Inbegriff des NS‑Terrors

Geschichte Im westpolnischen Słońsk soll ein Gedenkort an das KZ Sonnenburg erinnern
»Donnerstag, den 6. April: Abtransport über Schlesischen  Bahnhof nachSonnenburg, Nacht mit Ossietzky und Litten. Sonnabend, den 8. April: Umzug in Einzelhaft (Keller); Erdarbeit (mit Ossietzky). Sonntag, den 9. April: Verletzung des  Gebisses, des Ohres usw. Mittwoch, den 19. April:  Schwere Herzattacken durch Überanstrengungen, frühmorgens. Donnerstag, den 13. April: Anstrengungen wie gestern, Ohrenausspritzung. Sonnabend, den 22. April: Beim Arzt (Zurechtweisung wegen unnötiger Konsultation).   Montag, den 24. April: Überfall in der Zelle, Schläge. 16./17. Mai: Überfallin der Zelle.« In seinem Taschenkalender hatte Erich Mühsam sein Martyrium als Gefangener der Nazis im  Konzentrationslager Sonnenburg festgehalten. Litten, Ossietzky und Mühsam, die den Nazis
»Folterhölle Sonnenburg«
1934 wurde das KZ Sonnenburg geschlossen,  die meisten Häftlinge wurden in andere KZs verlegt. Ab 1942
wurden Gefangene aus sämtlichen von der Wehrmacht besetzten Ländern von der Straße weg nach Sonnenburg verschleppt. Über 800 dieser »Nacht- und Nebel-Gefangenen« wurden am 30. Januar 1945 von der Gestapo erschossen, kurz bevor sie von der Roten Armee befreit werden konnten. HistorikerInnen sprechen von einem der größten Massaker an Gefangenen in der Endphase des NS-Regimes. Es ist bis heute in Deutschland ebenso unbekannt wie die Geschichte des KZ Sonnenburg. Eine Arbeitsgruppe der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVNBdA) will das ändern. Die AG gehörte zu den Mitveranstaltern einer Tagung im Gemeindehaus des westpolnischen Städtchens Słońsk, wie das ehemalige Sonnenburg seit 1945 heißt. Angehörige von Verfolgten des Naziregimes, KommunalpolitikerInnen, JuristInnen und HistorikerInnen haben dort am 13. September 2013 vereinbart, dass in dem Ort ein europäischer Erinnerungsort für die deutsche Verbrechensgeschichte entstehen soll. Bei einem Rundgang durch den kleinen Ort stößt man überall auf die Spuren.  In einem grauverputzten Bau im Industriegelände am Rande des Städtchens befindet sich das das Muzeum Martyrologie, das an die Geschichte des KZ Sonnenburg erinnert. Am anderen Ende des Ortes wird auf einem Friedhof den Opfern des Massakers vom 31. Januar 1945 gedacht. Sie kamen aus sämtlichen europäischen Ländern, besonders viele jedoch aus Luxemburg, Frankreich und Belgien. An den Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag nehmen regelmäßig Delegationen aus diesen Ländern teil. Seit zwei Jahren beteiligt sich auch die Berliner VVN-BdA daran. Offizielle deutsche VertreterInnen waren bisher nie anzutreffen. Während in den letzten Jahren für die Renovierung der ehemaligen Johanniterkirche in Słońsk Spendengelder aus Deutschland flossen, gab es für die beiden Gedenkorte bisher keinen einzigen Cent. Dabei müssen viele der Exponate im Gedenkmuseum restauriert werden.  Sie wurden bei einem Wasserrohrbruch beschädigt, die nachfolgende Schimmelbildung sorgt für weitere Probleme.  Seit Jahren bemüht sich der Słońsker Bürgermeister Janusz Krzyśków um eine finanzielle Förderung der Erinnerungsarbeit.  Mit den kürzlich genehmigten EUMitteln können zumindest die Außenfassade und der Vorplatz des Museums erneuert werden. Für die Modernisierung der Innenausstattung des Museums fehlt weiterhin das Geld. Kamil Majchrzak von der VVN-AG sieht auch Institutionen in Deutschland in der Verantwortung.  Doch im ambitionierten Programm zum Erinnerungsjahr »Zerstörte Vielfalt« in Berlin wurde das KZ Sonnenburg ausgeblendet. Dabei fällt der 80. Jahrestag der Gründung in das Erinnerungsjahr, und die Gefangenen kamen fast ausnahmslos aus Berlin.  Mit Forschungslücken ist diese Ignoranz nicht zu erklären. Dazu müssten allerdings die zahlreichen Arbeiten aus Polen zur Kenntnis genommen werden.
Die Täter wurden bisher nicht belangt
Auf der Tagung würdigten mehrere RednerInnen das Engagement des 1996 verstorbenen polnischen Staatsanwalts Przemysław Mnichowski. Seiner Initiative ist es zu verdanken, dass 1974 das Gedenkmuseum in Słońsk errichtet wurde.  Er hat als Leiter der lokalen Hauptkommission zur Erforschung der deutschen Verbrechen in Polen auch den Grundstock für die wissenschaftliche Aufarbeitungder NS-Verbrechen gelegt. In mehreren Artikeln in juristischen Fachzeitschriftensetzte er sich mit den Verbrechen in Sonnenburg auseinander. Bereits 1970 legte er Karteikarten mitden Namen und kurzen biographischenAngaben von über 600 Gefangenen von Sonnenburg an. An diese Vorarbeit kann Peter Böhnevon der Berliner VVN-BdA anknüpfen, der auf der Tagung eine Datenbank mit Informationen über die Gefangenendes KZ Sonnenburg vorstellte. Vielleicht kann sie demnächst durch die Forschungsarbeiten einer kleinen Initiative ergänzt werden, die in den späten 1980er Jahren im Umfeld der Westberliner Friedensbewegung entstanden war und gemeinsam mit polnischen WissenschaftlerInnenzur Geschichte von Sonnenburg forschte. Nach 1989 wurde die gemeinsame Arbeit eingestellt, und die Unterlagen wanderten in die Schublade. In Słońsk überreichte Initiativenmitbegründer Peter Gerlinghoff die Materialen Hans Coppi von der der VVN. Bisher hatte sich niemand für die Opfer von Sonnenburg interessiert. Die Täter hingegen setzten ihre Arbeit einfach fort. Bekannte Folterer aus dem KZ Sonnenburgwie Emil Krause oder Wladislaus Tomschek gehörten in der BRD bis zu ihrer Verrentung zum Wachpersonal in Haftanstalten. Die für das Massaker verantwortlichen Gestapo-Männer Heinz Richter und Wilhelm Nickel wurden 1970 in einem Prozess vom Kieler Landgericht freigesprochen. Sollte einer der Täter noch leben, könnte er doch noch juristisch belangtwerden. Denn am Ende der Tagung kündigteder polnische Staatsanwalt Janusz Jagiełłowicz die Wiederaufnahme der seit über 30 Jahre ruhenden Ermittlungen gegen die NS-Täter an. Unter den Bedingungen einer vereinfachten staatsanwaltlichen Zusammenarbeit in der EU sieht er eine letzte Chance, die Opfer und Täter des ZuchthausesSonnenburg zu verifizieren. Ein besonderes Augenmerk legt Jagiełłowicz auf die Zurechnung der einzelnen Morde,die Übergriffe der Wachmannschaften auf die Sonnenburger Häftlinge sowie die im Zuchthaus Sonnenburg durchgeführte medizinischen  Experimente, die noch kaum erforscht sind. So könnten auch in Deutschland Justiz und Gesellschaft gezwungen werden, sich mit der Verbrechensgeschichte in Sonnenburg auseinanderzusetzen.
https://www.akweb.de/
aus: ak | Nr. 588 | 19. November 2013
Peter Nowak

Kommentare sind geschlossen.