegen herausgeben.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/921547.nicht-von-watte.html
Peter Nowak
In Halle an der Saale wird über die Umbenennung der Emil-Abderhalden-Straße im Universitätsviertel gestritten. Ihr Namensgeber unterstützte als Wissenschaftler die NS-Ideologie.
War der Biochemiker Emil Abderhalden ein »eugenischer Rassist der ersten Stunde«? Darüber haben in den vergangenen Wochen Wissenschaftler in der Universitätsstadt Halle heftig gestritten. Der in der Schweiz geborene Abderhalden lehrte ab 1911 in Halle. 1912 wurde er in die dortige Gelehrtenakademie Leopoldina aufgenommen, mit den Stützen der wilhelminischen Gesellschaft war er bestens bekannt. Durch die Vermittlung des Stellvertretenden Heereskommandos wurde Abderhalden die Organisation der Verwundetentransporte im Ersten Weltkrieg übertragen. Dafür erhielt er das Eiserne Kreuz 2. Klasse am Eisernen Band.
Doch der Wissenschaftler sorgte sich auch anderweitig um Deutschland. So war er 1915 Mitbegründer des Bundes zur Erhaltung und Mehrung der deutschen Volkskraft. Obwohl Abderhalden kein Mitglied der NSDAP war, gehörte er ab 1934 dem NS-Lehrerbund an. Im gleichen Jahr unterzeichnete er auch den Aufruf »Wissenschaftler für Hitler«, der im NSDAP-Blatt Völkischer Beobachter veröffentlicht wurde. Zu diesem Zeitpunkt fungierte er bereits zwei Jahre als Präsident der Leopoldina, die er 1945 verlassen musste. Nach der Niederlage des Nationalsozialismus wurde er von den US-Alliierten ausgewiesen und konnte sich in seine Schweizer Heimat absetzen, wo er einen Lehrstuhl für Chemie an der Universität Zürich erhielt und 1950 starb. 1944 war er für seine kriegswichtigen Forschungen mit dem Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse ausgezeichnet worden.
Wie gut Abderhaldens wissenschaftliche Arbeit mit den Bestrebungen des Nationalsozialismus harmonierte, wies bereits der Medizinethiker Andreas Frewer in seinem im Jahr 2000 erschienenen Buch »Medizin und Moral in Weimarer Republik und Nationalsozialismus« nach. Dort heißt es über Abderhalden, er habe 1939 in »Nova Acta Leopoldina« einen Beitrag über »Rasse und Vererbung vom Standpunkt der Feinstruktur von blut- und zelleigenen Eiweißstoffen aus betrachtet« publiziert, in dem er unter anderem behauptete, dass die Eiweißstoffe des Gewebes und Blutes Rassenmerkmale enthielten, so dass »die einzelnen Rassen scharf unterschieden werden können«.
In der Leopoldina würdigte man Abderhalden weiter als sozial engagierten Wissenschaftler. Diese Verbundenheit dürfte auch der Grund dafür gewesen sein, dass 1953 im Universitätsviertel der Stadt Halle eine Straße nach Abderhalden benannt wurde. Damit sollte wohl auch die Distanz zwischen der SED und dem bürgerlichen Wissenschaftsapparat überwunden werden. Da Abderhalden kein NSDAP-Mitglied war, sah man gerne über seine nationalistische und völkische Einstellung hinweg. Schließlich unterschied er sich damit nicht von der Mehrheit der deutschen Wissenschaftler.
Die Emil-Abderhalden-Straße überstand auch die Wendezeit, als Straßen, die in der DDR nach antifaschistischen Widerstandskämpfern benannt worden waren, häufig umbenannt wurden.
Erst 2010 forderten die Grünen in Halle eine Umbenennung und führten neben Abderhaldens NS-freundlicher Haltung auch dessen Vorstellungen von »Rassenhygiene« als Begründung an. Die Diskussion bekam in den vergangenen Wochen neuen Schwung, nachdem Wissenschaftler des neu errichteten Geistes- und sozialwissenschaftlichen Zentrums (GSZ) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in einem offenen Brief die Umbenennung gefordert hatten. »Denn mit der Hallenser ›Emil-Abderhalden-Straße‹ wird ein Mann geehrt, der nachweislich ein eugenischer wissenschaftlicher Rassist der ersten Stunde war, der zu den Stichwortgebern der Euthanasie-Aktionen des ›Dritten Reichs‹ gehörte – und der überdies als prominenter Fälscher wissenschaftlicher Daten bezeichnet werden darf« – so wird die Forderung begründet. Unter dem Motto »Gerechtigkeit für Abderhalden« verfasste der Mediziner Dietmar Gläßer eine von weiteren Mitarbeitern der Leopoldina unterstützte Entgegnung. Während dort wortreich Abderhaldens »wissenschaftliche Leistungen« abgehandelt werden, geht der Brief auf die eugenischen und rassistischen Aspekte kaum ein. Am Schluss des Briefes wird Abderhalden bescheinigt, »von Dezember 1931 bis Juni 1945 einer der aktivsten Präsidenten der Akademie« gewesen zu sein, der »1945, von der amerikanischen Besatzungsmacht gezwungen, gegen seinen Willen« Halle habe verlassen müssen.
Während die Grünen weiter eine politische Entscheidung für die Umbenennung der Straße fordern, hält sich die Linkspartei bedeckt. Man wolle die Ergebnisse eines von der Leopoldina in Auftrag gegebenen Gutachtens abwarten, das in den kommenden Monaten veröffentlicht werden soll, sagte Erwin Bartsch, der für die Linkspartei im Kulturausschuss der Stadt Halle sitzt, der Jungle World. Reserviert äußerte er sich auch über die Idee des Oberbürgermeisters von Halle, Bernd Wiegand, der kürzlich vorgeschlagen hatte, die Emil-Abderhalden-Straße nach Anton Wilhelm Amo zu benennen. Amo war der erste bekannte Philosoph und Rechtswissenschaftler afrikanischer Herkunft in Deutschland. Der im heutigen Ghana geborene Amo, der als Kind versklavt und nach Amsterdam verschleppt wurde, studierte und promovierte im 18. Jahrhundert an der Universität Halle, bevor er wegen einer rassistischen Kampagne, die gegen ihn initiiert wurde, nach Axim im heutigen Ghana auswanderte. Amo gegen Abderhalden – das scheint eine Alternative zu sein, die auch die Linkspartei zu einer Entscheidung zwingen müsste.
Die Bundeswehr soll fit für neue Aufgaben gemacht werden, selbst Kritiker bestreiten das Ziel einer familienfreundlichen Bundeswehr nicht grundsätzlich
Die neue Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen hatte es schon nach wenigen Tagen im Amt verstanden, mit dem Schlagwort von der familienfreundlichen Bundeswehr Akzente zu setzen. Damit greift sie einen Vorschlag auf, den eine Kommission schon unter dem Kurzzeitverteidigungsminister von Guttenberg vorgelegt hatte.
Die nun angestoßene Debatte über die bessere Vereinbarkeit von Bundeswehr und Familie und der Versuch, die Truppe attraktiver zu machen, scheinen kaum auf Kritik zu stoßen.
Karriereberater bei der Bundeswehr
Dabei ist das Werben für eine familienfreundliche Bundeswehr Teil einer Akzeptanzinitiative für die deutsche Truppe. Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion geht hervor, dass die Bundeswehr im ersten Quartal des Jahres 2013 mehr als 800 Propagandaveranstaltungen durchführte. Sie werden größtenteils von „Karriereberatern“ und „Jugendoffizieren“ bestritten. Erstere widmem sich vor allem der Werbung von Heranwachsender. Die Jugendoffiziere sollen vor allem Schülern und Studierenden die Vorzüge einer Bundeswehrkarriere nahebringen. Für die neue Bundesregierung ist diese Aufgabe so wichtig, dass sie sich sogar im Koalitionsvertrag wiederfindet:
„Wichtig ist es, dass der Dienst in der Bundeswehr attraktiv bleibt. Wir werden eine Attraktivitätsoffensive voranbringen“, heißt es dort. „Die Jugendoffiziere leisten eine wichtige Arbeit bei der Information über den Auftrag der Bundeswehr. Wir begrüßen es, wenn möglichst viele Bildungsinstitutionen von diesem Angebot Gebrauch machen. Der Zugang der Bundeswehr zu Schulen, Hochschulen, Ausbildungsmessen und ähnlichen Foren ist für uns selbstverständlich“, wird die Arbeit der Karriereberater gewürdigt.
Im Koalitionsvertrag wird auch nicht verschwiegen, was das Ziel dieser massiven Akzeptanzwerbung für die Bundeswehr ist. So wird unter dem Begriff der Neuausrichtung der Bundeswehr der Umbau der Truppe zur weltweit agierenden Interventions- und Besatzungsarmee vorangetrieben. Die deutsche Bundeswehr soll über ein „breites“ kriegerisches „Fähigkeitsspektrum“ und eine gesteigerte „Durchhaltefähigkeit“ auf fremdem Territorium verfügen. Ob dazu bald auch die zentralafrikanischen Regionen gehören, ist noch offen. Die Süddeutsche Zeitung hatte von Plänen der deutsch-französischen Brigade berichtet, das Militärengagement in Mali zu verstärken. Die Bundeswehr soll nach diesem Bericht den Einsatz mit Transportflugzeugen und Luftbetankung unterstützen. Ob dieser Einsatz im deutschen Interesse ist, war bisher strittig.
Noch vor einigen Wochen hatte Bundeskanzlerin Merkel die Beteiligung mit der Begründung abgelehnt, dass der Militäreinsatz unter französischer Regie stehe. Da er nun aber in die Hände der EU gelegt wurde, könnte sich die Situation geändert haben. Deutsche Interessen vertritt auch das Kommando Spezialkräfte, das unter anderem in Afghanistan in verdecktem Einsatz ist. Das soll auch unter der großen Koalition so bleiben: „Einsätze des Kommandos Spezialkräfte sind immer mit einer hohen Gefährdung unserer Spezialkräfte verbunden und unterliegen der Geheimhaltung. Wir werden die Unterrichtung des Parlaments über KSK-Einsätze in der bewährten Form sicherstellen“, heißt es im Koalitionsvertrag.
Der bekennt sich auch zu einer „innovativen, leistungs- und wettbewerbsfähigen nationalen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie“. Mittelständige Rüstungsunternehmen sollen ebenso davon profitieren wie die Luft- und Raumfahrtindustrie, der eine „wichtige strategische Rolle für unseren Wirtschaftsstandort“ bescheinigt wird.
Die Linke auf den Weg in die Mitte
Selbst Kritiker der Militiarisierung bringen das Ziel der familienfreundlichen Bundeswehr selten mit der Neuausrichtung der Truppe in Zusammenhang. So stellte die bisher als scharfe Militärkritikerin bekannt gewordene Linken-Politikerin Christine Buchholz im Interview mit dem Deutschlandfunk das Ziel einer familienfreundlichen Bundeswehr nicht grundsätzlich in Frage. Auf ihrer Homepage heißt es lediglich, dass die Familienfreundlichkeit mit einer Armee im Einsatz unvereinbar sei.
Dabei müsste doch die erste Frage sein, für welche Zwecke denn die Bundeswehr familienfreundlicher werden soll? Und müsste gerade eine Partei, die sich auf den Antimilitarismus beruft, dem Vorhaben einer familienfreundlichen Armee nicht massiv widersprechen? Schließlich geht es um eine massive Akzeptanzwerbung, die auch bereits Erfolg hat. Dass das Ziel einer familienfreundlichen Bundeswehr selbst bei Kritikern von der Linkspartei nicht infrage gestellt wird, ist ein Indiz dafür.
Dass der erklärte Reformsozialist Stefan Liebich kürzlich fraktionsintern zum Obmann seiner Partei für den Außenpolitischen Ausschuss gewählt wurde und sich damit gegen die Parteilinke Sevim Dagdelen durchsetzte, kann mit Recht als eine Richtungsentscheidung gewertet werden, wie es in der Publikationen des Realoflügels auch interpretiert wird. Vergeblich hatte die Parteilinke vor einer Verwässerung der antimilitaristischen Ausrichtung der Partei gewarnt, für die Liebich steht, was und auch von seinen Anhängern nicht bestritten wird. „Mit der Wahl Liebichs zum Obmann führt nun ein Abgeordneter die Ausschussvertreter der Linken an, der sich für eine Neuausrichtung linker Außen- und Sicherheitspolitik einsetzt“, heißt es im Potemkin. Liebich hat den Anspruch die Militärpolitik seiner Partei so zu gestalten, dass damit auch ein Bündnis mit SPD und Grünen möglich wird. Diese Bemühen um Anschluss wird als Politik „jenseits der ausgetrampelten Pfade“ verkauft.
Einige Veteranen der Grünen könnten sich dabei an alte Zeiten erinnert fühlen. Denn mit einem ähnlichen Vokabular verabschiedete sich Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts die Partei von ihren antimilitaristischen Positionen. Das war ein sich über Jahre hinziehender Prozess und er verlief keineswegs widerspruchsfrei. Doch am Ende hatte sich der Realoflügel durchgesetzt. Ludger Volmer, der noch Ende der 80er Jahre die strikte Anti-Nato-Position der Grünen kritisch überdenken wollte, wurde Minister in der ersten rot-grünen Bundesregierung und verteidigte den Angriff auf Jugoslawien. Da heute die außerparlamentarische Bewegung gegen Militarismus und Krieg klein ist, dürfte es für die Antimilitaristen in der Linkspartei besonders schwer sein, eine Entwicklung wie bei den Grünen zu verhindern.
Der geringe Widerstand gegen Militarismus und Krieg in Deutschland wurde bereits zum Thema von Theaterprojekten wie dem gerade in den Berliner Sophiensälen laufenden Stück „Im Apparat der Kriege“. Der Regisseur ist ein Aktivist der Friedensbewegung der 1980er Jahre, der mit Verwunderung feststellt: „Seit 1999 befindet sich Deutschland wieder im Krieg – doch hier ist davon nichts zu spüren.“
Dabei ist die Erklärung gar nicht so schwer und wurde bereits vor 20 Jahren von schlauen Beobachtern der politischen Szene geliefert. Die deutsche Friedensbewegung der späten 1980er Jahre mobilisierte sich vor allem daran, dass man nicht bereit war, für die USA oder die Sowjetunion militärische Risiken einzugehen. Nun, wo die Nachkriegsordnung von Jalta der Vergangenheit angehört und Deutschland selber wieder Kriegspartei ist, sehen viele keinen Grund mehr, dagegen zu sein. Zumindest solange der Krieg weit weg ist und die Zahl der in Särgen zurückkommenden Bundeswehrsoldaten sich in Grenzen hält. Sonst würde auch die Propaganda für die familienfreundliche Bundeswehr schnell an ihre Grenzen stoßen.
Rund 20 Menschen haben am Donnerstagabend auf dem Hermannplatz gegen die Zwangsentnahme von DNA bei zwei AktivistInnen der außerparlamentarischen Linken protestiert. Eine freiwillige Speichelprobe hatten diese abgelehnt. Gegen die beiden wird wegen angeblicher Mitarbeit bei der klandestinen Zeitschrift radikal und wegen Mitgliedschaft bei den Revolutionären Aktionszellen (RAZ) ermittelt. Bundesweit ermittelt die Bundesanwaltschaft gegen neun Personen. Eine Sprecherin des „Netzwerks zur Freilassung der politischen Gefangenen“ sagte, die Beschuldigten lehnten auch künftig jede freiwillige DNA-Abnahme ab. „Unsere DNA könnt ihr uns nehmen, unseren Willen brecht ihr nicht“ stand auf dem Transparent der Kundgebung. Ein in Berlin verbreitetes Plakat ruft zu Widerstand gegen die Ermittlungsmethode auf.