Breiter, als man denkt

Gewichtiger Band zur Geschichte der libertären ArbeiterInnenbewegung

Am 11. November 1887 wurden vier Gewerkschaftler in Chicago hingerichtet. Sie waren in Folge einer blutig aufgelösten Demonstration am 1. Mai festgenommen worden. Eines der Opfer war August Spieß, der, bevor er auf das Schafott stieg, erklärte: „Der Tag wird kommen, da unser Schweigen mächtiger sein wird als die Stimmen, die ihr heute erdrosselt.“

Wenige Jahre nach dem Tod der Chicagoer Vier wurde der 1. Mai zum internationalen Gedenktag an dieses Ereignis und gleichzeitig zum Kampftag für den Achtstundentag erklärt. Damit wurde die Grundlage des internationalen „Arbeiterkampftags“ gelegt. Die Hingerichteten gehörten zu der broad anarchist tradition in der Arbeiterbewegung, ein Begriff, der im deutschsprachigen Raum bis heute weitgehend unbekannt ist. Jetzt hat der kleine Nautilus-Verlag das monumentale Geschichtswerk „Schwarze Flamme. Revolutionäre Klassenpolitik im Anarchismus und Syndikalismus“ herausgegeben. Verfasst wurde es von dem südafrikanischen Historiker Lucien van der Walt und dem Journalisten Michael Schmidt, die schon im Vorwort deutlich machen, dass sie ein nicht nur wissenschaftliches Interesse an der libertären Arbeiterbewegung haben. Kongenial übersetzt von den ebenfalls in syndikalistischer Theorie und Praxis bewanderten Holger Marcks und Andreas Förster hilft das Buch, den Blick auf die Geschichte der Arbeiterbewegung zu weiten. Lange Zeit beschränkte er sich weitgehend auf die sozialdemokratische und kommunistische Traditionslinie. In den letzten Jahren wurden auch dissidente kommunistische und sozialistische Strömungen der Arbeiterbewegung neu entdeckt. So wurde etwa die wichtige Rolle der Revolutionären Bleuten im Kampf gegen den ersten Weltkrieg und bei der Vorbereitung der Novemberrevolution erst vor wenigen Jahren von jungen Historikern wie Ralf Hoffrogge neu bewertet. Doch wenn es um syndikalistische und anarchosyndikalistische Traditionslinien in der Arbeiterbewegung ging, war man im deutschsprachigen Raum meist auf nur schwer zugängliche Insidertexte angewiesen. Die deutschsprachige Herausgabe der „Schwarzen Flamme“ schließt daher nun eine Wissenslücke.

In der Einleitung schreiben die Autoren: „Unsere Motivation speist sich dabei auch aus dem Anliegen aufzuzeigen, dass ein Verständnis der Rolle von Anarchismus und Syndikalismus unerlässlich ist für das Verständnis der modernen Geschichte“ (S. 18). Diesen großen Anspruch haben die beiden Autoren weitgehend eingelöst. Das Buch liefert eine Fülle von historischen Beispielen für die Aktivitäten syndikalistischer Bewegungen auf allen Kontinenten. So wird auch an die Aktivitäten anarchosyndikalistischer Arbeiterbewegungen oder -Assoziationen in Mexiko, Argentinien, Kuba, den USA und in Japan erinnert.

Kein Baukasten für Lifestylebewegung

Mit der Fokussierung auf die Klassenkämpfe will das Autorenduo nicht nur das Bild korrigieren, das große Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit vom Anarchismus haben, die diesen weitgehend auf Chaos und Gewalt reduziert. Die Autoren provozieren auch die heterogene anarchistische Szene, wenn sie in mehreren Kapiteln betonen, dass für sie nicht alles, was sich mit einem A im Kreis präsentiert, als Anarchismus bezeichnet werden kann. Sie kritisieren ein Herangehen, das den Anarchismus als einen großen Baukasten auffasst, aus dem sich jede und jeder eine individuelle Lebensphilosophie basteln kann.

Die Autoren verstehen den Anarchismus vielmehr als ein Produkt der kapitalistischen Moderne, das sich vor dem Hintergrund der industriellen Revolution in den 1860er Jahren entwickelt hat. Eine solche Verortung schließt Theoretiker wie den zu den Junghegelianern zählenden Max Stirner, aber auch religiöse Schwärmer wie Leo Tolstoi aus, die häufig zur anarchistischen Traditionslinie gezählt werden. Van der Walt und Schmidt betonen hingegen, dass es mit dem extremen Individualisten Stirner und  den an eine göttliche Offenbarung glaubenden Tolstoi keinerlei Gemeinsamkeiten gibt, sich  beide nicht als Anarchisten verstanden haben und auch nicht posthum dazu erklärt werden sollten. Damit wenden sie sich gegen eine Lesart, die den Individualismus zum Wesenskern des Anarchismus machen will.     Auch der schwärmerische Literat Gustav Landauer, der in der aktuellen Ausgabe der Direkten Aktion (DA), der Zeitung der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter Union (FAU), eine umfangreiche Würdigung erfahren hat, würde nach der Definition der Buchautoren nicht zur anarchistischen Bewegung zählen Landauer  bezog sich in seiner Philosophie auf mittelalterliche  Mystiker wie Meister Eckhart. Für die Kämpfe der Arbeiterbewegung hingegen interessierte er sich nicht.

Hierin aber sehen Van  der Walt und Schmidt ein Wesensmerkmal des Anarchismus. Er ist für die Autoren ein  Teil der Arbeiterbewegung.  In mehreren Kapiteln wird auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Syndikalisten und Anarchisten eingegangen. So gibt es anarchistische Strömungen, die den Klassenkampf und die gewerkschaftliche Organisierung anders als die Syndikalisten nicht in den Mittelpunkt stellen. Vor allem die an Aufstandskonzepten orientierten anarchistischen Strömungen kritisierten die gewerkschaftliche Arbeit oft als reformistisch und nicht geeignet, das kapitalistische System zu überwinden. Andererseits haben sich viele Syndikalisten entweder nicht als Anarchisten verstanden oder aus taktischen Gründen ihre anarchistischen Ansichten verschwiegen. Umgekehrt gab es auch in der klassenkämpferischen anarchistischen Tradition Stimmen, die sich kritisch bis ablehnend mit dem Syndikalismus befasst haben, der den Fokus auf die Gründung von Gewerkschaften richtete, die von ihren BefürworterInnen wiederum oft auch als  Mittel zur Überwindung kapitalistischer Gesellschaften gesehen wurden. Der Interpretationsmaßstab der Autoren ist klar. Für sie „liegt dem Syndikalismus die Prämisse zugrunde, dass revolutionäre Gewerkschaften die maßgeblichen und unersetzlichen Organe einer Gegenmacht von unten sind“ (S. 238).

Den Autoren gelingt es dennoch, die unterschiedlichen Ansätze, die es dazu in den letzten zwei Jahrhunderten gab, zu diskutieren und dabei die jeweiligen Argumentationslinien sachlich vorzustellen. Dabei stellt man schnell fest, dass viele Debatten in der anarchistisch-syndikalistischen Bewegung den Kontroversen ähneln, die auch in der sozialistischen und der kommunistischen Arbeiterbewegung geführt wurden. Welche Rolle spielen Nationalismus und Antisemitismus unter Lohnabhängigen, und wie sollen sie bekämpft werden? Sollen sich Frauen gemeinsam mit Männern oder separat organisieren? Kann eine Gewerkschaft aus sich heraus mehr als nur unmittelbare Tagesforderungen stellen? Schließt gewerkschaftliche Basisarbeit eine militante Politik aus? Diese und viele andere Fragestellungen sowie die Antworten, die Aktivisten und Theoretiker darauf historisch gaben, begegnen uns in den elf Kapiteln des Buches immer wieder.

Zwischen militantem Kampf und libertärem Reformismus

Ausführlich widmet sich das Buch dem bis heute andauernden Streit in der syndikalistischen Bewegung, ob sich die Gewerkschaften am institutionellen System der Arbeitsbeziehungen beteiligen, Betriebsräte gründen und das staatliche Sozialsystem unterstützen sollen. An dieser Frage spaltete sich 1979 in Spanien die anarchosyndikalistische Bewegung, die erst nach dem Ende des faschistischen Franco-Regimes wenige Jahre zuvor wieder legal arbeiten konnte. Während die CGT für eine kritische und begrenzte Beteiligung an Betriebskomitees eintritt, lehnt die CNT jede solche Betätigung als ersten Schritt zur Korrumpierung ab. Die schwedischen Anarchosyndikalisten wiederum, die in der Gewerkschaftsbewegung ihres Landes einen gewissen Einfluss hatten, beteiligen sich seit 1956 an der Verwaltung und Ausschüttung der Gelder der staatlichen Arbeitslosenversicherung an ihre Mitglieder. „Das Programm dieser Zeit ist bestenfalls eine Form des libertären Reformismus, aber kein Anarchismus und Syndikalismus“ (S. 280), so die beiden Autoren.

Sie betonen, dass es viele Überschneidungen mit der marxistischen Arbeiterbewegung gab und deren Verhältnis zu den Libertären oft durchaus freundschaftlich war. Vor allem in der Geschichte der als Wobblies bekannt gewordenen Gewerkschaft IWW werde dies deutlich. Viele syndikalistische AktivistInnen engagierten sich nach der Oktoberrevolution zumindest für einige Jahre im Umfeld der kommunistischen Arbeiterbewegung, die anfangs noch auf Räte orientierte. Auch in der frühen Sowjetunion arbeiteten AnarchistInnen in den Räteorganisationen mit, bevor diese zusehends verstaatlicht wurden. Schließlich versuchten Lenin und andere Bolschewiki der ersten Stunde, syndikalistische Strömungen für die Mitarbeit in der Roten Gewerkschaftsinternationale zu gewinnen. Solche Ansätze der gegenseitigen Anerkennung gehörten bald nach der Zerschlagung des Aufstands in Kronstadt der Vergangenheit an. Neben vielen Kommunisten waren auch Syndikalisten und Anarchisten Opfer des stalinistischen Terrors. In einem 15-seitigen Nachwort plädieren die beiden Übersetzer Holger Marcks und Andreas Förster dafür, das Buch nicht nur unter politischen, sondern auch unter wissenschaftlichen Aspekten zu diskutieren. Schließlich komme es selten vor, dass sich Anarchisten, „welche die Autoren nun einmal auch sind – mit wissenschaftlicher Substanz um Konzeptualisierungen bemühen, die nicht nur zu einer Neubewertung des Anarchismus in der Wissenschaft beitragen können, sondern auch der Bewegung einiges an die Hand geben, um zu einem Mehr an strategischer und taktischer Klarheit zu gelangen und kohärente Programmatiken entwickeln“ (S. 432). Marcks und Förster spitzen im Anschluss die Kritik am aktuellen Zustand der libertären und anarchistischen Bewegung in Deutschland zu, wenn sie die Frage stellen: “Ist das heute, wo auf Plakaten mit der Losung ’Den Anarchismus wieder zu einer Bedrohung machen’ vermummte Demonstranten und nicht etwa streikende Arbeiter zu sehen sind, noch anarchistisch?“ (S. 445). Sie machen sich für eine anarchistische Bewegung stark, die sich nicht in erster Linie auf gegen Schule und Elternhaus aufbegehrende Jugendliche stützt, und stellen die Frage: „Was aber bleibt von der anarchistischen Bewegung, wenn sie Anforderungen stellt, die über ein intuitives Aufbegehren hinausgehen?“ (S. 445). Das Buch liefert Stoff für eine kontroverse Debatte, die keineswegs nur für Libertäre interessant ist.

Lucien van der Walt / Michael Schmidt: „Schwarze Flamme – Revolutionäre Klassenpolitik im Anarchismus und Syndikalismus“, Broschur, 560 Seiten, Nautilus-Verlag Hamburg, 2013, ISBN 978-3-89401-783-5, 39,90 Euro

Peter Nowak


Erstveröffentlichungsort:
Dieser Artikel erschien zuerst in express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Ausgabe 10/2013

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