Bundeswehr baut auf im Innern

Proteste gegen Aufstellung neuer Reservistenverbände laufen schleppend an
Die Bundeswehr will in allen Landkreisen der Bundesrepublik Reservistenkommandos aufstellen. Kritiker befürchten neue Freikorps.


»›Geheimnisverrat‹ ist es nicht, aber eine gute Nachricht für die Hanse- und Garnisonstadt: Der Bundeswehrstandort Lüneburg wird demnächst Heimat für eine neue Truppe werden.« So wird in der Reservistenzeitung »Heimat mobil« unter der Überschrift »Heimatschutz wird gestärkt« die Aufstellung neuer »Regionaler Sicherungs- und Unterstützungskräfte« (RSUKr) am 1. Juli angekündigt.

Diese Maßnahme ist Teil der Umstrukturierung der Bundeswehr, die seit mehreren Jahren läuft. Seit 2007 wurden in jedem Bundesland, in jedem Regierungsbezirk und in jedem Landkreis und jeder kreisfreien Stadt sogenannte Landes-, Bezirks-, und Verbindungskommandos installiert. Die Bezirks- und Kreisverbindungskommandos werden dabei jeweils von zwölf Reservisten gebildet. In den über 400 Landkreisen der BRD stehen so über 4000 Reservisten unter dem Kommando von Reserveoffizieren.

Die Indienststellung dieser Einheit ist Ländersache. In zahlreichen Bundesländern ist sie weitgehend unbemerkt von einer kritischen Öffentlichkeit vonstatten gegangen. Doch als die RSUKr am 14. Juni in Essen aufgestellt wurden, gab es erstmals Proteste von Gewerkschaftern und Antimilitaristen. Rund 50 Menschen beteiligten sich an einer Kundgebung vor der Zeche Zollverein. In einem Aufruf, den Gewerkschafter, die Bochumer Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten und die Deutsche Friedensgesellschaft/Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen unterzeichneten, wird vor der Gefahr neuer Freikorps gewarnt. Diese Korps hatten in der Weimarer Republik Streiks und Arbeiteraufstände blutig niedergeschlagen. Der antimilitaristische Aktivist Michael Wildmoser sagte gegenüber »nd«, dass die RSU-Einheiten ein Beispiel dafür sind, wie das Verbot eines Bundeswehreinsatzes im Innern immer mehr ausgehöhlt wird. Davor warnt auch die Informationsstelle Militarisierung e.V., die in ihrer Studie »Der neue Heimatschutz der Bundeswehr« schreibt: »Die strikte Trennung von innerer und äußerer Sicherheit, Armee und Polizei wird dabei als zu überwindendes Problem angesehen. Alle Behörden, Institutionen, Organisationen und Geheimdienste, die kritische Infrastrukturen schützen können, darunter auch die Bundeswehr, sollen zur Verfügung stehen, falls es für nötig erachtet wird.«

In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag vor einigen Wochen präzisierte ein Sprecher der Bundesregierung das Interesse der Bundeswehr an den neuen Einheiten: »Es besteht das Interesse der Bundeswehr an funktionierenden und erprobten Kooperationsbeziehungen zu zivilen Stellen und mit Akteuren auf allen Ebenen.« Dabei wird gerne auf die Zusammenarbeit im Katastrophenschutz verwiesen. Vor einigen Wochen hatte sich bei der Bekämpfung des Hochwassers in Thüringen auch die neugegründete Reservistentruppe beteiligt.

In der Reservistenzeitschrift »loyal« wird allerdings klargestellt, dass sich die neuen Einheiten nicht als Katastrophenhelfer sehen: »Statt sich wie bisher in Feuerbekämpfung, ABC-Schutz oder Flugabwehr zu üben, steht für die RSUKr wieder der klassische militärische Auftrag im Mittelpunkt.«
Damit liefert sie ihren Kritikern gute Argumente. In Lübeck sei es allerdings nicht gelungen, ein Protestbündnis aufzubauen, bedauert Michael Wildmoser. Bei den weiteren Terminen für die Aufstellung der »Unterstützungskräfte« muss es nicht so ruhig blieben. Am 9. August sollen in der Potsdamer Havel-Kaserne, am 23. August im Schloss Biebrich in Wiesbaden und am 12. August in Burg in Sachsen-Anhalt neue Einheiten in Dienst gestellt werden.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/826002.bundeswehr-baut-auf-im-innern.html

Peter Nowaw

Kann die Bundeswehr auch gegen Streiks und Demonstrationen eingesetzt werden?


Die Aufstellung einer neuen Reservistengruppe sorgt für Diskussionen

„‚Geheimnisverrat‘ ist es nicht, aber eine gute Nachricht für die Hanse- und Garnisonsstadt: Der Bundeswehrstandort Lüneburg wird demnächst Heimat für eine neue Truppe werden.“ So wird in der Reservistenzeitung „Heimat mobil“ unter der Überschrift „Heimatschutz wird gestärkt“ die Aufstellung neuer Rekruten am 1. Juli angekündigt.

Sie nennen sich Regionale Unterstützungs- und Sicherungskräfte (RSU Kr) und sind Teil der Umstrukturierung der Bundeswehr, die bereits seit mehreren Jahren im Gange ist. Seit 2007 wurden in jedem Bundesland, in jedem Regierungsbezirk und in jedem Landkreis und jeder kreisfreien Stadt sogenannte Landes-, Bezirks-, und Verbindungskommandos installiert. Die Bezirks- und Kreisverbindungskommandos werden dabei jeweils durch 12 Reservisten gebildet. In den über 400 Landkreisen der BRD stehen damit über 4.000 Reservisten unter dem Kommando von Reserveoffizieren.

„Neben der Rolle der Reserve für die Personalergänzung und -verstärkung sowie ihrer Mittlerfunktion für die Bundeswehr in der Gesellschaft wird der Heimatschutz als wesentliche Aufgabe der Reserve gestärkt. Neu aufzustellende regionale Sicherungs- und Unterstützungskräfte bieten allen interessierten und geeigneten Reservisten Chancen des Engagements. Diese Kräfte schließen damit eine Lücke der bisherigen Konzeption für die Reservisten und Reservistinnen der Bundeswehr“, heißt es dazu auf der Homepage der Bundeswehr.

Die Informationsstelle Militarisierung e.V. warnt in einer Studie mit dem Titel „Der neue Heimatschutz der Bundeswehr“ vor der Aushöhlung des Verbots, die Bundeswehr im Innern einzusetzen. Diese Tendenz würde durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom letzten Jahr vorangetrieben (vgl. Bewaffneter Bundeswehreinsatz im Inneren erlaubt). In der Studie heißt es:

„Die strikte Trennung von innerer und äußerer Sicherheit, Armee und Polizei wird dabei als zu überwindendes Problem angesehen. Alle Behörden, Institutionen, Organisationen und Geheimdienste, die kritische Infrastrukturen schützen können, darunter auch die Bundeswehr, sollen zur Verfügung stehen, falls es für nötig erachtet wird.“

Einsatz gegen Streiks nicht ausgeschlossen

Schon in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion präzisierte ein Sprecher der Bundesregierung 2009 das Interesse der Bundeswehr an den neuen Einheiten: „Es besteht das Interesse der Bundeswehr an funktionierenden und erprobten Kooperationsbeziehungen zu zivilen Stellen und mit Akteuren auf allen Ebenen.“ Dabei wurde ein Einsatz der neuen Einheiten bei der Unterdrückung von Streiks im Transport- und Sanitätssektor ausdrücklich nicht ausgeschlossen. In der Antwort auf die entsprechende Frage hat die Bundesregierung ausgeführt:

„Die Prüfung der Voraussetzungen für eine Unterstützung der Bundeswehr im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben ist dem jeweiligen konkreten Einzelfall vorbehalten.“

Damit liefern sie ihren Kritikern Argumente. Mittlerweile hat sich eine neuere antimilitaristische Bewegung etabliert, die sich besonders der Militarisierung im Alltagsleben widmet. Unter dem Motto „Bundeswehr wegtreten aus dem Jobcentern“ protestiert sie dagegen, dass jungen Erwerbslosen in Veranstaltungen auf Arbeitsämtern die Bundeswehr als Jobalternative nahegebracht wird.

Vom 21. bis 29. Juli ist eine Aktionswoche gegen das Gefechtsübungszentrum in der Altmark bei Magdeburg geplant. Auf dem 230 Quadratkilometer großen Truppenübungsplatz wird auch der Einsatz in Dörfern und Städten geprobt, die in der Heide nachgebaut wurden. In diesem Kontext steht auch die Kritik an der Aufstellung der RSU-Kr (Regionale Sicherungs- und Unterstützungskräfte).

Die Indienststellung dieser Reservisten ist Ländersache. In zahlreichen Bundesländern ist sie weitgehend unbemerkt von einer kritischen Öffentlichkeit vonstatten gegangen. Doch als die RSU-Kr am 14. Juni in Essen aufgestellt wurde, gab es erstmals Proteste von Gewerkschaftern und Antimilitaristen. Rund 50 Menschen beteiligten sich an einer Kundgebung vor der Zeche Zollverein.

In einem Aufruf wird vor der Aufstellung neuer Freikorps gewarnt, die in der Weimarer Republik Streiks und Arbeiteraufstände blutig niederschlugen. Der antimilitaristische Aktivist Michael Wildmoser erklärt gegenüber Telepolis, dass die RSU-Einheiten ein Beispiel sind, wie das Verbot eines Bundeswehreinsatzes im Innern ausgehöhlt wird. Auch die weiteren Termine werden von Protesten begleitet sein, kündigte er an.

Am 9. August sollen neuen Einheiten in der Havel-Kaserne in Potsdam, am 23. August im Schloss Biebrich in Wiesbaden, am 12 August in Burg in Sachsen-Anhalt, Anfang Oktober in Berlin und am 16. November in Dresden aufgestellt werden.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154541
Peter Nowak

„Wir verlangen, dass die Taliban die Verfassung nicht in Frage stellen“

Daud Rawosh (Volkspartei): Soziale Gerechtigkeit und der Kampf gegen ethnische Zersplitterung sind zentrale Ziele **

Es gibt Streit zwischen den USA und der afghanischen Regierung wegen der Verhandlungen mit den Taliban. Wie stehen Sie als Vorsitzender einer linken afghanischen Partei dazu?

Wir halten Gespräche mit den Taliban nur unter ganz klaren Bedingungen für sinnvoll. Dazu gehört die Respektierung der afghanischen Verfassung, was die Rechte der Frauen einschließt. Zudem müssen sie den bewaffneten Kampf aufgeben.

Befürchten Sie nach dem Abzug der NATO-Truppen einen Machtzuwachs der Taliban?

Die ausländischen Truppen ziehen nicht vollständig ab. Zudem ist mittlerweile auch eine afghanische Sicherheitsstruktur entstanden, die eine Machtübernahme der Taliban verhindern könnte. Aber selbst auf dieses schlimmste Szenario ist unsere Partei vorbereitet. Schließlich konnten wir selbst unter der Taliban-Herrschaft bis 2001 illegale Strukturen aufrechterhalten.

Wie steht Ihre Partei zur Militärintervention von 2001?

Wir sind prinzipiell gegen jede Besatzung. Doch 2001 gab es für uns nur die Alternative, weiter unter dem besonders reaktionären, mittelalterlichen Taliban-Regime zu leben oder es durch die Intervention loszuwerden. Zudem darf nicht übersehen werden, dass in dieser Zeit Afghanistan zum Aufmarschgebiet von Al Qaida und anderen islamistischen Gruppen geworden war. Deshalb lehnen wir nicht die Intervention ab. Wir protestieren aber gegen jegliche Menschenrechtsverletzungen durch die NATO-Truppen in unserem Land.

Afghanische Frauenorganisationen sehen nicht nur in den Taliban, sondern auch in den Warlords ein Problem.

Wir teilen diese Einschätzung völlig. Der Einfluss islamistischer Herrscher ist ein großes Hindernis bei der Durchsetzung von Demokratie und Frauenrechten.

Könnte durch die Verhandlungen mit den Taliban nicht das Gewicht dieser reaktionären Gruppierungen wachsen?

Die in der Verfassung garantierten Rechte dürfen weder durch die Taliban noch durch andere Gruppierungen infrage gestellt werden.

Wie sehen Sie die Rolle von Präsident Hamid Karsai?

Es ist bekannt, dass Karsai einem korrupten politischen System vorsteht, das in Drogenhandel verstrickt ist. Daher sind wir erklärte Gegner von Karsai. Das schließt allerdings nicht aus, dass wir einzelne Maßnahmen von Karsai unterstützen, wenn sie zur Stärkung der demokratischen Rechte beitragen.

Wie ist die von Ihnen repräsentierte Partei entstanden?

Sie ging voriges Jahr aus »Bewegungen für Demokratie« hervor, die in Afghanistan aktiv waren. Die Partei sieht sich in der historischen Tradition der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA), die 1978 führend an der Aprilrevolution beteiligt war. Dennoch sind wir eine völlig neue Partei, die unter den aktuellen Bedingungen und auf dem Boden der afghanischen Verfassung agiert.

Wie groß ist der Zuspruch bisher?

Viele Aktivisten der DVPA sind auch in der neuen Partei aktiv. Mittlerweile ist sie in 24 der 34 Provinzen vertreten. Ein Schwerpunkt der Partei ist die Arbeit in Gewerkschaften und Frauenorganisationen. Auch der Vorsitzende des afghanischen Handwerksverbandes ist Mitglied unsere Partei.

Welche zentralen Ziele verfolgt Ihre Partei?

Wir kämpfen um soziale Gerechtigkeit und lehnen die ethnische Spaltung ab. Die meisten Parteien in Afghanistan sind nur in einer bestimmten Ethnie verankert, was zur Zersplitterung des Landes führt. Wir hingegen haben eine gesamtgesellschaftliche Perspektive und kämpfen für egalitäre Verhältnisse.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 21. Juni 2013
https://www.neues-deutschland.de/artikel/825090.wir-verlangen-dass-die-taliban-die-verfassung-nicht-in-frage-stellen.html

Interview: Peter Nowak

Auch die Böll-Stiftung leiht sich Arbeit

Die kleine Gewerkschaft FAU kämpft für Festanstellung aller Beschäftigten

»Es tut gut, sich zu wehren und Forderungen zu stellen«, sagte Michael Rocher unter Applaus bei einer Kundgebung am Donnerstagabend vor der Bundeszentrale der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin-Mitte. Er gehört zu den 20 Beschäftigten, die in der Vergangenheit mehrmals von der Leiharbeitsfirma Xenon an die Parteistiftung der Grünen für den Auf- und Abbau von Konferenzen vermittelt wurden.
»Als Festangestellter würde ich 10,58 Euro Stundenlohn bekommen, als Leiharbeiter nur acht Euro«, rechnet er gegenüber »nd« die Lohndifferenz vor. Die will er nicht mehr hinnehmen. Nachdem er von der Kampagne »Leiharbeit abschaffen« der Basisgewerkschaft Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU) erfahren hatte, wandte er sich an diese Organisation und reichte beim Arbeitsgericht Klage auf eine Festanstellung ein. Nachdem die FAU Gespräche mit der Geschäftsführung der Stiftung führte, kam es in der letzten Woche zum Eklat: Zwei FAU-Mitglieder bekamen Hausverbot, als sie an einer Mitarbeiterversammlung teilnehmen wollten, auf der über die prekären Arbeitsverhältnisse gesprochen wurde. Mit der Kundgebung am Donnerstag begann die FAU die Kampagne für die Abschaffung der Leiharbeit bei der Stiftung. Rund 50 Menschen kamen. Ihre Sprechchöre waren auch im Garten der Stiftung zu hören, wo im Rahmen einer Veranstaltung zu Repressionen in Osteuropa ein Theaterstück gezeigt wurde.

Rocher ist besonders sauer, weil er und seine Kollegen ab August nicht mehr bei der Stiftung arbeiten sollen. »Wir fühlen uns wie alte Möbelstücke, die nun ersetzt werden.« Ramona Simon, Sprecherin der Heinrich-Böll-Stiftung, bestätigte, dass seit drei Jahren Dienstleistungen wie Konferenzassistenz und Konferenzumbauten zur Vergabe an einen externen Dienstleister ausgeschrieben werden. Xenon habe den Zuschlag erhalten. Die Kündigung der Beschäftigten habe nichts mit ihrer Kritik an den Arbeitsverhältnissen zu tun: »Der Vertrag mit der Firma Xenon läuft regulär Ende Juli diesen Jahres aus. Die Dienstleistung wird erneut ausgeschrieben. Es handelt sich also nicht um eine personenbezogene Entscheidung.«

Der Zugang zur Mitarbeiterversammlung sei der FAU verwehrt worden, weil sie nur für Beschäftigte bestimmt gewesen sei. »Unbenommen blieb es der Gewerkschaft, in der Stiftung außerhalb der Betriebsversammlung über ihre Position zu informieren. Zudem wurde seitens der Geschäftsführung ein Angebot für ein Gespräch unterbreitet, welches auch stattfand«, betont Simon.

Einen Widerspruch zu Positionen der Grünen sieht sie nicht. »Wir achten darauf, dass diese Firmen ihre Mitarbeiterinnen anständig behandeln und sie nach Tarif bezahlen, soweit es einen gibt.« Livia Cotti, Geschäftsführerin der Stiftung, verweist zudem auf das Zugabe- und Vergaberecht: »Danach müssen alle Dienstleistungen ausgeschrieben werden, und es gilt stets, das wirtschaftlichste Angebot anzunehmen.«

Dieses Argument lässt Stefan Kuhnt, Pressereferent der FAU, mit Verweis auf die Praxis der Rosa-Luxemburg-Stiftung nicht gelten: »Da werden die geforderten Standards bei vergleichbarer Arbeit in einer öffentlich geförderten politischen Stiftung erfüllt.« Die FAU peilt eine Fortsetzung der Kampagne für eine Festanstellung aller Beschäftigten an.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/825930.auch-die-boell-stiftung-leiht-sich-arbeit.html
Peter Nowak

Radeln gegen AKW?

Ingo Falk ist Mitglied der Anti-Atom-Gruppe Freiburg

nd: Jährlich protestieren Atomkraftgegner in der Region um das an der Grenze zu Deutschland gelegene, französische AKW Fessenheim. Am Wochenende führt die Fahrraddemonstration »Tour de Fessenheim 2013« von Mulhouse nach Colmar. Was ist geplant?
falk: Bereits im vergangenen Jahr haben wir auf etliche Projekte der erneuerbaren Energien in der Region aufmerksam gemacht. Diesmal steht die Besichtigung der neuen Photovoltaikanlage in Staffelfelden auf 5,5 Hektar Fläche mit einer installierten Leistung von 5,3 Megawatt auf unserem Programm. Im Département Aude in der Gegend um Narbonne und Carcasonne wird schon heute mit Wind- und Solarenergie mehr als 50 Prozent des Stroms erzeugt. Nur in den Mainstreammedien in Deutschland ist immer noch die Rede von der »Atomstromnation Frank-reich«.

Lässt das Interesse am Protest nicht nach, da viele im Elsass meinen, das AKW Fessenheim werde in wenigen Jahren stillgelegt?
Zum einen wollen wir dieser trügerischen Hoffnung etwas entgegensetzen, zum anderen zeigen uns die Anmeldungen, dass gerade die Zahl der französischen Teilnehmer in diesem Jahr höher liegen wird als bei der »Tour de Fessenheim 2012«.

Welche Risiken sehen Sie durch den Betrieb dieses AKWs?
Das Rheintal ist eine geologische Bruchzone und daher Erdbebengebiet. Im Jahr 1356 wurde die rund 35 Kilometer von Fessenheim entfernte Schweizer Stadt Basel durch ein Erdbeben zerstört. Es handelte sich um das stärkste überlieferte Erdbeben in Mitteleuropa. Im Juni 2011 bestätigte ein Gutachten, dass das am Rheinseitenkanal gelegene Atomkraftwerk nicht ausreichend gegen die Folgen eines Dammbruchs gesichert ist. Laut einer TV-Dokumentation auf »France 2« hielt der Betreiberkonzern einen internen Bericht zurück, in dem katastrophale Untersuchungsergebnisse über den Zustand des Rheinseitenkanals zu lesen sind. Ein solcher Dammbruch kann durch ein Erdbeben ausgelöst werden.

Wenn es so gefährlich ist, wie Sie darstellen, warum bleibt das AKW am Netz?

Pro Jahr wirft ein Reaktorblock durchschnittlich 300 Millionen Euro an Profit ab. Bei den zwei Reaktorblöcken des AKW Fessenheim sind dies also rund 600 Millionen. Solange teure Nachrüstungen oder pannenbedingte Stillstandszeiten diesen Profit nicht minimieren, bleibt ein enormes ökonomisches Interesse am Weiterbetrieb. Bekanntlich unterstützt auch die kommunistische Gewerkschaft CGT den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke in Frankreich. Es ist bekannt, dass sich diese Gewerkschaft maßgeblich über Zuwendungen von Konzernen und insbesondere des französischen Stromkonzerns EdF finanziert.

Frankreich bleibt Atommacht?
Wir müssen sehen, dass die politische Kaste in Frankreich unbeirrt an der atomaren Bewaffnung, der »force de frappe«, festhält. Atomkraftwerk und Atombombe sind siamesische Zwillinge. Ohne eine Abkehr von der Atombombe ist daher das Versprechen von Präsident François Hollande, einen Atomausstieg in Frankreich einzuleiten, wenig glaubwürdig. Zumal wenn in Mali ein Krieg geführt wird, der der Sicherung von Uranminen im benachbarten Niger dient, und wenn weiterhin Milliarden Euro staatlicher Gelder in die Förderung der Atomenergie fließen.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/825974.radeln-gegen-akw.html
Interview: Peter Nowak

„Ein Unfall im AKW Fessenheim könnte gravierendere Auswirkungen haben als das Desaster in Japan“


„Tour de Fessenheim“: Atomkraft-Gegner protestieren gegen das an der deutsch-französischen Grenze gelegene AKW

Am kommenden Wochenende findet die Tour de Fessenheim 2013 statt – in diesem Jahr auf der Strecke von Mulhouse nach Colmar. Nach wie vor gilt die Fahrrad-Demonstration dem Protest gegen das an der deutsch-französischen Grenze gelegene AKW Fessenheim. Frankreichs neuer Präsident François Hollande hat zwar versprochen, das mit rund 36 Jahren älteste französische Atomkraftwerk gegen Ende seiner vierjährigen Amtszeit stillzulegen, doch die Atomkraft-Gegner dies- und jenseits des Rheins haben da ihre Zweifel und drängen auf eine sofortige Stilllegung. Außerdem stehen bei der diesjährigen Tour de Fessenheim die erneuerbaren Energien im Zentrum.

Die Tour de Fessenheim stellt gleich in dreierlei Hinsicht zu schnelle Urteile über die Anti-AKW-Bewegung infrage. Da gibt es die in den Medien immer wieder verwendete Behauptung, dass mit dem langsamen Ausstiegsbeschluss aus der Atomkraft auch die Anti-AKW-Bewegung ihre Funktion verloren habe, und es jetzt nur noch darum gehe, einen Platz für den atomaren Müll zu finden. Eine zweite Behauptung in vielen deutschen Medien besagt, dass die Bevölkerung in Frankreich mehrheitlich gegenüber AKW-kritischen Bestrebungen resistent sei.

Schließlich wird immer wieder behauptet, dass ein Desaster wie in Fukoshima in Europa nicht möglich wäre. Die Proteste gegen das AKW Fessenheim haben in den letzten zwei Jahren nach den Gau in Japan neuen Zulauf bekommen, die Kooperation mit französischen Mitstreitern wurde ausgebaut. Ein Unfall in Fessenheim könnte gravierendere Auswirkungen haben, als das Desaster in Japan, meint Ingo Falk vom Organisationsteam der Tour de Fessenheim im Gespräch mit Telepolis.

„Ein AKW in einem mitteleuropäischen Erdbebengebiet ist unverantwortlich“

Lässt das Interesse am Protest nicht nach, wenn nun viele im Elsass meinen, das AKW Fessenheim werde in wenigen Jahren stillgelegt?

Ingo Falk: Zum einen wollen wir dieser trügerischen Hoffnung etwas entgegensetzen, zum anderen zeigt uns die Zahl der Anmeldungen, dass gerade die Zahl der französischen Teilnehmer in diesem Jahr sicher höher liegen wird als im vergangenen Jahr.

Welche Risiken sehen Sie für das AKW-Fessenheim?

Ingo Falk: Das Rheintal ist eine geologische Bruchzone und daher Erdbebengebiet. Im Jahr 1356 wurde die von Fessenheim rund 35 Kilometer entfernte Schweizer Stadt Basel durch ein Erdbeben zerstört. Es handelte sich um das stärkste überlieferte Erdbeben in Mitteleuropa. Im Juni 2011 wurde durch ein Gutachten bestätigt, dass das am Rheinseitenkanal gelegene Atomkraftwerk nicht ausreichend gegen die Folgen eines Dammbruchs gesichert ist.

Laut einer TV-Dokumentation auf France 2 hielt der Betreiber-Konzern einen internen Bericht zurück, in dem katastrophale Untersuchungsergebnisse über den Zustand des Rheinseitenkanals zu lesen sind. Und auch ein solcher Dammbruch kann durch ein Erdbeben ausgelöst werden.

Wären die Folgen eines Super-GAU im AKW Fessenheim mit jenen in Japan vergleichbar?

Ingo Falk: Sie könnten weitaus verheerender ausfallen. In der Region um Fukushima hatten die Menschen noch Glück im Unglück, denn es wehte meist ein Wind in Richtung Meer, der dafür sorgte, dass die Todeszone auf einen Radius von 30 bis 40 Kilometer beschränkt blieb. Bei einem Super-GAU im AKW Fessenheim würde bei den vorherrschenden Windverhältnissen nicht nur die Region um das nur 24 Kilometer entfernte Freiburg unbewohnbar, sondern selbst Stuttgart, Schwäbisch Hall und Nürnberg könnten für Jahrzehnte unbewohnbar werden.

Das AKW Fessenheim enthält ein radioaktives Inventar, das 1.760 Hiroshima-Bomben entspricht. Im Februar erklärte Jean-Louis Basdevant, hochrangiger französischer Kernphysiker und Professor an der polytechnischen Hochschule, dass ein schwerer Unfall im AKW Fessenheim eine dramatische Katastrophe für ganz Europa wäre, die – so wörtlich – das Leben der zentraleuropäischen Region bis nach Rotterdam für mehr als 300 Jahre vernichten würde. Er erinnerte daran, dass sich das AKW an der Basis des Rheintals zwischen Basel und Rotterdam befindet, dem am dichtesten besiedelten Gebiet Europas mit einer hohen Konzentration von Industrieanlagen – und dass Fessenheim an der Basis des Oberrhein-Aquifers, einem der größten Trinkwasservorkommen Europas liegt.

Wenn es so gefährlich ist, wie Sie darstellen, warum bleibt das AKW dennoch am Netz?

Ingo Falk: In einem Jahr wirft ein Reaktorblock durchschnittlich 300 Millionen Euro an Profit ab. Bei den zwei Reaktorblöcken des AKW Fessenheim sind dies also insgesamt rund 600 Millionen Euro im Jahr. Solange teure Nachrüstungen oder pannenbedingte Stillstandszeiten diesen Profit nicht minimieren, bleibt ein enormes ökonomisches Interesse am Weiterbetrieb.

Bekanntlich unterstützt auch die französische kommunistische Gewerkschaft CGT den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke. Es ist bekannt, dass sich diese Gewerkschaft maßgeblich über Zuwendungen von Konzernen und insbesondere des französischen Strom-Konzerns EDF finanziert. Zudem müssen wir sehen, dass die politische Kaste in Frankreich unbeirrt an der atomaren Bewaffnung, der „force de frappe“, festhält.

Atomkraftwerk und Atombombe sind siamesische Zwillinge. Ohne eine Abkehr von der Atombombe ist daher das Versprechen Hollandes, einen Atomausstieg in Frankreich einzuleiten, wenig glaubwürdig – zumal wenn ein Krieg geführt wird wie in Mali, der der Sicherung von Uranminen im benachbarten Niger dient, und wenn weiterhin Milliarden Euro staatlicher Gelder in die Förderung der Atomenergie fließen.
http://www.heise.de/tp/blogs/2/154529
Peter Nowak

Die Frage nach der Herkunft

Nach einem Messerangriff auf einen Bewohner des Flüchtlingscamps am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg interessieren sich die Medien vor allem für die Herkunft des Täters.

»Windpocken im Marie-Schlei-Haus«, lautete die Überschrift eines anonymen Flugblattes, das Mitte Juni im Bezirk Reinickendorf auf Straßenlaternen prangte und sich gegen eine dort errichtete Unterkunft von Flüchtlingen richtete. Ein paar Kinder im Flüchtlingsheim waren an Windpocken erkrankt. »Erwachsene und Kinder gehen in der Umgebung herum und können andere Leute anstecken. Was kommt demnächst? Masern, TBC, Cholera?« heißt es im Pamphlet. Mittlerweile hat die Arbeiterwohlfahrt, die die Unterkunft betreibt, Strafanzeige gegen Unbekannt erstattet. »So ein plumper Rassismus ist mir in meiner langjährigen Tätigkeit noch nicht begegnet«, sagte AWO-Mitarbeiterin Snezana Hummel im Gespräch mit der Taz. Große Teile der Nachbarschaft hatten sich vehement gegen die Einrichtung der Flüchtlingsunterkunft gewehrt und dabei mit rassistischen Tönen nicht gespart.

Nachdem sie die Eröffnung des Heims nicht verhindern konnten, betätigten sich einige Anwohner als Blockwarte und schickten der AWO Protokolle zu, in denen minutiös aufgelistet wird, wann sich die Kinder der Flüchtlinge auf dem nahegelegenen öffentlichen Spielplatz aufhielten. Ob die meist der gehobenen Mittelschicht angehörenden Anwohner einen bayerischen, schwäbischen oder hessischen Migrationshintergrund haben, oder ob sogar einige autochthone Berliner darunter sind, hat niemand ermittelt, in der Berichterstattung ist das kein Thema.

Die Frage der Herkunft spielte aber sehr wohl eine Rolle, nachdem es am 16. Juni auf dem Gelände des Refugee-Camp auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg zu einer Auseinandersetzung zwischen einigen Nachbarn und Bewohnern des Camps gekommen war. Auslöser war der Messerangriff eines Anwohners auf einen sudanesischen Campbewohner. »Ich sah, wie sich ein Mann, der einen Kinderwagen schob, zur Mitte des Platzes bewegte, plötzlich aber einige Schritte zurückging und den Sudanesen angriff. Ich habe den Mann am Tag darauf im Krankenhaus besucht. Er versicherte, es habe zuvor keinen Wortwechsel gegeben. Bevor ihn der Messerstich traf, habe er nur das Wort ›Scheißneger‹ gehört«, schilderte die Augenzeugin Claudia Feliziani den Tat­hergang. Kurz nach dem Vorfall versammelten sich einige jüngere Männer um das Camp und bedrohten die Bewohner. In einer Pressemitteilung der Flüchtlinge heißt es: »Es kam im Verlauf der Vorfälle zu rassistischen Provokationen von umstehenden Passanten, die ihren Beifall für den gelungenen Messerangriff ausdrückten oder gar mehr solcher Attacken forderten. Es kam auch zu tätlichen Übergriffen unter den Augen der Polizei, die nicht gegen die Aggressoren einschritt.« Die Polizei hatte neun Flüchtlinge vorübergehend festgenommen.

In einer längeren Erklärung der Campbewohner werden die Reaktionen von Polizei und Medien auf die Messerattacke kritisiert. »Es existieren viele Gerüchte, Vermutungen bzw. Spekulationen zu diesen Vorfällen. Wir als direkt Betroffene wurden dabei nur selten nach konkreten Abläufen und Fakten sowie Hintergründen und Zusammenhängen befragt«, monieren die Aktivisten. So hätten viele Medien aus einer Stellungnahme der Polizei abgeschrieben, das Opfer habe nur leichte Verletzungen davongetragen und sei schon am nächsten Tag aus dem Krankenhaus entlassen worden. Die Polizei musste die Darstellung später korrigieren. Es handelte sich um einen tiefen Messerstich, das Opfer befindet sich noch auf der Intensivstation.

In ihrer Erklärung wenden sich die Campbewohner »gegen jeden Versuch einer pauschalen negativen Zuschreibung, die mit Bezug auf eine vermeintliche Herkunft, Religion, Lebensweise oder den sozialen Status direkt oder indirekt ganze Bevölkerungsgruppen stigmatisieren, kriminalisieren und ausgrenzen soll«. Während in den Erklärungen der Campbewohner und ihrer Unterstützer zu den Angriffen dieser Grundsatz eingehalten wurde, war in einem Großteil der Medien sofort von einer Auseinandersetzung zwischen türkischen Migranten und den Flüchtlingen die Rede. Dabei wird oft die rassistische Gewalt gegen die Campbewohner ausgeblendet. Stattdessen werden beide Gruppen ethnisiert. Es würde wohl kaum jemand von einem Mann mit schwäbischen oder hessischen Wurzeln sprechen. Aber Menschen, die in der Türkei oder in einem anderen nichtdeutschen Land geboren sind, bleiben nach dieser Lesart bis zum Lebensende Fremde. Ihr Handeln wird dann oftmals mit der vermeintlichen Kultur in deren Herkunftsländern zu erklären versucht, auch wenn sie dort nie gelebt haben. Damit wird die Verantwortung der deutschen Gesellschaft für Rassismus und Ausgrenzung geleugnet.

Gerüchte wurden nach den Angriffen auf die Campbewohner allerdings auch auf linken Internetseiten verbreitet. Dazu gehört die nicht bestätigte Behauptung, dass die ultranationalistischen türkischen Grauen Wölfe dafür verantwortlich sein sollen. Linke türkische und kurdische Vereine weisen seit langem darauf hin, dass auch in Kreuzberg Anhänger diverser rechter türkischer Organisationen leben. Aber auch hier ist der Anteil der Unorganisierten mit einem rechten Weltbild groß. Sie könnten sich auch an der Forderung des Berliner CDU-Politikers Kurt Wansner orientieren, der seit Monaten für eine Räumung des Camps am Oranienplatzes plädiert. Nach den Angriffen hat er gemeinsam mit dem als Anwohner vorgestellten Sirket Birenci unter den Augen eines Reporters der BZ eine Unterschriftenkampagne gegen das Flüchtlingscamp unter dem Motto »Wir wollen unseren Platz zurück« initiiert. Auch in der Taz wurde bereits vor Monaten in einem Kommentar moniert, dass durch das Camp öffentlicher Raum zweckentfremdet werde. Da muss auch nicht verwundert, dass in der Zeitung ein mit »Frau Müller-Üzgül« unterschriebener Leserbrief abgedruckt war, der den rassistischen Angriff relativiert. »Die Schuldfrage ist aus meiner Sicht müßig, aber der Zustand ist für Anwohner egal welcher Nation oder Herkunft nicht zumutbar. Der Konflikt ist durch eine Dauerdemonstration dieser Art vorprogrammiert und wird in Kauf genommen.«

Dass die Opfer rassistischer Gewalt zu Tätern gemacht werden, ist in Deutschland nichts Neues. Dass solche Äußerungen auch von Menschen kommen, deren Nachnamen nicht Müller oder Schulz lauten, kann nur jene überraschen, die immer noch vom Leitbild einer ethnisch reinen deutschen Gesellschaft oder vom romantisierten Bild einer multikulturellen Gesellschaft ausgehen. Vor mehr als 20 Jahren wurden die Bewohner der von einem deutschen Mob angegriffenen Flüchtlingseinrichtungen von Politik und Medien als das eigentliche Problem hingestellt. Die Refugees aber lassen sich nicht zu Opfern machen. Am Wochenende haben etwa 100 Flüchtlinge in München im Anschluss an eine »Non Citizen«-Demonstration auf einen zentralen Platz ein Camp errichtet und einen Hungerstreik für gleiche Rechte begonnen.

http://jungle-world.com/artikel/2013/26/47977.html
Peter Nowak

Die Grünen in der Verantwortung

Protest gegen Zeitarbeit
Anarcho-Gewerkschaft protestiert vor der Böll-Stiftung der Grünen gegen prekäre Arbeitsverhältnisse dort im Haus: Zeitarbeit verstoße gegen Parteiprinzipien.

Zur Sozialpolitik und prekären Arbeitsverhältnissen in Deutschland gab es in den letzten Jahren häufiger Vorträge und Seminare in den Räumen der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Heute am Donnerstag aber wird die Thematik im wahrsten Sinne vor der Haustür der Stiftung verhandelt. Die Basisgewerkschaft „Freie ArbeiterInnen Union“ (FAU) will ab 18.30 Uhr unter dem Motto „Leiharbeit abschaffen“ in der Schumannstraße 8 vor der Stiftung gegen prekäre Arbeitsverhältnisse dort protestieren.

Die Böll-Stiftung beschäftige seit Jahren MitarbeiterInnen über Outsourcing-Firmen zu prekären Arbeitsverhältnissen, kritisiert die FAU. Einer der Betroffenen ist Michael Rocher. Er arbeitet bei der Zeitarbeitsfirma Xenon und hat bei der Böll-Stiftung Aufarbeiten für Kongresse und das Catering übernommen. „Als Festangestellter würde ich 10,58 Euro Stundenlohn bekommen, als Leiharbeiter nur 8 Euro“, rechnet er gegenüber der taz die Differenz vor. Diese Situation gelte für knapp 20 Beschäftigte, so Rocher.

Nach dem Erhalt von Informationen über die FAU-Kampagne gegen Leiharbeit sei man aktiv geworden und habe eine Klage auf Festanstellung beim Arbeitsgericht eingereicht. Nach Gesprächen mit der Geschäftsleitung der Böll-Stiftung hätten in der vergangenen Woche zwei FAU-Mitglieder, die an einer Betriebsversammlung zu den prekären Arbeitsverhältnissen teilnehmen wollten, von der Geschäftsleitung Hausverbot bekommen. „Wir sehen auch die Grünen in der Verantwortung, da die Stiftung mit ihrer Praxis die Mindestlohnforderungen und Positionen zur Leiharbeit der Partei lächerlich aussehen lässt. Die FAU Berlin hat in den letzten Jahren deutlich gemacht, dass sie nicht konfliktscheu ist“, erklärte der FAU-Pressesekretär Stefan Kuhnt gegenüber der taz.

Anständig behandeln

Die Pressereferentin der Böll-Stiftung, Ramona Simon, bestätigte, dass Dienstleistungen im Bereich der Konferenzassistenz, der Medientechnik und des Empfangs seit drei Jahren von der Firma Xenon Service GmbH getätigt worden seien. Der Vertrag laufe zum 31. Juli aus. Danach werde die Dienstleistung erneut ausgeschrieben.

Weil Betriebsversammlungen dem MitarbeiterInnen vorbehalten seien, habe man die FAU-VertreterInnen nicht eingeladen. Mit den Forderungen der Grünen würden die Arbeitsbedingungen bei der Stiftung nicht kollidieren. „Wir achten dabei darauf, dass diese Firmen ihre MitarbeiterInnen anständig behandeln und, soweit es Tarife gibt, sie danach bezahlen“, betonte Simon.

http://www.taz.de/Protest-gegen-Zeitarbeit/!118843/

Peter Nowak

EU-Türkei: Demokratie und Menschenrechte nur „kosmetisches Beiwerk“


Die EU-Beitrittsverhandlungen sind für den Herbst anberaumt; die Fraktion, die für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei eintritt, wird stärker.

„Der Zug Richtung EU nimmt Fahrt auf“, kommentierte der türkische Außenminister die aktuelle Terminierung der EU-Beitrittsverhandlungen für kommenden Herbst. Im Oktober sollen die Gespräche aufgenommen werden. Damit können beide Seiten leben. Die EU war wegen der Polizeirepression nach den jüngsten Protesten in der Türkei von verschiedenen Seiten gedrängt werden, die Gespräche zu verschieben. Denn ein sofortiger Verhandlungsbeginn hätte so ausgesehen, als würde die türkische Regierung für ihr Verhalten belohnt.

Doch in dieser Frage haben sich unterschiedliche Interessen vermengt. Konservative Unionspolitiker, die die islamische Türkei nicht in der EU haben wollen, entdeckten plötzlich ihr Herz für türkische Protestierer, denen sie in Deutschland ebenfalls mit Polizeigewalt begegnen würden. Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen hingegen, sah auch in den verschobenen Verhandlungsbeginn einen Sieg für Erdogan und einen schlechten Tag für die türkische Protestbewegung:

„Der ‚Kompromiss‘ der EU-Außenminister entfaltet keinerlei Druck auf die Regierung Erdogan, der die schreckliche Menschenrechtslage in der Türkei verbessern könnte. Besonders scharf zu kritisieren ist, dass nicht einmal die Frage der Freilassung von tausenden friedlichen Demonstrierenden, die seit Beginn der Proteste in Haft sitzen, als Bedingung für die Erweiterung der Beitrittsverhandlungen gesetzt wurde.“

EU als Hort der Demokratie?

Dabei stellt sich die Frage, ob es nicht naiv ist, zu glauben, dass die EU ein Hort der Demokratie ist, in der keine friedlichen Demonstranten inhaftiert werden. Manche der Gefangenen in der Türkei könnten in Isolationshaft verbringen und damit in den Genuss eines Exportartikels aus dem EU-Raum vor allem aus Deutschland kommen. Realistischer scheint die Einschätzung des Leiters des Istanbuler Büros der Rosa Luxemburg-Stiftung Murat Cakir, der treffend formuliert, um welche Interessen es hierbei geht:

„In Deutschland streiten die neoliberalen Eliten über das ‚Wie‘ ihrer Einflussnahme auf die aktuelle Entwicklung in der Türkei. Immerhin geht es um langfristige, strategische und wirtschaftliche Interessen; im Besonderen um die Sicherung der Energieversorgung Europas. Aus guter Erfahrung wissen wir, dass der in diesem Zusammenhang auf ‚Demokratie‘ und ‚Menschenrechte‘ genommene Bezug nur kosmetisches Beiwerk ist.“

Eine solch nüchterne Betrachtungsweise verhindert, die Gespräche zwischen der Türkei und den EU mit allzu vielen moralischen Ansprüchen zu belasten. In Deutschland wird darüber gestritten, ob eine privilegierte Partnerschaft oder eine EU-Mitgliedschaft der Türkei den eigentlichen strategischen und wirtschaftlichen Interessen besser gerecht werden. Dass auch Bundesaußenminister Westerwelle der Aufnahme der EU-Beitrittsgespräche im Herbst zugestimmt hat, weist daraufhin, dass die Fraktion, die für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei eintritt, stärker wird. Das Thema Menschenrechte ist dabei genau so zweitrangig wie der Islam.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154518
Peter Nowak

Wahlprogramm mit Kurzzeitgültigkeit


Die Union verabschiedet ein Wahlprogramm – da die Umsetzung der Reformversprechen an den Finanzierungsvorbehalt gekoppelt ist, wird es nach den Wahlen zu den Akten gelegt

Kurz vor der Sommerpause werden die letzten Vorbereitungen für den Bundestagswahlkampf abgeschlossen. Dazu gehört auch die Vorstellung des Wahlprogramms von CDU/CSU, das allerdings bewusst nicht als Programm einer Partei, sondern einer Regierung vorgestellt wurde. Damit wollte die Union selbstbewusst deutlich machen, dass sie auch in der nächsten Legislaturperiode wieder die Regierung stellt, wofür auch Umfragen sprechen – nur die Frage, wer dann der Koalitionspartner sein wird, bleibt offen.

Das Programm signalisiert Offenheit in alle denkbaren Richtungen. So beliebig und austauschbar wie der Titel „Gemeinsam erfolgreich für Deutschland“ ist auch das Programm selbst. Einerseits wird die Priorität der Haushaltskonsolidierung betont, anderseits wurden zahlreiche soziale Versprechungen vor allem im Bereich der Familienpolitik in das Programm geschrieben. Auch die Forderungen nach einer moderaten Mietpreisbremse und eines Mindestlohns – unter gewissen Bedingungen – wurden übernommen. Sollte es nach der Bundestagswahl zur Fortsetzung der bisherigen Koalition mit der FDP reichen, wird eben die Haushaltssanierung im Programm betont und die sozialen Versprechungen müssen zurückstehen.

Das haben neben der FDP auch schon Sprecher der Wirtschafts- und Mittelstandsvereinigungen innerhalb der Union deutlich gemacht. So plauderte deren Sprecher Kurt Lauk aus, was jeder weiß, was man eigentlich vor Wahlen aber nicht so laut ausspricht: Wahlprogramme sind das eine, was nach den Wahlen umgesetzt wird, aber etwas ganz anderes. Sollte aber nach der Wahl die Mehrheit für eine Koalition mit der FDP fehlen, kann die Union in Verhandlungen mit den Grünen oder SPD auf ihre sozialen Versprechungen verweisen. Da im Programm keine Finanzierungsvorschläge gemacht werden und die Union Steuererhöhungen ausschließt, wird der SPD dann die Rolle zugewiesen, sich bei Verhandlungen womöglich für Steuererhöhungen stark machen zu müssen.

SPD spricht vom Wahlbetrug

Das erklärt auch die heftigen Reaktionen der SPD auf die Vorlage der Union. Wenn deren Kanzlerkandidat Steinbrück von einem „Wahlbetrug mit Ansage“ spricht, ist das die übliche Wahlrhetorik. Schließlich ist die SPD in dieser Angelegenheit ein gebranntes Kind. Hatte sie doch vor den Wahlen 2005 so vehement gegen eine Anhebung des Rentenalters agiert, dass ihr manche potentiellen Stammwähler noch immer übel nehmen, dass sie in der folgenden großen Koalition die Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre durchgesetzt hat.

Die Wahlversprechungen im Unionsprogramm haben sogleich wütende Kommentare in der wirtschaftsliberalen Presse von FAZ bis Handelsblatt provoziert. Dort wird das neoliberale Mantra immer noch weiterverbreitet, dass es gelte, für den Wirtschaftsstandort Deutschland weiter Opfer zu bringen. Da könnte ein Wahlprogramm, das soziale Reformen – wenn auch unter Vorbehalt – verspricht, zu Aufweichungen des Opferdiskurses führen. Die Reaktionen machen wieder einmal die wirtschaftsliberale Hegemonie in großen Teilen der deutschen Presselandschaft deutlich. Dass man damit aber nicht unbedingt Wahlen gewinnt, musste die Union 2005 auch schon erfahren, wo sie einen Wahlkampf nach dem Drehbuch der wirtschaftsliberalen Presse führte und nur mit Hilfe der SPD die Regierung bilden konnte.

Diskussionen über Wahlboykott im Bürgertum

Die Union hofft, mit ihrem Wahlprogramm, das auch der sozialliberalen Klientel entgegenkommt, diese wenn nicht zu einer Stimme für die Union so doch zumindest zur Wahlenthaltung zu bewegen. Entsprechende Diskussionen gibt es bereits in der Taz und auch auf verschiedenen Internetseiten. Angestoßen hat die Debatte der Sozialwissenschaftler Harald Welzer. Im Unterschied zu früheren Wahlboykottkampagnen, die aus Gründen der Kapitalismus- und Staatskritik gestartet wurden, sieht das von Welzer angesprochene Klientel bei allen relevanten Parteien zu viel Sozialdemokratisches und zu viel an Verteilungs- und Gerechtigkeitsdebatte. Daher werden Welzers Ausführungen auch in rechten Kreisen mit Aufmerksamkeit verfolgt. Dagegen reagieren die wenigen, die noch an einen Regierungswechsel zu Rotgrün im Herbst glauben, auf solche Vorschläge aus dem eigenen Milieu umso gereizter. Die Union ist hier mit „Maß und Mitte“ dann einer guten Position.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154516
Peter Nowak

Tricksen für die Erfolgsbilanz mit sinkenden Erwerbslosenzahlen

Der Bundesrechnungshof wirft der Bundesagentur für Arbeit Manipulation vor. Für Kritiker aus der FDP ist das ein Grund, die Abschaffung der BA zu fordern

Für viele Erwerbslose ist der jüngste Bericht des Spiegel zur Arbeit der Bundesagentur für Arbeit wahrlich keine Überraschung. Das Magazin zitiert aus einem bisher unveröffentlichten Prüfbericht des Bundesrechnungshofs, der der Bundesagentur für Arbeit auf mehreren Ebenen Mängel und Fehler vorwirft. Grundlage der Vorwürfe sind stichprobenartige Untersuchungen in 156 Arbeitsagenturen.

„Die Tatsache, dass wir in allen geprüften Agenturen Fehlsteuerungen festgestellt haben, zeigt, dass es sich um ein grundsätzliches Problem handelt“, zitiert das Magazin aus dem Bericht. Die inkriminierten Praktiken erstrecken sich auf zwei Gebiete, sind aber weder neu noch unbekannt und bedürfen wohl erst einer Aufmerksamkeit durch den Spiegel um wahrgenommen zu werden

Manipulierte Statistiken

Der erste Punkt dreht sich um die Manipulation der Statistik. Da sei getrickst worden, um die Erfolgsbilanz von sinkenden Erwerbslosenzahlen und Jugendlichen, die einen Arbeitsplatz gefunden haben, in der Öffentlichkeit besser verkaufen zu können.

So seien Auszubildende, die ohnehin von ihrer Firma übernommen werden sollten, in der Statistik als erfolgreich vermittelt gezählt wurden. „Die bloße Erfassung von sicheren Übertritten mit dem Ziel einer Zählung stellt aus unserer Sicht eine Manipulation dar“, heißt es in dem Bericht des Bundesrechnungshofes.

Der zweite Vorwurf bezieht sich auf den Umgang der Arbeitsagenturen mit schwer mittelbaren Erwerbslosen. Laut dem Spiegel-Bericht hätten die Prüfer festgestellt, dass die Arbeitsvermittler in den drei Monaten der Untersuchung für mehr als 50 Prozent der Langzeitarbeitslosen keinen Stellensuchlauf gemacht und zu 45 Prozent der Betroffenen keinen ernst zunehmenden Kontakt aufgenommen hatten. Zudem werden im Rechnungshofbericht „diskriminierende Vorgehensweisen“ der Jobcenter moniert, weil es interne Weisungen der Bundesagentur für Arbeit gebe, wonach nur aussichtsreiche Bewerber sofort einen Termin beim Vermittler bekommen sollten.

Munition für neoliberale Argumente

Bei der heftigen und meist berechtigten Kritik an der BA ist man schnell geneigt, die Vorwürfe des Bundesrechnungshofes dem Sündenregister dieser Behörde anzuhängen. Doch die Kritik des Rechnungshofes ist vor allem Munition für die neoliberalen BA-Kritiker, wie sie in der FDP zu finden sind. Sie würden die Behörde am liebsten abschaffen.

Besonders die Kritik daran, dass Langzeiterwerbslose zu wenig vermittelt werden, führt dazu, dass auch diese Erwerbslose noch mehr gefordert werden. Das bedeutet, dass sie noch mehr Bewerbungen schreiben, Bewerbungsgespräche führen, ungeliebte und schlecht bezahlte Jobs annehmen und immer mit der Drohung der Sanktionierung leben müssen.

Manche Langzeiterwerbslosen sind froh, diesen behördlichen Zumutungen nicht ständig ausgesetzt sein und in eine Kategorie eingestuft zu werden, wo sie davon etwas verschont werden. Diese minimalen Freiräume, die es noch im Hartz IV-Regime gibt, will der Bundesrechnungshof mit seiner Kritik beseitigen. Schließlich geht es ihm um die maximale Effizienz im wirtschaftsliberalen Sinne. Erwerbslosengruppen kritisieren im Gegenteil den Druck, den Erwerbslosen heute schon ausgesetzt sind. Sie haben daher keinen Grund, in die Klagen des Rechnungshofes, Spiegel und Handelsblatt mit einzustimmen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154505
Peter Nowak

Zertifikate vernichten

Peter Nowak über den Handel mit Verschmutzungsrechten

Der Handel mit CO2-Emissionszertifikaten wurde einst als Wunderwaffe zur Senkung des Ausstoßes von Treibhausgasen in der EU angepriesen. Wären diese Zertifikate nicht anfangs komplett, später überwiegend kostenlos ausgegeben worden, hätte das System vielleicht auch funktioniert. Doch derzeit sind infolge der inflationären Ausgabemengen und der aktuellen Rezession die Zertifikate um Größenordnungen billiger als jede Klimaschutzmaßnahme. Ein erster Versuch, das System zu reformieren, scheiterte vor einigen Monaten am EU-Parlament. In der letzten Woche hat der Umweltausschuss den Weg freigemacht, um einen neuen Antrag im Parlament einzubringen, der eine Reduzierung der Zertifikate ermöglicht. So soll der Preis wieder steigen. Wie das Parlament entscheidet, ist noch völlig offen. Gralshüter der Marktwirtschaft wie Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler sehen in der versuchten Steuerung einen Eingriff in die Wirtschaft.

Eine kleine Gruppe von Umweltaktivisten – überwiegend Wissenschaftler – wollte nicht darauf warten, dass sich das EU-Parlament einigt. Nach der Devise »Umweltschutz zum Selbermachen« kauft der von ihnen gegründete Verein »TheCompensators« (die Kompensatoren) freiwillig Verschmutzungsrechte und bezahlen so für den privaten CO2-Ausstoß. Anschließend löschen sie die Zertifikate. Damit setzen sie im Kleinen um, was im EU-Parlament beschlossen werden soll. Bisher seien auf diese Weise bereits Verschmutzungsrechte für 5000 Tonnen CO2 gelöscht worden. Das bedeutet, dass 5000 Tonnen weniger CO2 ausgestoßen werden darf. Diese Menge produzieren 450 Menschen jährlich in Deutschland. Die Größenordnung macht die Grenzen des Projekts klar. Denn es basiert letztlich auf freiwilligen Spenden einzelner, die so versuchen klimaneutral einzukaufen oder zu verreisen.

Wenn die Initiative jetzt fordert, jeder Mensch solle diesem Beispiel folgen und vermeidbare Reisen unterlassen und bei unvermeidbaren Verschmutzungsrechte zu kaufen, geht das aber an der sozialen Lebenswirklichkeit von immer mehr Menschen vorbei.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/825287.zertifikate-vernichten.html
Peter Nowak

Welchen Einfluss bekommen die Taliban in Afghanistan?

Nicht alle Afghanen sind erfreut, für Daud Rawosh von der Peoples Party of Afghanistan können Verhandlungen nur unter klaren Bedingungen geführt werden

Der Kampf um ein Afghanistan nach dem Abzug der ausländischen Truppen hat begonnen. In den letzten Tagen lieferten sich die Karsai-Regierung und die USA einen öffentlichen Schlagabtausch über die Frage, wer berechtigt ist, mit den Islamisten zu verhandeln. Doch die Verhandlungen selber standen nicht zur Disposition. Auch der deutsche Verteidigungsminister de Maiziere hat sich grundsätzlich für Verhandlungen mit den Taliban ausgesprochen, wenn diese sich klar von Al-Qaida distanzieren.

Damit rennt er bei großen Teilen der deutschen Friedensbewegung offene Türen ein, die schon lange Verhandlungen mit den Taliban fordern. Vor einigen Wochen berichtete die Delegation von Friedensgruppen voller Stolz, dass sie überraschend die Möglichkeit hatten, einen Taliban-Vertreter zu treffen, der ihnen auch versicherte, dass ihnen in Zukunft auch die Bildung von Frauen am Herzen liege.

Doch linke Parteien, Politiker, Frauenorganisationen und zivilgesellschaftliche Initiativen in Afghanistan, die den Terror der Taliban am eigenen Leib erfahren haben, befürchten, dass Verhandlungen mit den Taliban dazu führen, dass die in der afghanischen Verfassung stehenden Grundrechte weiter zurückgedrängt werden und das Leben für alle Menschen, die sich nicht einen islamischen Tugendterror beugen wollen, noch unangenehmer wird. Zu diesen Kräften gehört auch vor einem Jahr gegründete Peoples Party of Afghanistan Mit deren Vorsitzenden Daud Rawosh sprach Peter Nowak in Berlin.

„Wir sind selbst auf das schlimmste Szenario vorbereitet“

Zur Zeit gibt es Streit zwischen den USA und die afghanische Regierung um Verhandlungen mit den Taliban. Wie stehen Sie als Vorsitzender einer linken afghanischen Partei dazu?

Daud Rawosh: Wir halten Gespräche mit den Taliban nur unter ganz klaren Bedingungen für sinnvoll. Dazu gehört die Respektierung der afghanischen Verfassung, was die Rechte der Frauen einschließt. Zudem müssen sie den bewaffneten Kampf aufgeben.

Befürchten Sie nach deren Abzug einen Machtzuwachs der Taliban?

Daud Rawosh: Die ausländischen Truppen ziehen nicht vollständig ab. Zudem ist mittlerweile auch eine afghanische Sicherheitsstruktur entstanden, die eine Machtübernahme der Taliban verhindern könnte. Aber selbst auf dieses schlimmste Szenario ist unsere vorbereitet. Schließlich konnten wir selbst unter der Taliban-Herrschaft illegale Strukturen aufrechterhalten.

Wie steht Ihre Partei zur Militärintervention von 2001?

Daud Rawosh: Wir sind prinzipiell gegen jede Besatzung. Doch 2001 gab es für uns nur die Alternative, weiter unter dem besonders reaktionären, mittelalterlichen Taliban-Regimes zu leben, oder es durch die Intervention loszuwerden. Zudem darf nicht übersehen werden, dass in dieser Zeit Afghanistan zum Aufmarschgebiet von Al-Qaida und anderen islamistischen Gruppen geworden war. Deshalb lehnen wir diese Intervention nicht ab. Wir protestieren aber gegen jegliche Menschenrechtsverletzungen durch die Natotruppen in unserem Land.

Afghanische Frauenorganisationen sehen nicht nur in den Taliban, sondern auch in den islamistischen Warlords ein Problem, die sich auf Seiten des Westens gestellt haben.

Daud Rawosh: Diese Einschätzung teilen wir uneingeschränkt. Der Einfluss dieser islamistischen Gruppen ist zurzeit ein großes Hindernis bei der Durchsetzung von Demokratie und Frauenrechten.

Könnte durch die Verhandlungen mit den Taliban nicht das Gewicht dieser reaktionären Gruppierungen wachsen und Rechte von Frauen und Minderheiten noch mehr bedroht werden?

Daud Rawosh: Unsere Position ist klar. Die in der Verfassung garantierten Rechte dürfen weder durch die Taliban noch durch andere Gruppierungen infrage gestellt werden.

Wie sehen Sie die Rolle des gegenwärtigen Präsidenten?

Daud Rawosh: Es ist bekannt, dass Karsai einem korrupten politischen System vorsteht, das im Drogenhandel verstrickt ist. Daher sind wir erklärte Gegner von Karsai. Das schließt allerdings nicht aus, dass wir einzelne Maßnahmen von Karsai unterstützen, wenn sie zur Stärkung der demokratischen Rechte beiträgt.

„Soziale Gerechtigkeit und der Kampf gegen die ethnische Zersplitterung sind unsere zentralen Ziele“

Wie ist die von Ihnen repräsentierte Partei entstanden?

Daud Rawosh: Sie wurde2012 gegründet und ging aus den „Bewegungen für Demokratie“ hervor, die in den letzten Jahren in Afghanistan aktiv waren. Die Partei sieht sich in der historischen Tradition der afghanischen Volkspartei, die 1978 führend an der Aprilrevolution beteiligt war, die zu einer tiefgreifenden sozialen Umgestaltung des Landes geführt hat. Allerdings handelt es sich um eine völlig neue Partei, die unter den aktuellen Bedingungen und auf dem Boden der afghanischen Verfassung agiert.

Wie groß ist der Zuspruch bisher?

Daud Rawosh: Viele der ehemaligen Aktivisten der historischen Afghanischen Volkspartei sind auch in der neuen Partei aktiv. Mittlerweile ist die Partei in 24 Provinzen vertreten, in 15 Provinzen wurden Pateibüros eröffnet. Ein Schwerpunkt der Partei ist die Arbeit in Gewerkschaften und Frauenorganisationen. Auch der Vorsitzende des afghanischen Handwerkverbandes ist Mitglied unsere Partei.

Was sind die zentralen Ziele Ihrer Partei?

Daud Rawosh: Der Kampf um soziale Gerechtigkeit und die Ablehnung der ethnischen Spaltung. Die meisten Parteien in Afghanistan sind nur in einer bestimmten Ethnie verankert, was zur Zersplitterung des Landes führt. Wir hingegen haben eine gesamtgesellschaftliche Perspektive und kämpfen für egalitäre Verhältnisse.

Warum wird in dem Programm Ihrer Partei ausdrücklich der Charakter als islamisches Land betont, wo doch die historische Demokratische Volkspartei den Säkularismus betont hat?

Daud Rawosh: Wir müssen anerkennen, dass sich in Afghanistan heute 99 % der Bevölkerung zum Islam bekennen. Wir kämpfen dafür, dass diese Menschen in sozialer Gerechtigkeit und Frieden leben. Wir respektieren den Glauben dieser Menschen, ohne ihn notwendigerweise selber zu praktizieren.

Kandiert Ihre Partei bei den nächsten Wahlen?

Daud Rawosh: Wir arbeiten in einer Allianz mit insgesamt 9 Parteien demokratischen Parteien zusammen. Dort diskutieren wir eine gemeinsame Kandidatur zu den Wahlen. Kommt es nicht dazu, würde unsere Partei selber kandieren.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/154491
Peter Nowak

Luxuslofts zu Schnäppchenpreisen

Angesichts der anstehenden Bundestagswahl bemüht sich mittlerweile sogar die CDU um ein mieterfreundliches Image.

Der Kampf der Palisadenpanther war erfolgreich. So nannte sich eine Gruppe von Senioren, die in den vergangenen Monaten in der Berliner Mieterbewegung aktiv waren. Benannt haben sie sich nach der Palisadenstraße im Stadtteil Friedrichshain, dort leben sie in einer Seniorenwohnanlage. Im Sommer vorigen Jahres hatte der Eigentümer angekündigt, die Miete nach dem Wegfall der Anschlussförderung für die Sozialwohnungen zu verdoppeln. Ein Großteil der Mieter hätte dann ausziehen müssen. Doch sie wehrten sich, organisierten Demonstrationen und schafften es, das Interesse von Politikern für ihre Ziele zu wecken.

Im Mai hat der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg mit dem Eigentümer der Häuser eine Kooperationsvereinbarung unterzeichnet. Damit werde sichergestellt, dass die Bestandsmieter in den senioren- und behindertengerechten Wohnungen zu bezahlbaren Mieten bleiben können, sagte Bezirksbürgermeister Franz Schulz (Grüne). Er wertet dies als großen Erfolg. Kritischer beurteilt die Friedrichshainer Mieterinitiative »Keine Rendite mit der Miete« das Ergebnis.

»Da die Vereinbarung dem Eigentümer erlaubt, den Großteil der freiwerdenden Wohnungen in der Palisadenstraße zum Marktpreis zu vermieten, ist bei der Altersstruktur der Bewohner klar, dass noch immer hohe Profite mit diesen Wohnungen gemacht werden könnten«, moniert eine Vertreterin der Gruppe.

Zwar erzielten die Palisadenpanther einen Erfolg im Kampf gegen zu hohe Mieten, doch es ist vor allem das Bezirksamt, welches sich diesen gutzuschreiben versucht. So heißt es in einer gemeinsamen Pressemitteilung von Schulz und dem Eigentümervertreter: »Diese Kooperationsvereinbarung zwischen Bezirk und Eigentümer / Vermieter ist einmalig. Im Bestand der fast 28 000 Sozialwohnungen, denen durch Senatsbeschluss keine Anschlussförderung mehr gewährt wurde, sind die meisten Mieter nach kurzer Zeit vertrieben worden. Die Wohnungen wurden zu Ferienwohnungen umgewandelt oder als Eigentumswohnungen auf den Markt gebracht. Hier verbleiben die Mieter weiter in Ihrer Wohnung zu verlässlichen Konditionen.«

Ob es sich hierbei um eine Vereinnahmungsstrategie der Grünen handelt oder ob die Politik beginnt, auf den Protest von Mietern zu reagieren, war ein Streitpunkt bei der Diskussionsveranstaltung »Wohnraumkämpfe zwischen realpolitischer Drecksarbeit, praktischer Solidarität und revolutionärer Enthaltung«, an der sich in Berlin vorige Woche mehrere Gruppen beteiligten. Ein Mitglied der Stadtteilinitiative »Kotti & Co«, die seit über einem Jahr für den Erhalt des sozialen Wohnungsbaus kämpft, warnte vor übertriebenem Optimismus. »Unser Ziel ist es, die Miete zu senken. Uns droht aber die Zeit davonzulaufen, weil schon viele einkommensschwache Menschen weggezogen sind«, lautete sein pessimistisches Fazit. Gespräche mit Politikern hielt er angesichts dieser Entwicklung für unumgänglich. Er machte auch deutlich, dass es ein Unterschied sei, ob eine autonome Gruppe den Dialog mit den Politikern ablehne oder ob eine Stadtteilinitiative, in der sich Menschen engagieren, die bisher immer ausgegrenzt waren, mit den Politikern spreche. Eine Rednerin des Bündnisses gegen Zwangsräumungen, das in Berlin in den vergangenen Monaten Elemente des zivilen Ungehorsams in die Mieterbewegung brachte, lehnte Gespräche mit Politikern und Institutionen ebenfalls nicht ab, sofern es darum gehe, Zwangsräumungen zu verhindern.

Mittlerweile haben sich auch in Nordrhein-Westfalen Bündnisse gegründet, um Zwangsräumungen zu verhindern. Dass solche Gruppen stärker zusammenarbeiten müssen, wird in der Mieterbewegung schon länger betont. Doch mit der praktischen Umsetzung hat es oft gehapert, weil die Gruppen schon mit ihrer Arbeit an Ort und Stelle überlastet sind. Nun soll mit der vielbeschworenen Kooperation Ernst gemacht werden. Organisationen aus bisher elf Städten wollen vom 22. bis zum 29. Juni unter dem Motto »Keine Profite mit der Miete« eine bundesweite Aktionswoche veranstalten. Die geplanten Aktivitäten reichen vom Straßenfest über Filmvorführungen bis zu Blockaden. Im Aufruf heißt es: »Mittlerweile regt sich in vielen Städten Widerstand derjenigen, die nicht auf die Sonntagsreden der Politiker vertrauen, sondern wegen dem Mangel an bezahlbaren Wohnungen schon mit dem Rücken an der Wand stehen und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.« Ob gerade diese Menschen die Kraft, die Zeit und die Möglichkeiten für die Teilnahme an einem solchen selbstorganisierten Widerstand haben, wird sich zeigen.

Mittlerweile haben fast alle Parteien angesichts der anstehenden Bundestagswahl ihre Wahlprogramme mit Forderungen versehen, die mieterfreundlich klingen. Auch die CDU hat angesichts der steigenden Mieten eine Begrenzung der Miete bei Neuvermietungen angekündigt und gibt unumwunden zu, dass sie diese Forderung aus dem SPD-Wahlprogramm übernommen hat. Ihr Koalitionspartner FDP sieht dadurch jedoch das Recht der Investoren auf Profite eingeschränkt und lehnt solche Forderungen ab. Allerdings hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) deutlich gemacht, dass die »Mietbremse« nicht den Neubau von Wohnungen verhindern dürfe. Da reduzierte Profiterwartungen für das Kapital immer ein Investitionshindernis darstellen, ist fraglich, was von solchen Plänen praktisch umgesetzt würde, wenn beispielsweise in einer Großen Koalition die politische Mehrheit vorhanden wäre.

Die Mieterverbände sind zumindest skeptisch. »Deutschland, einig Mieterland?« fragte das Mieterecho, die Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft, angesichts solcher Ankündigungen ironisch und lieferte gleich die Antwort. »Ohnehin gibt es wenig Grund, den taktischen Schwenk der Kanzlerin für bare Münze zu nehmen. Erst vor wenigen Monaten war ihre Partei federführend an einer Mietrechtsnovelle beteiligt, mit der Mieterrechte drastisch eingeschränkt und kostenintensive Modernisierungen erleichtert werden.«

Und Peer Steinbrück, der Kanzlerkandidat der SPD, hat vorige Woche mit Rolf Kleine einen Mann zu seinem neuen Pressesprecher ernannt, der nach Einschätzung der Süddeutschen Zeitung das Image der SPD als Mieterpartei schädigen könnte. Kleine, der lange als Journalist für die Bild-Zeitung gearbeitet hat, war ab Februar 2012 Cheflobbyist der Immobilienfirma Deutsche Annington, die mit einem Bestand von 210 000 Wohnungen Deutschlands größter Vermieter ist.

»Das Unternehmen steht nicht gerade im Ruf, des Mieters bester Freund zu sein«, kommentierte die Süddeutsche Zeitung. Hinter dem Unternehmen steht eine auf Rendite ausgerichtete Private-Equity-Gesellschaft, die Londoner Terra Firma Capital Partners. Wie die Zeitung berichtete, hat die Deutsche Annington ihren gesamten Mieterservice in Bochum zentralisiert und Hausmeisterdienste auf einige wenige Firmen konzentriert, um die Rendite zu erhöhen. Demnächst steht der Börsengang an. Die Einschätzung des Mieterechos zur künftigen Mietpolitik dürfte daher der Realität entsprechen. »Irgendetwas wird sich die künftige Bundesregierung – egal, wer ihr angehört – zur Mietenexplosion besonders in einigen Großstädten und Ballungsräumen einfallen lassen müssen. Sicher ist allerdings, dass es für Mieter nicht der ›große Wurf‹ sein wird.«

http://jungle-world.com/artikel/2013/25/47924.html

Peter Nowak