Milliardengrab Drohne

Die gegenwärtige Debatte skandalisiert, dass eine Menge Geld für eine nicht nach Vorschriften funktionierende Drohne ausgegeben wird. Aber kaum jemand stellt in Frage, dass generell so viel Geld dafür zur Verfügung gestellt wird

„Nicht mehr unangreifbar“, lautete die Einschätzung der FAZ zur Situation des gegenwärtigen Bundesverteidigungsministers Thomas de Maizière. Der Streit um das Euro-Hawk-Debakel könnte dem Minister das Amt kosten, wenn sich herausstellen sollte, dass er nicht nur dem Parlament, sondern auch dem Bundesrechnungshof Informationen über den Euro Hawk vorenthielt.

Der Bundesrechnungshof hat schon im November 2011 Informationen Nachfragen wegen des Fluggeräts gestellt. Die Prüfer forderten damals Vertragsunterlagen für den Euro Hawk und auch Statusberichte über das Drohnenprojekt bei der Bundeswehr angestellt. Unter Verweis auf Geheimhaltungsklauseln mit der US-Industrie seien allerdings in dem vom Ministerium verschickten Papieren entscheidende Stellen geschwärzt worden. Darauf habe der Rechnungshof mit einem Brief an das Parlament reagiert, in dem er davor warnte, dass durch diese Praxis die geforderte lückenlose Finanzkontrolle nicht gewährleistet sei (Drohnendesaster für den Verteidigungsminister).

Diese Intransparenz droht dem Minister nun zum Verhängnis zu werden, weil mittlerweile, nachdem fast eine halbe Milliarde Dollar dafür ausgegeben wurde, die Entwicklung der Drohne wegen technischer Probleme gestoppt wurde. Es konnte nicht länger verheimlicht werden, dass nach den in Europa geltenden Richtlinien die Drohne keine Fluggenehmigung bekommt. Ob die Affäre dem Minister wirklich das Amt kostet, wird wohl davon abhängen, ob es der Regierungskoalition gelingt, auch führende Politiker der gegenwärtigen Oppositionsparteien mit für die Drohne in die Haftung zu nehmen.

Fast alle einig bei den Rüstungsprojekten?

Die aktuelle Verteidigungslinie der Regierungskoalition heißt eben nicht mehr, dass sich de Maizière in Sachen Drohne korrekt verhalten hat. Auch die heutigen Oppositionspolitiker seien ebenfalls mit verantwortlich, sagt etwa der FPD-Politiker Jürgen Koppelin. Er wirft Jürgen Trittin vor, in den Zeiten der rot-grünen Regierungskoalition 2004 die Drohne mit beschlossen zu haben. In den Zeiten der großen Koalition hätten Sozialdemokraten in verantwortlichen Stellen im Finanzministerium gesessen und seien damit ebenfalls für die Finanzplanung der Drohne verantwortlich.

In dieser Sichtweise ist die Verantwortung der gegenwärtigen Regierung natürlich relativiert, und, wo fast alle Mitverantwortung tragen, ist die Bereitschaft, einen Ministerrücktritt nicht nur als Sonntagsrede zu fordern, begrenzt. Das Kalkül der jetzigen Regierungskoalition, die Opposition mit in die Verantwortung zu nehmen, ist natürlich durchsichtig und doch dürfte die Darstellung von Koppelin nicht so weit von der Realität entfernt liegen.

Denn unabhängig von der Frage, welche Details welcher Politiker wann erfahren hat, zeichnet er das Bild einer großen Staatspartei mit mehreren Flügeln, die sich in den entscheidenden Punkten einig ist, beispielsweise bei der Rüstungsbeschaffung. Es war dieses Bild über die gegenwärtige Verfasstheit des Staates, das der Politologe Johannes Agnoli in seinem Buch Transformation der Demokratie in kritischer Absicht darstellte. So zeigt eigentlich die Diskussion um die Drohne wieder einmal deutlich, wie realitätsgerecht diese Sichtweise ist. Denn der gegenwärtige Streit wird doch nur darum geführt, dass – zudem noch in Krisenzeiten – mal locker eine halbe Milliarde Euro für eine Drohne ausgegeben wird, die nicht funktioniert. Da kann dann sogar der FDP-Politiker Koppelin sagen: „Eigentlich hat der Staat genug Geld, er geht nur nicht vernünftig damit um.“


Milliarden in die Rüstung werden nicht infrage gestellt

Doch kaum jemand stellt sich die grundsätzliche Frage, warum überhaupt eine halbe Milliarde Euro in Projekte wie dieses gesteckt wird, während man ansonsten bei Erwerbslosen und vielen sozialen Projekten um jeden Cent verhandelt. Dass bei Rüstungssummen riesige Beträge fließen und dass da oft besonders genau darauf geachtet wird, dass bestimmte Regelungen möglichst nicht bekannt werden, ist nichts Neues.

Schon vor mehr als 100 Jahren hat der damalige Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht solche Geschäfte mit der dabei florienden Rüstungsindustrie aufgedeckt. Schon damals verweigerte ihm ein Teil der sozialdemokratischen Partei die Unterstützung bei seinem Kampf gegen den Militarismus. Es ist immer ein Kennzeichen für die Kooptierung einst oppositioneller Kräfte und Strömungen in Gesellschaft und Staat, wenn sie bereit sind, die Belange der Rüstung, meistens als Staatsverteidigung verbrämt, mitzutragen.

Daher ist es auch gegenwärtig ein Indiz für die fast völlige Integration der zentralen politischen Kräfte, mit Ausnahme von Teilen der Linken, in den Staat, dass es heute keine grundsätzliche Infragestellung der Bereitstellung von riesigen Beträgen für Drohnen-Projekte gibt. Selbst Ottfried Nassauer, der sich einst aus der Antimilitarismusbewegung zum kritischen Rüstungsforscher entwickelte, stellt heute die Drohnen insgesamt nicht mehr infrage.

Wenn nur das Nichtfunktionieren und nicht die Produktion der Drohnen das eigentliche Problem ist, mag Thomas de Maizière, wenn es für die Regierung opportun ist, seinen Job verlieren. Eine grundsätzliche Infragestellung der Zwecke der Rüstung ist aber nicht einmal auf dem besonders naheliegenden Feld der Kosten erkennbar.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154299
Peter Nowak

Jenseits der ausgetretenen Pfade

KUNST Die Berliner Fotografin Laura Melin setzt sich in einer Ausstellung mit dem kurzen Hype des Kunststandorts Heidestraße zwischen Hamburger Bahnhof und Hauptbahnhof auseinander

Noch vor fünf Jahren galt die Heidestraße in der Kunstszene als unverbrauchter Geheimtipp. Im Niemandsland zwischen Hauptbahnhof und dem Kunststandort Hamburger Bahnhof standen damals vor allem Autoreparaturwerkstätten und Lagerhallen – und der Club Tape.

Für kurze Zeit wurde das Areal in der Heidestraße 46-52 ein Magnet für die Kunstszene und ihre Galerien, der sich aber beim Publikum nicht durchsetzte. Diesem Ausbruch der Szene aus den ausgetretenen Galeriepfaden hat die Fotografin Lara Melin, die sich in ihren Arbeiten kritisch mit Stadtentwicklung auseinandersetzt, ihre Ausstellung „Ode an einen Schandfleck“ gewidmet. Die Ausstellung ist auf ihrer Webseite und noch bis Donnerstag im Berliner Salon für Fotokunst zu sehen.

Neben den Fotos hat Melin Zitate aus Presseartikeln, Erklärungen von PolitikerInnen und Statements von GaleristInnen platziert, die den kurzen Hype des Kunststandorts Heidestraße und das schnelle Ende mancher hochfliegenden Pläne dokumentieren. Noch im Herbst 2006 schwärmte Anne Haun Elfremides auf Artnet vom „zukünftigen Galeriezentrum wie Phönix aus dem Märkischen Sand“.

Sieben Jahre später überwiegt die Tristesse: „Es regnet, die Gegend ist ohnehin schrecklich trostlos“, schreibt Gabriele Walde in der Morgenpost im November 2012. Da waren schon mehrere der angesagten Galerien wieder weggezogen. Die Zeiten der Heidestraße seien „vorbei“, resümiert der Designer Werner Aisslinger im Februar 2013 schließlich.

Während die Kunst verschwindet, sorgen nun die seit Jahren dort ansässigen Handwerksbetriebe und Logistikfirmen, aber auch das neu hinzugezogene Modelabel Darkland für Leben. Diesen Firmen widmet Melin in ihren Fotoarbeiten viel Aufmerksamkeit. Wenn es nach dem Masterplan des Senats geht, sollen auch sie bald vom Heideareal verschwinden, nur die alten Fabrikgebäude sollen erhalten bleiben.

Lara Melin versteht ihre Arbeit auch als stadtpolitische Intervention, wenn sie den mit der städtebaulichen Aufwertung einhergehenden Verlust der Nischen bedauert. „Wo in den neu gebauten Quartieren wird in Zukunft noch Platz dafür sein“, lautet eine der Fragen, die die BesucherInnen aus der Ausstellung mitnehmen.

www.lara-melin.de

Lara Melin: »Heidestraße 46-52 – Ode an einen Schandfleck«
bis 25. Mai 2013
Berliner Salon für Fotokunst, Kulturhaus Schöneberg
Kyffhäuserstraße 23, 10781 Berlin
Mi 14 – 19 Uhr, Do 12 – 17 Uhr

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2013%2F05%2F22%2Fa0142&cHash=e26c044f867b2d83bea65947095cc1d1

Peter Nowak

Abfilmen von Demonstrationen ist rechtswidrig

SPD-Landtagsabgeordneter fordert Datenschutzschulungen für die Polizei

Der bayerische SPD-Landtagsabgeordnete Florian Ritter hat das »rechtswidrige Filmen der Polizei bei Anti-Nazi-Protesten« gerügt. Nachdem er einen Vorfall in München beobachtet hatte, ist der Politiker nun an die Öffentlichkeit gegangen. »Am 29.9.2012 habe ich mich bei den Protesten gegen die Kundgebungen der rechtsextremen NPD-Tarnorganisation ›Bürgerinitiative Ausländerstopp‹ beteiligt. Hierbei musste ich erleben, dass die Polizei engagierte Bürgerinnen und Bürger filmte, die aus den Fenstern eines Hauses ein Transparent hängten, um ihren Protest gegen die menschenverachtende Propaganda der Nazis auszudrücken«, schildert Ritter seine Beobachtungen.

In Bayern gibt es nur dann eine Rechtsgrundlage für Videoaufzeichnungen von Demonstrationen oder politischen Aktionen, wenn eine potenzielle Gefahrensituation vorliegt oder wenn es Anzeichen gibt, dass eine Straftat begangen wird. Ritter betonte, ihm sei sofort klar gewesen, dass bei der von ihm beobachteten Aktion keines dieser Kriterien zutraf. »Der Vorfall zeigt, dass die Ausbildung der mit der Videoaufzeichnung betrauten Beamten dringend verbessert werden muss. Dass die Situation keine Rechtsgrundlage für Videoaufnahmen bot, war auch für juristische Laien erkennbar«, so der Abgeordnete. Auch der Landesdatenschutzbeauftragte Bayerns bezeichnete das Filmen der Transparentaktion als rechtswidrig.

Überzogene polizeiliche Videoaufzeichnungen bei legalem und legitimem Handeln führten zur Einschüchterung der Menschen, die lediglich ihr Recht auf Protest gegen Neonazis wahrnehmen, begründet Ritter sein Engagement. Das deckt sich mit Ergebnissen einer Studie, die der Berliner Soziologe Peter Ulrich über die Folgen von Polizeivideos auf Demos erstellte. Befragte Demoteilnehmer äußerten sowohl Gefühle von »Ohnmacht und Ausgeliefertsein«, als auch »durch Kameras verstärkte Aggression«, was »zu Resistenzverhalten und letztlich einer Ankurbelung der Konfrontation mit der Polizei« führe, heißt es in der Studie von 2011.

Auch mehrere Gerichte haben das unbegründete Filmen von Demonstrationen als Grundrechtseinschränkung bezeichnet. So bewertete das Berliner Verwaltungsgericht das Filmen einer Anti-AKW-Demonstration in Berlin im September 2010 nachträglich als rechtswidrig. In der Begründung erklärten die Richter, dass die Dauerbeobachtung der Versammlung ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit war und eine Einschüchterung der Demonstranten nicht auszuschließen gewesen sei. Das Berliner Verwaltungsgericht hatte in mehreren Urteilen erklärt, dass es in Berlin keine rechtliche Grundlage für das Filmen von Demonstrationen gibt.

Rechtzeitig vor dem diesjährigen 1. Mai beschloss daher die in Berlin regierende große Koalition gegen den heftigen Widerstand von Opposition und Bürgerrechtsgruppen ein Versammlungsgesetz, das das polizeiliche Filmen der zahlreichen politischen Manifestationen auch in der Hauptstadt grundsätzlich wieder erlaubt. Der erste Praxistest des neuen Gesetzes stieß auf viel Kritik. Teilnehmer sowohl der Demonstrationen zum 1. Mai als auch der Proteste gegen einen Neonaziaufmarsch am Morgen des gleichen Tages monierten ein unbegründetes Filmen durch die Polizei. Die Kritik wurde auch von der LINKEN im Berliner Abgeordnetenhaus geäußert. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch das neue Gesetz in Berlin von den Gerichten wieder kassiert wird. Mehrere Klagen dagegen sind anhängig.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/822083.abfilmen-von-demonstrationen-ist-rechtswidrig.html

Peter Nowak

Sechs Jahre Haft für Spendensammeln

Berlin: Das Berliner Kammergericht hat am vergangenen Donnerstag die aus der Türkei stammende Gülaferit Ünsal zu einer Haftstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt. Die 43-Jährige wurde der »Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Organisation« nach Paragraph 129b Strafgesetzbuch beschuldigt.

Das Kammergericht sieht es als erwiesen an, dass Ünsal von August 2002 bis November 2003 Europachefin der in der Türkei auch bewaffnet gegen den Staat kämpfenden Revolutionären Volksbefreiungsfront-Partei (DHKP-C) war. Die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Freiheitsstrafe von acht Jahren gefordert. Das Gericht machte zu Gunsten der Angeklagten geltend, dass ihr nach 2003 keine Führungstätigkeit in der DHKP-C mehr nachzuweisen sei.
Menschenrechtsgruppen kritisieren die Paragrafen 129a und 129b als Gesinnungsjustiz, mit dem Linke auch für legale Aktivitäten zu hohen Haftstrafen verurteilt werden könne.

www.neues-deutschland.de/artikel/822130.bewegungsmelder.html
Peter Nowak

„Uns blieb keine andere Wahl“

Im Februar 2013 erklärte die Belegschaft des griechischen Baustoffproduzenten Viomichaniki Metaleftiki (Vio.Me), ihre Fabrik stehe ab sofort unter der Kontrolle der Arbeiterinnen und Arbeiter und nehme die Produktion wieder auf (Jungle World 13/2013).
Makis Anagnostou ist Vorsitzender der Basisgewerkschaft der von den Beschäftigten besetzten Fabrik in Thessaloniki. Mit ihm sprach die Jungle World über die Erfolge und Tücken der Selbstverwaltung.

Wie kam die Belegschaft von Vio.Me mitten in der großen Wirtschaftskrise auf die Idee, die Produktion unter Arbeiterkontrolle fortzusetzen?

Uns blieb keine andere Wahl. Wir haben den Kampf im Juli 2011 begonnen, nachdem die Eigentümer die Firma Vio.Me aufgegeben hatten. Wir Arbeiter haben bereits seit Mai 2011 keinen Lohn mehr erhalten. Wir wollten uns nicht damit abfinden und haben viele Betriebsversammlungen organisiert. Dort haben dann 97,5 Prozent der Anwesenden beschlossen, die Fabrik in eine Kooperative unter Arbeiterkontrolle umzuwandeln.

War die Selbstverwaltung schon bei Beginn der Besetzung Ihr Ziel?

Nein, am Anfang wollten wir nur unsere Arbeitsplätze erhalten und haben versucht, die Unterstützung der politischen Parteien zu gewinnen. Wir haben uns also ausschließlich auf gesetzlichem Boden bewegt. Als wir merkten, dass wir von der Politik und auch den meisten Gewerkschaften keine Unterstützung bekommen, planten wir auf unseren Versammlungen die nächsten Schritte. Dabei lernten alle von uns viel über den Kapitalismus, aber auch über die Solidarität unter Arbeitern.

Können Sie ein Beispiel für einen solchen Lernprozess geben?

Auf vielen Veranstaltungen wurde ich gefragt, ob wir uns mit den Erfahrungen der besetzten Zanon-Fabrik in Argentinien auseinandergesetzt haben. Schließlich stellt sie ähnliche Produkte her wie wir und ist in vielen Ländern als selbstverwaltete Fabrik bekannt geworden. Die Zuhörer sind erstaunt, wenn ich ehrlich antworte, dass niemand von uns von Zanon gehört hatte, als wir unseren Kampf begonnen haben. Das Interesse wäre wohl auch nicht groß gewesen. Argentinien ist weit weg und wir müssen unsere Probleme bei uns lösen, hätten wir gesagt. Jetzt haben einige unserer Kollegen das Buch von Raúl Godoy gelesen, der bei der Besetzung von Zanon eine wichtige Rolle spielte. Sie hatten den Eindruck, dass er über Vio.Me schreibt. Er stellt in dem Buch die Fragen, die auch wir uns stellen. So haben wir gelernt, dass die Arbeiter auf der ganzen Welt ähnliche Probleme haben und nach ähnlichen Lösungen suchen.

Wie reagierten die griechischen Gewerkschaften auf Ihre Pläne?

Zunächst hatten wir Kontakt mit der sozialdemokratisch orientierten GSEE gesucht. Doch dort hat man uns geraten, wir sollen uns an unsere Bosse werden, damit sie das Kapital zurückbringen. Damit waren wir natürlich überhaupt nicht einverstanden. Warum sollten wir die Bosse, die die Firma in den Ruin getrieben haben, wieder zurückholen? Auf der Suche nach einer klassenkämpferischen Perspektive haben wir dann zeitweise mit der Pame kooperiert, die der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) nahesteht. Wir waren die einzige Basisgewerkschaft, die auf Demonstrationen gemeinsam mit der Pame die Fahnen hielt. Doch weil unsere Positionen ignoriert wurden, wenn sie nicht hundertprozentig mit der Linie der Pame übereinstimmten, haben wir auf einer Vollversammlung beschlossen, unseren Kampf ohne die Gewerkschaften weiterzuführen. Das bedeutet nicht, dass wir den Gewerkschaften feindlich gegenüberstehen. Doch wir sind nicht bereit, uns einer Zentrale unterzuordnen.

Haben Sie in der ganzen Zeit Ihres Kampfes nie ans Aufgeben gedacht?

Doch, natürlich. Hätte es nicht die täglichen Versammlungen gegeben, auf denen wir alle Schritte gemeinsam diskutierten und jeder auch über seine Probleme und Ängste reden konnte, hätten viele sicher aufgegeben. Besonders vor einem Jahr war die Lage kritisch. Damals verübten mehrere Menschen, die sich monatelang in der Bewegung der »Empörten« engagiert hatten, die auf den großen Plätzen ihren Protest und ihre Wut ausdrückte, Selbstmord. Die Zeitungen veröffentlichten Abschiedsbriefe von Menschen, die geschrieben hatten, dass sie große Hoffnungen in diese Bewegung gesetzt hatten und erfahren mussten, dass sie nicht gehört wurden. Wir befürchteten, dass auch Kollegen von Vio.Me ihrem Leben ein Ende setzen könnten. Schließlich hatten viele von ihnen lange keinen Lohn bekommen. Da beschlossen wir, mit einem Brief an die Öffentlichkeit zu gehen, in dem wir unsere Situation schilderten.

Welche Reaktionen gab es darauf?

Innerhalb kurzer Zeit bekamen wir von uns völlig unbekannten Menschen aus dem ganzen Land Ermutigungen. Wir wurden darin bestärkt, dass wir unbedingt durchhalten sollten. Da haben wir gemerkt, dass es viele Menschen gibt, denen nicht egal ist, was wir machen. Dieser Zuspruch war eine große Hilfe für uns. Ohne ihn hätten wir wahrscheinlich längst aufgegeben.

Gab es neben warmen Worten auch materielle Unterstützung?

Ja, es kam Hilfe aus ganz Griechenland und auch aus dem Ausland. Die meisten Menschen, die uns unterstützen, sind selbst arm und spenden uns etwas von dem Wenigen, das sie haben. Die einen bringen uns eine Packung Spaghetti oder getrocknete Bohnen, andere geben uns zwei Euro als finanzielle Unterstützung. Aber auch diese kleinen Hilfen sind sehr wichtig für uns, weil sie uns die Kraft und den Mut zum Weiterzumachen geben.

Zu welchen Kompromissen sind Sie bereit, um das Unternehmen zu retten?

Natürlich wissen wir, dass wir noch eine Weile im Kapitalismus leben müssen. Aber das heißt nicht, dass wir unsere Ziele aufgeben und die Erfahrungen der vergangenen Monate preisgeben. Deswegen gehen wir zweigleisig vor. Mit der Produktion unter Arbeiterkontrolle greifen wir das Recht der Kapitalisten an, über uns zu bestimmen. Dazu muss aber die Fabrik erhalten bleiben. Daher haben wir gemeinsam mit Ökonomen Pläne ausgearbeitet, wie die Firma überleben kann. Dazu haben wir auch einen Katalog mit konkreten Forderungen an die Regierung zusammengestellt.

Können Sie einige Forderungen nennen?

Ein Kernpunkt ist der Erwerb der Aktien des Unternehmens ohne die angehäuften Schulden, eine Subventionierung in Höhe von 1,8 Millionen Euro, die zum Teil aus dem Fonds der Europäischen Union finanziert werden soll. Eine gesetzliche Vorlage soll das Risiko für die Beschäftigten begrenzen. Damit soll ausgeschlossen werden, dass wir selbst mit persönlichem Vermögen haftbar gemacht werden. Zudem fordern wir die Rückgabe von 1,9 Millionen Euro, die von Vio.Me an den Mutterkonzern ausgeliehen wurden.

Wären Sie nicht dazu gezwungen, wie Kapitalisten zu handeln, wenn diese Forderungen umgesetzt werden?

Solange wir Solidarität erfahren, sehe ich bei uns das Problem nicht. Wenn die Arbeiterbewegung auf unserer Seite ist und unseren Kampf unterstützt, besteht kaum die Gefahr, dass wir uns mit dem Kapitalismus versöhnen. Wenn aber die Arbeiterbewegung auf Distanz geht, dann versuchen die Arbeiter individuelle Wege zum Überleben zu finden, und hier liegt die Gefahr der Wendung zum Bürgerlichen.

Gibt es weitere Betriebe in Griechenland, die ebenfalls unter Arbeiterkontrolle weiterarbeiten wollen?

Ja, in einer kleinen Stadt in Nordgriechenland hat die Belegschaft einer Zigarettenfabrik in einer Vollversammlung beschlossen, den Betrieb ebenfalls unter Arbeiterkontrolle weiterzuführen. Solche Überlegungen gibt es auch bei einer Firma im Bereich der Solar- und Windenergie. Die Kollegen waren unsicher, ob sie diesen Schritt gehen sollen. Wir haben uns mit ihnen getroffen und ihnen geraten, den Kampf um die Arbeiterkontrolle jetzt zu beginnen.

aus Jungle World 20/2013
http://jungle-world.com/artikel/2013/20/47715.html
Interview: Peter Nowak

URTEIL GEGEN AKTIVISTIN GÜLAFERIT ÜNSAL

Sechseinhalb Jahre fürs Spendensammeln

Das Kammergericht hat am vergangenen Donnerstag die aus der Türkei stammende Gülaferit Ünsal zu einer Haftstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt. Die 43-Jährige wurde der „Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Organisation“ nach Paragraf 129b Strafgesetzbuch beschuldigt.

In ihrem griechischen Exil war Ünsal aufgrund eines Haftbefehls der Bundesanwaltschaft im Juli 2011 in Auslieferungshaft gekommen und drei Monate später an die Bundesrepublik ausgeliefert worden. Seitdem ist sie in der Frauen-JVA in Lichtenberg gefangen.

Für das Gericht ist erwiesen, dass Ünsal von August 2002 bis November 2003 Europachefin der in der Türkei auch bewaffnet gegen den Staat kämpfenden Revolutionären Volksbefreiungsfront-Partei (DHKP-C) war. Die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert, die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von acht Jahren gefordert. Das Gericht machte zugunsten Ünsals geltend, dass ihr nach 2003 keine Führungstätigkeit mehr nachzuweisen sei. Daher blieb es unter dem von der Staatsanwaltschaft geforderten Strafmaß.

Wie schon in vorangegangenen 129b-Prozessen beruhten große Teile der Anklage auf Informationen türkischer Sicherheitskräfte. Da nach Informationen von Menschenrechtsorganisationen beim Zustandekommen solcher „Beweise“ Folter nicht ausgeschlossen werden kann, dürften sie nach deutschem Recht eigentlich keinen Eingang in den Prozess finden.

Eine Beteiligung an Anschlägen konnte das Gericht Ünsal, die sich der DHKP-C in den frühen 90er Jahren angeschlossen haben soll und deswegen in der Türkei bereits zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, nicht nachweisen. Vielmehr habe sie nach Ansicht der Richter für die DHKP-C Spenden gesammelt und Schulungen organisiert.

Keine Reaktionen

Nach Ünsals Auslieferung hatten noch linke Solidaritätsgruppen gegen das 129b-Verfahren mobilisiert. Im Laufe des mehrmonatigen Verfahrens und anlässlich der Urteilsverkündigung gab es aber keine Reaktionen. „Während es in Griechenland eine große Bewegung gegen die Auslieferung gab, zeigte sich in Berlin, dass die Gefangenensolidaritätsbewegung in der Krise ist“, erklärte ein Aktivist gegenüber der taz, der namentlich nicht genannt werden wollte.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2013%2F05%2F21%2Fa0116&cHash=e9118c2a20e86894685eefce94fdcdb5

Peter Nowak

Einschüchterung durch Polizeivideos?

Der bayerische SPD-Politiker Florian Ritter fordert Schulungen in gesetzeskonformen Verhalten für die Polizei

Der bayerische SPD-Landtagsabgeordnete Florian Ritter hat in einer Pressemeldung „rechtswidriges Filmen der Polizei bei Anti-Naziprotesten“ gerügt. Zuvor hatte der bayerische Datenschutzbeauftragte auf Anfrage Ritters bestätigt, dass Videoaufnahmen in dem von dem SPD-Politiker beobachteten Fall rechtswidrig waren. Ritter schilderte seine Beobachtungen so:

„Am 29.09.2012 habe ich mich bei den Protesten gegen die Kundgebungen der rechtsextremen NPD-Tarnorganisation ‚Bürgerinitiative Ausländerstopp‘ beteiligt. Hierbei musste ich erleben, dass die Polizei engagierte Bürgerinnen und Bürger filmte, die aus den Fenstern eines Hauses in München ein Transparent hängten, um ihren Protest gegen die menschenverachtende Propaganda der Nazis auszudrücken.“

Er habe daraufhin den Kontakt mit den Beamten vor Ort gesucht um zu klären, weshalb sie diese Maßnahme ergreifen, erklärt Ritter. Seine Einschätzung, dass hier weder eine Störung, noch eine potentielle Gefahrensituation, noch die Gefahr der Begehung einer Straftat vorlag, alles Situationen, die eine Rechtsgrundlage für Videoaufzeichnungen geboten hätten, wurde vom bayerischen Datenschutzbeauftragen bestätigt.

„Der Vorfall zeigt, dass die Ausbildung der mit der Videoaufzeichnung betrauten Beamten dringend verbessert werden muss. Dass die Situation keine Rechtsgrundlage für Videoaufnahmen bot, war auch für juristische Laien erkennbar“, erklärt Ritter. Überzogene polizeiliche Videoaufzeichnungen bei legalem und legitimen Handeln führe zu einer Einschüchterung der Menschen, die lediglich ihr Recht auf Protest gegen Neonazis wahrnehmen, so der SPD-Politiker.

Nicht nur in Bayern sind die Videoaufnahmen der Polizei in der Kritik. Auch in Berlin wurde nach einem Neonaziaufmarsch am 1. Mai moniert, dass die Polizei die Kamera zu häufig bediente.

Polizei auch für Rechte immer mehr Feindbild

Laut einer Studie des Berliner Moses Mendelsohn Zentrums hat sich das Bild der Polizei in der rechten Szene in den letzten Jahren verändert. Dort werde die Polizei zunehmend als Feind betrachtet. In den vergangen Jahren hatte die Law- and Ordermentalität vieler rechter Gruppen noch die Polizeifeindlichkeit überlagert. Tatsächlich haben rechte Gruppe versucht, nach dem Motto „Gute Polizei – schlechte Politik“ die Polizei in Schutz genommen.

Während bei der NPD teilweise noch heute so verfahren wird, propagieren vor allem parteiunabhängige Nationalisten zunehmend einen offen polizeifeindlichen Kurs. Einer der Höhepunkte für Polizeifeindlichkeit in der rechten Szene waren Spottlieder gegen den Passauer Polizeipräsidenten Alois Mannichl, der als konsequenter Gegner von Neonaziaufmärschen Opfer einer bis heute nicht aufgeklärten Messerattacke wurde.

Dass das Feindbild Polizei bei den Rechten vor allem dem stärkeren Verfolgungsdruck geschuldet ist, kann man schon daran ablesen, dass sie ansonsten eine harte Hand gegen alle Arten von Kriminalität fordern und der Polizei vorwerfen, sie sei nicht effektiv genug und werde von der Politik im Stich gelassen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154289
Peter Nowak

Letzte Chance für den Euro?

Auf dem linksreformistischen Flügel der Linken mehren sich Initiativen für eine andere EU-Politik. Doch die Erfolge sind fraglich

„Der Euro vor der Entscheidung“ lautet der Titel einer Studie, die gestern von der Rosa Luxemburg Stiftung vorgestellt worden ist, die im Umfeld der Linkspartei sicher noch für weitere Diskussionen sorgen dürften.

Zu den Herausgebern der Studie gehört neben Costas Lapavitsas mit Heiner Flassbeck ein Ökonom, der in der kurzen Ära des Finanzministers Oskar Lafontaine als dessen Staatssekretär fungierte. Eben jener Lafontaine hat mit einem EU-kritischen Beitrag in und außerhalb der Linkspartei für Aufregung gesorgt.

Bei Lafontaines politischer Vita ist es verständlich, dass diese Wortmeldung als Anbiederung an populistischen Anti-EU-Stimmungen verstanden wird. Allerdings ist diese Interpretation nicht vom Wortlaut des Beitrags gedeckt, wird doch dort ausdrücklich die Politik der deutschen Regierung für die Krise des europäischen Währungssystems verantwortlich gemacht und nicht wie in populistischen Argumentationen Deutschland à la Alternative für Deutschland als europäischer Zahlmeister hingestellt.

In Lafontaines Fußstapfen argumentiert auch die von Lapavitsas und Flassbeck ausgestellte Studie. Nur anders als der ehemalige Minister sind die beiden Herausgeber der Studie noch nicht ganz so pessimistisch. Sie sehen noch eine Chance für den Euro. „Es ist spät, doch noch ist es nicht zu spät für eine Umkehr. Würde Deutsch¬land als wich¬tigs¬tes Gläu¬bi¬ger¬land Ein¬sicht zei¬gen, seine Posi¬tion radi¬kal ver¬än¬dern und zusam¬men mit allen ande¬ren auf eine neue Stra¬te¬gie set¬zen, könnte die Euro¬zone die schwere Krise über¬win¬den“, heißt es in der Studie.

Doch dann bekunden sie, dass sie an eine solche Änderung nicht so recht glauben und diskutieren ganz wie Lafontaine andere Austrittsstrategien diskutieren. Schon in einem Interview im Deutschlandradio Ende April erklärte Flassbeck, man müsse den schwachen Ländern Anreize bieten, damit sie ihren Binnenmarkt wieder stärken. „Wenn dies von innen nicht möglich ist, dann müssen sie aussteigen und ihre eigene Währung abwerten.“ Konkret nennt der Ökonom folgende Schritte zur Rettung des Euros:

„Der Euro kann nur überleben, wenn alle Mitgliedsländer gleich wettbewerbsfähig sind. Das bedeutet: Die Löhne in Deutschland müssen deutlich steigen, um das Lohndumping der vergangenen Jahre auszugleichen. Außerdem muss man in ganz Europa die Sparprogramme einstellen und das Wachstum stimulieren. Sonst wird die Rezession unkontrollierbar, und die Schulden werden explodieren. Wenn die deutsche Regierung ihren Kurs nicht ändert, wird der Euro auseinanderfliegen.“

„Europa geht anders“

Diese Maßnahmen werden auch in einem Aufruf unter dem vagen Titel „Europa geht anders“ vorgeschlagen, die ausgehend von linken österreichischen Sozialdemokraten von verschiedenen linksreformerischen Gewerkschaftern, Politikern und Wissenschaftlern aus Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien unterzeichnet worden ist. Aus Deutschland gehören zu den Erstunterzeichnerinnen die Co-Vorsitzende der Linkspartei Katja Kipping und von der SPD mit Hilde Mattheis eine SPD-Linke, deren Strömung parteiintern erst vor wenigen Wochen politisch abgewertet worden ist.

Zu den zentralen Forderungen des Aufrufs zählen eine europäische Umverteilung des Reichtums durch faire Einkommen und höhere Gewinn- und Vermögensbesteuerung, die Beendigung der Lohnsenkungsspirale und damit der Abbau der riesigen Ungleichgewichte, was in den Leistungsbilanzüberschüsse weniger Länder auf Kosten von Defiziten anderer Länder deutlich werde. Neben der Wiederregulierung der Finanzmärkte gehören auch die Stärkung der Arbeitnehmerrechte, Arbeitnehmerschutzbestimmungen und Gewerkschaftsrechte zu den Forderungen des Aufrufs. Der Punkt ist wichtig, weil allein in Griechenland in den letzten Wochen mehrere Streiks durch Dienstverpflichtungen von der Regierung unterbunden wurden. Aktuell sind die Lehrer betroffen.

Diese Einschränkungen des Streikrechts betreffen nicht nur die europäische Peripherie. Vor einigen Wochen hatte Dänemarks Mitte-Links-Regierung tausende streikende Lehrer ausgesperrt und versucht, damit einen Arbeitskampf abzuwürgen. An diesem Beispiel wird aber auch schon das Dilemma solcher Aufrufe für ein anderes Europa deutlich. Weil nicht nur in Deutschland Sozialdemokraten und Grüne an der Deregulierung an führender Stelle mit beteiligt sind, ist auch von diesen Kreisen nicht zu erwarten, dass sie ihre eigene Politik demontieren und sich an Aufrufen beteiligen, die ein Umsteuern fordern.

Daher macht das Unterzeichnerspektrum aus Deutschland den Eindruck, als träfe es sich regelmäßig beim Institut Solidarische Moderne, das seit einigen Jahren wenig beachtet von der Öffentlichkeit die Kräfte links von der Bundesregierung zusammenbringen will.

EU-Austritt und das deutsche Interesse

Sollte aber die EU-Politik so weiterlaufen wie bisher, dann werden ökonomische Gesetzmäßigkeiten die Frage nach einem Ausweg außerhalb des Euros aktuell werden lassen. Diese Fakten zu benennen, hat nichts mit Populismus zu tun. Denn dass zumindest die Studie das Gegenteil der Alternative für Deutschland will, zeigen allein diese Sätze, die als Absage an eine rechtspopulistische EU-Kritik verstanden werden können.

„Darüber hinaus haben die einseitige und eindeutig falsche Schuldzuweisung an die Schuldnerländer und die von ihnen verlangte Austeritätspolitik eine Wirtschaftskrise in Gang gesetzt, deren negative Folgen für die Lebensverhältnisse der Menschen die nationalen demokratischen Systeme infrage stellen und das friedliche Zusammenleben der Bürger in Europa für Jahrzehnte belasten werden.“

Deswegen gehen auch Beiträge in die Irre, die an linken EU-Austrittsszenarien in erster Linie die Nähe zum Rechtspopulismus monieren, wie es der Ökonom Michael Krätke in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung Freitag versucht. Dort zählt er ausdrücklich auch Heiner Flassbeck zu diesen „Illusionisten“. Bemerkenswerterweise hat aber seinen Beitrag dann einen anderen Inhalt, als die Ankündigung erwarten lässt. Nicht linke Austrittsszenarien, sondern die Argumente des AfD werden dort widerlegt, indem er aufzeigt, welche negativen Folgen ein EU-Austritt für die deutsche Wirtschaft haben würde. Eine solche Argumentation trifft politische Kräfte, die ein deutsches Interesse an einen EU-Austritt ernsthaft vertreten.

Man kann aber auch argumentieren, dass Deutschlands Euromitgliedschaft so gravierende negative Folgen für die Länder in der europäischen Peripherie hat und Deutschland bisher so eindeutig der ökonomische Gewinner war, dass über Austrittsszenarien auch dann diskutiert werden sollte, wenn davon der deutsche Standort Nachteile erfährt. Ansonsten bleibt man in populistischen Argumentationslinien gefangen.

Die von immer mehr Ökonomen im In- und Ausland geforderte Kursänderung in der EU-Politik scheitert ja nicht an der Boshaftigkeit oder Dummheit deutscher Politiker, sondern an der kurzfristigen Interessenlage des Standorts Deutschland, die sich eben von den Interessen der Standorte der europäischen Peripherie unterscheiden. Ein europäischer ideeller Gesamtkapitalist, der eine langfristige Interessenlage im Blick hat, existiert aber nicht. Daher ist es auch unwahrscheinlich, dass die auch von Flassbeck und Co. geforderte Kursänderung zustande kommt.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/154284
Peter Nowak

Zwangsräumung steht ins Haus

MIETRECHT Weil eine schwer kranke Mieterin aufgrund eines Formfehlers in der Mieterhöhung nicht zahlt, will die Degewo sie räumen lassen. Prozess vertagt

In Schöneberg könnte es bald zur Zwangsräumung einer schwer kranken Frau kommen. Angelika L. war am Mittwoch mit Beatmungsgerät und Pflegerin zur Verhandlung vor dem Schöneberger Amtsgericht erschienen. L.s Vermieterin, die Wohnungsbaugesellschaft Degewo, verlangt die Räumung der Wohnung, weil L. mit der Miete im Verzug ist. Zum Urteil kam es nicht: Das Gericht vertagte den Fall, um Auskünfte einzuholen.

„Die Mietschulden waren so hoch, dass wir den juristischen Weg gehen mussten“, erklärte Degewo-Sprecher Lutz Ackermann gegenüber der taz. Die Auseinandersetzung mit L. habe sich mehrere Jahre hingezogen, mittlerweile hätten sich hohe Mietschulden angehäuft.

Laut L. entstanden die Mietschulden wegen der unwirksamen Ankündigung einer Mieterhöhung durch die Degewo: Weil dort nicht erwähnt worden sei, dass das Unternehmen für eine Modernisierung Fördermittel von der staatlichen KfW-Bank erhalten hatte, habe ein Gericht bei einem Nachbarn die Mieterhöhung wegen des Formfehlers für unwirksam erklärt. Der Degewo-Sprecher bezeichnet diese Darstellung als „komplett falsch“.

Fehler unwahrscheinlich

Laut Joachim Oellerich von der Berliner Mietergemeinschaft kommt es häufiger vor, dass Mieterhöhungen durch Formfehler unwirksam werden. Die Vermieter müssten dann eine korrigierte Mieterhöhung verschicken. Dass eine große Wohnungsbaugesellschaft wie die Degewo einen solchen kostenträchtigen Fehler begingen, hält Oellerich für unwahrscheinlich.

Angelika L. und ihr Lebensgefährte wollen die Wohnung nicht freiwillig räumen – auch wenn das Gericht zu ihren Ungunsten entscheidet. Sie haben das Bündnis gegen Zwangsräumungen um Unterstützung gebeten, falls sich der Gerichtsvollzieher ankündigen sollte. Bündnis-Aktivist David Schuster sieht das als Zeichen, dass der Widerstand gegen Räumungen auch außerhalb linker Zusammenhänge wächst. Für eine Unterstützung sei nun entscheidend, welchen Weg die MieterInnen gehen wollen. An einer Eskalation habe man kein Interesse. Oft versuche das Bündnis mit den MieterInnen Lösungen zu finden, um eine Räumung zu verhindern.

Nachdem vor einigen Wochen die schwer kranke Rosemarie F. kurz nach der Zwangsräumung gestorben war, hatten MieterInneninitiativen ein Räumungsmoratorium für SeniorInnen und Kranke gefordert. Die Diskussion ist jedoch schnell wieder versandet.
taz
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2013%2F05%2F17%2Fa0151&cHash=7cfb9692d210a36228184e1a97da67cd

Peter Nowak

Droht neue Zwangsräumung einer schwerkranken Mieterin?


In Schöneberg könnte es bald eine neue Räumung einer schwerkranken Mieterin geben.

Angelika L. war am Mittwoch mit einem Beatmungsgerät und einer Pflegerin bei der Verhandlung vor dem Schöneburger Amtsgericht erschienen. Das Gericht hat sich vertagt, weil es weitere Auskünfte einholen will. Die Vermieterin von L., die Wohnungsbaugesellschaft DeGeWo, verlangt die Räumung der Wohnung, weil Angelika L. mit der Miete im Verzug ist. „Die Mietschulden sind inzwischen so hoch, dass wir den juristischen Weg gehen mussten“, erklärte der Pressesprecher der DeGeWo Lutz Ackermann. Die Auseinandersetzung mit der Mieterin habe sich schon mehrere Jahre hingezogen.
Angelika L. erklärte, die Mietschulden seien wegen der unwirksamen Ankündigung einer Mieterhöhung durch die DeGeWo entstanden. Weil dort nicht erwähnt worden sei, dass die DeGeWo für eine Modernisierung Fördermittel von der KfW-Bank erhalten hat, habe ein Gericht bei ihrem Nachbarn entschieden, dass diese Mieterhöhung wegen des Formfehlers unwirksam sei. Daher habe auch die diese Mieterhöhung ignoriert. Diese Darstellung der Mieterin Angelika L. bezeichnet Lutz Ackermann von der DeGeWo als komplett falsch und nicht nachvollziehbar.

Zum Widerstand entschlossen

Angelika L. und ihr Lebensgefährte wollen die Auseinandersetzung mit der DeGeWo fortsetzen und sind entschlossen, die Wohnung nicht freiwillig zu räumen, auch wenn das Gericht der DeGeWo Recht geben sollte Die Mieter haben mittlerweile das Bündnis gegen Zwangsräumungen um Unterstützung gebeten. Es hat in den vergangenen Monaten in mehreren Fällen am Tag der Räumung mit Blockaden und Kundgebungen vor Ort protestiert. Bisher gelangen Verzögerungen und eine große öffentliche Aufmerksamkeit für die Thematik der Zwangsräumungen. Bündnis-Aktivist David Schuster sieht es sehr positiv, dass sich wie im Fall von Angelika L. auch Mieter zum Widerstand bereit sind, die bisher politisch nicht aktiv waren. Zu den Ursachen der Mietschulden könne und wolle das Bündnis keine Stellung nehmen, betonte Schuster. Das sei auch nicht die Aufgabe des Bündnisses. Für die Unterstützung gegen Räumungen sei nur entscheidend, welchen Weg die MieterInnen gehen wollen. An einer Eskalation habe man aber kein Interesse. Oft versuche das Bündnis gemeinsam mit den MieterInnen Lösungen zu finden, um eine Räumungen zu verhindern.

Räumungsmoratorium für Schwerkranke nie diskutiert

Ob es im Fall von Angelika L. noch Kompromissmöglichkeiten gibt, ließ auch der DeGeWo-Sprecher Ackermann offen. Nachdem vor einigen Wochen die schwerkranke Rosemarie F. zwei Tage nach einer Zwangsräumung in einer Notunterkunft gestorben war, hatten Politiker aller Parteien verbal große Betroffenheit geäußert. Doch nach einigen Tagen war das Thema aus den Medien verschwunden. Ein Räumungsmoratorium zumindest für Schwerkranke, das von verschiedenen Initiativen gefordert wurde, ist nie ernsthaft diskutiert worden.

aus: Mieterecho online
http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/zwangsraeumung-degewo.html
Peter Nowak

Konzern- statt Konsumentenkritik


Die Stiftung Ethecon beginnt eine Kampagne gegen Rohstoffmulti Glencore

Diese Auszeichnung dürfte bei der Unternehmensleitung nicht erwünscht sein. Eine Delegation von Ethecon will am heutigen Donnerstag den Black Planet Award 2012 an Ivan Glasenberg, Simon Murray und Tony Hayward sowie die Großaktionäre des Schweizer Rohstoffkonzerns Glencore überbringen. Die Übergabe erfolgt im Rahmen der Aktionärshauptversammlung des Konzerns im Theater Casino in Zug in der Schweiz.

Der Schmähpreis wird von Ethecon alljährlich gemeinsam mit sozialen Bewegungen an Unternehmen verliehen, die sich besonders durch die Verletzung menschenrechtlicher, sozialer und ökologischer Standards hervorgetan haben.

Nach Meinung der Stiftung wird der ausgewählte Konzern mit Recht „ausgezeichnet“ worden. Der Ethecon-Vorsitzende Axel Köhler-Schnura verweist auf Jose Chinchia Royero, der mit 32 Jahren als Baumaschinentechniker in der kolumbianischen Kohlenmine Calenturita gestorben ist, die Glencore gehört. „Der Konzern hat mit anderen Minenkonzernen die mit Abstand höchste Todesrate unter seinen Arbeitern“, erklärt Köhler-Schnura. Dass solche Todesfälle hierzulande überhaupt bekannt werden, liegt an der Zusammenarbeit der Stiftung mit sozialen Bewegungen in aller Welt.

Sie sammeln diese Daten, überprüfen und informieren dann auch die Menschen in der ersten Welt, die sich in der Regel nicht viel für die Arbeitsbedingungen in den Ländern des amerikanischen, asiatischen und afrikanischen Kontinents interessieren. Am Beispiel von Glencore wird deutlich, wie sinnvoll eine solche internationale Kooperation ist. So wird auf die Gewinne von Glencore bei der Nahrungsmittelspekulation ebenso verwiesen wie auf die giftige Abraumdeponie auf dem Gelände von Glencore-Fabriken in Sambia.

Dass mit Tony Hayward auch ein Mann zum Glencore-Vorstand gehört, der seinen Job als Geschäftsführer von BP nach der Explosion einer Ölplattform des Konzerns im Golf von Mexiko (vgl. Verölte Wahrheit) räumen musste, ist nur ein weiterer Baustein in der Geschichte eines Konzerns, der seit Jahren in der Kritik steht.

Sind die Konsumenten schuld?

Der Einsturz einer Kleidungsfabrik mit über 1.500 Toten, wie kürzlich in Bangladesch geschehen, regt zumindest eine Debatte an und führte zu Vereinbarungen mit Gewerkschaften. Doch ob es nachhaltige Änderungen gibt, ist zu bezweifeln. Zumal in der hiesigen Debatte in erster Linie die Konsumenten am Pranger stehen. So wurde nach dem Einsturz der Fabrik in Bangladesch viel über die hiesige Gier nach billigen Klamotten geredet und dabei unterschlagen, dass dafür nicht zuletzt der wachsende Niedriglohnsektor verantwortlich ist. So werden wieder einmal die einkommensschwachen Menschen hier für den Tod der Arbeiter in Asien mitverantwortlich gemacht. Dabei macht man sich gar nicht die Mühe, den Zusammenhang von billigen Klamotten hier und miesen Arbeitsbedingungen dort nachzuweisen.

Das dürfte auch nicht einfach sein. Schließlich sind die Arbeitsbedingungen auch bei teuren Waren nicht unbedingt besser. Es geht um die optimale Verwertung und um hohe Profitraten und da ist Arbeitsschutz eben eine Bremse. Den Blick nur auf die Billigmarken zu lenken, ist daher falsch.

Ethecon geht einen anderen Weg. Die Stiftung nimmt mit ihren Schmähpreis die Verantwortlichen in den Konzernen in den Fokus, die auch für Einhaltung von menschenrechtlichen und sozialen Standards in den Fabriken verantwortlich sind. Dabei ist die Verleihung des Schmähpreises nur die öffentlichkeitswirksame Symbolhandlung einer längerfristigen Kampagne, die Ethecon mit sozialen Initiativen unter dem Titel „Glencore stoppen“ initiiert hatte.

Nach dem Vorbild von Kampagnen gegen Shell und andere weltweite Konzerne soll hier deutlich gemacht werden, dass auch ein weltweit agierender Multi nicht gegen Kritik und Protest immun ist. Wenn bei so einer Kampagne deutlich gemacht wird, dass es nicht das Agieren „böser Menschen“, sondern der systemische Zwang zur Profitvermehrung ist, der auch den Glencore-Vorstand antreibt, kann eine solche Kampagne durchaus Lernprozesse im solidarischen Handeln auslösen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154277

Peter Nowak
Peter Nowak

Präzedenzfall für die DeGeWo?

Räumungsklage: Mieterhöhnung nach Modernisierung wegen Formfehler abgelehnt

Der Gerichtstermin am Schöneberger Amtsgericht am Mittwochmorgen war kurz. Ein Routinefall, wie es sie in Berlin tagtäglich gibt. Es ging um die Räumungsklage der schwerkranken Angelika L., die mit einer Krankenschwester und einem Beatmungsgerät im Gerichtssaal erschienen war. Die Wohnungsgesellschaft DeGeWo wirft ihr vor, die Mieterhöhung nach einer Modernisierung trotz Ankündigung ignoriert zu haben und fordert die Räumung der Wohnung. In der ersten Instanz wurde der Klage stattgegeben und die Mieterin zur Räumung aufgefordert. Die Entscheidung in der zweiten Instanz steht noch aus.

Frau L. bezeichnete die Mieterhöhung wegen eines Formfehlers als ungültig. Daher sei sie berechtigt gewesen, die erhöhte Miete nicht zu zahlen. Die DeGeWo habe für die Modernisierung Kredite der KfW-Bank erhalten und diese Förderung in der Ankündigung der Mieterhöhung nach der Modernisierung nicht bekannt gemacht. Aus diesem Grund habe ein Nachbar von L., der ebenso die Mieterhöhung verweigerte, vor Gericht Recht bekommen. Weil die Mieterhöhung fehlerhaft begründet gewesen sei, müsse er die erhöhte Miete nicht zahlen, so das Gericht.

Joachim Oellerich von der Berliner Mietergemeinschaft betont gegenüber »nd«, es komme häufiger vor, dass Mieterhöhungen wegen Formfehlern unwirksam sind. Das habe zur Konsequenz, dass die Wohnungsbaugesellschaften eine neue korrigierte Mieterhöhung schicken müssen. Dass große Wohnungsbaugesellschaften wie die DeGeWo einen so entscheidenden Fehler machen und die Förderung durch die KfW zu erwähnen vergessen, sieht allerdings auch Oellerich als einen Ausnahmefall an. Normalerweise arbeiten solche Unternehmen sehr professionell und sind darauf bedacht, solche Fehler zu vermeiden, die ihnen nur Geld kosten, berichtet Oellerich aus der Alltagspraxis der Mietergemeinschaft.

Auch Juristen, die sich häufig mit Mietstreitigen befassen, bestätigten gegenüber »nd«, dass Gerichte wegen fehlende oder unvollständiger Angaben zu Fördermitteln eine Mieterhöhung für unwirksam erklärt haben.

Der Pressesprecher der Berliner DeGeWo, Lutz Ackermann erklärte, ihm sei der Fall erst durch die Presseanfrage bekannt geworden. Man recherchiere zur Zeit im Haus intensiv und erarbeite dann eine Stellungnahme. Die lag jedoch bis Redaktionsschluss noch nicht vor.

Sehr interessiert beobachtet die Angelegenheit auch eine Mieterinitiative, an die sich Angelika L. gewandt hatte. Ihrer Meinung nach könnte die Angelegenheit größere Kreise ziehen.

»Möglicherweise haben alle Bewohner von DeGeWo-Häusern, die die gleiche Ankündigung einer Mieterhöhung nach der Modernisierung ohne den Verweis auf die KfW-Förderung bekommen haben, die Möglichkeit, die erhöhte Miete zurückzufordern«, erklärt David Kaufmann von der Mieterinitiative. Er betont allerdings, dass sich Betroffene an Mieterorganisationen wenden und juristisch beraten lassen sollen.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/821609.praezedenzfall-fuer-die-degewo.html

Peter Nowak

Der grüne Danny und die Lust

Die Grünen wollen ihre Toleranz gegen Pädophile aufarbeiten. Für Differenzierungen scheint dabei wenig Platz

Mehr als 10 Jahre ist es her, als führende Politiker der Grünen mit ihrer radikalen Vergangenheit konfrontiert wurden. Warf Joseph Fischer in seiner Zeit als Spontiaktivist nur Steine oder auch Molotow-Cocktails, und wie viele Polizisten hat er verprügelt? Und hatte der damalige studentische Aktivist des Kommunistischen Bundes, Jürgen Trittin, etwa auch klammheimliche Freude nach dem Attentat der RAF auf Generalbundesanwalt Buback gezeigt wie damals viele seiner Kommilitonen an der Göttinger Universität? Solche Fragen mussten sich kurz nach dem Antritt der rotgrünen Koalition einige Spitzenpolitiker der Grünen gefallen lassen. Die Auseinandersetzung ging schließlich zu ihren Gunsten aus.

Schließlich konnten die Grünen ihre gelungene Eingliederung in die Gesellschaft vorweisen und wer seine Zustimmung zu Kriegen gibt, dem kann das Vaterland einige radikale Jugendsünden verzeihen. Mit dem Film Joschka und Herr Fischer war diese Debatte nun endgültig beendet. Nun könnte den Grünen eine neue Debatte über ihre Vergangenheit ins Haus stehen, die sich aber grundlegend von den Diskussionen vor mehr als einem Jahrzehnt unterscheidet. Es geht um die Frage, wie es „Die Grünen“ und führende Persönlichkeiten der Partei mit der Pädophilie gehalten haben.

Ausgangspunkt des neuen Streits war die Verleihung des Theodor-Heuss-Preises an das Grüne Urgestein Daniel Cohn-Bendit. Der langjährige Realpolitiker hatte sich die Auszeichnung redlich verdient und eigentlich hatten sogar selbst die Konservativen längst ihren Frieden mit ihm gemacht. Doch dann wurden einige Texte aus seiner Zeit als Sponti und Kinderladen-Mitarbeiter neu gelesen, die er vor allem in dem 1975 erschienenen und längst vergriffenen Buch „Der große Basar“ veröffentlichte.

Lust im Kinderladen
Dort fanden sich auch solche Bekenntnisse:

„Mein ständiger Flirt mit allen Kindern nahm bald erotische Züge an. Ich konnte richtig fühlen, wie die kleinen Mädchen von fünf Jahren schon gelernt hatten, mich anzumachen. Es ist kaum zu glauben. Meist war ich ziemlich entwaffnet. (…)

Es ist mir mehrmals passiert, dass einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln. Ich habe je nach den Umständen unterschiedlich reagiert, aber ihr Wunsch stellte mich vor Probleme. Ich habe sie gefragt: ‚Warum spielt ihr nicht untereinander, warum habt ihr mich ausgewählt und nicht andere Kinder?‘ Aber wenn sie darauf bestanden, habe ich sie dennoch gestreichelt.“

Heute betont der geläuterte Politiker Cohn-Bendit, die Lust, über die hier geschrieben wird, sei die Lust am Provozieren gewesen. Unterstützt wird er dabei von Mitstreitern und Eltern aus dem Kinderladen. Doch es sind nicht wie vor mehr als 10 Jahren vor allem Attacken aus der Union, vor denen sich Cohn-Bendit und seine Freunde verteidigen müssen. Einige der größten Kritiker der alten Texte von Cohn-Bendit sitzen in der grünennahen Taz und auch bei den Grünen selber.

Dass der CSU-Politiker Dobrinth das Thema als wahlkampftauglich erkennt, ist nun wahrlich nicht verwunderlich. Erstaunlich ist eher, dass er erst jetzt nachzieht und dass er die Argumente gegen Cohn-Bendit durchaus in der Taz finden könnte. Wenn Dobrinth moniert, „die Grünen probieren, die schützende Hand über so einen widerwärtigen Typen wie den Cohn-Bendit zu halten“, sind sogar scharfe Kritiker Cohn-Bendits gezwungen, sich verbal hinter ihn zu stellen

Zweierlei Zeitgeist?
Doch die Forderung des CSU-Politikers, „die Grünen müssten offenlegen, wie viel Geld von der Grünen-Bundestagsfraktion und der Partei an Pädophilenorganisationen geflossen sei“, wird wohl umgesetzt. Genau eine solche Untersuchung wird von den Grünen vorbereitet. Auch bei der Taz gibt es schon solche Aufarbeitungen. Sollte der dort herrschende Ton auch die Melodie für die Untersuchung bei den Grünen vorgeben, dann sind die Ergebnisse schon klar.

Der Zeitgeist der 1970er Jahre wird angegriffen, weil der es angeblich ermöglicht habe, dass man nicht konsequent gegen alle Bestrebungen vorgegangen sei, Sexualität mit Kindern zu entkriminalisieren. Selbst Projekte, in denen pädophile Männer versuchen, ihre Neigungen zu überwinden, werden mittlerweile in Taz-Artikeln kritisiert. Das ist erstaunlich, weil die Taz eigentlich immer für Alternativen zu repressiven Strategien plädiert hat.

Mit einer solchen Diktion wird aber auch völlig ausgeblendet, dass die Debatte um freie Sexualität selbst für Kinder und Jugendliche eine Reaktion auf Gewalterfahrungen auch sexueller Art war, wie sie Kinder und Jugendliche in allen herkömmlichen Institutionen, in Familien und Heimen, immer wieder erlebt hatten. Sie kamen selten an die Öffentlichkeit, weil die jeweiligen Autoritäten es gar nicht zuließen. Eher wäre ein Kind oder Jugendlicher noch in den 1960er Jahren entmündigt worden, als dass der Leiter eines Kinderheims oder gar ein Pfarrer wegen sexueller Gewalt gegen Kinder zur Verantwortung gezogen worden wäre.

Erst in Folge der 68er Bewegung organisierten sich auch Kinder und Jugendliche selbstständig und in diesem Kontext wurde die Forderung von selbstbestimmter Sexualität von Kindern und Jugendlichen aufgriffen. In Gruppen wie der Indianerkommune und der heute besonders in der Kritik stehenden grünen „Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule, Päderasten und Transsexuelle“ waren Restbestände solcher Forderungen noch in der Schwundstufe enthalten.

Eine kritische Auseinandersetzung mit den von solchen Gruppierungen vertretenen Positionen wäre tatsächlich notwendig, Dann sollte aber auch über die Forderung nach selbstbestimmter Sexualität auch bei Kindern und Jugendlichen kontrovers diskutiert werden können und nicht in der Form eines Tribunals über diese Organisationen geurteilt werden. Doch der Zeitgeist steht dagegen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154270
Peter Nowak

Hier zählt noch Handarbeit

25 Jahre Zeitschrift »Interim«

Sie hat keinen Internetauftritt und keine Hochglanzfotos, manchmal sind die Seiten falsch zusammengeheftet – bei der »Interim« zählt eben noch Handarbeit. Und der Name ist Programm: Seit einem Vierteljahrhundert ist die Zeitschrift für die autonome Szene eine Zwischenlösung. Dabei ist es aber bis heute geblieben. Die Hoffnung der Gründer, sie durch eine bundesweite autonome Publikation zu ersetzen, erfüllte sich nicht.

Die erste Ausgabe erschien am 1. Mai 1988. »Ende der 80er Jahre standen die Menschen jeden Donnerstagabend Schlange und warteten auf die Auslieferung der neue Interim«, erinnert sich Hans Georg Lindenau, der den Laden für Revolutionsbedarf M99 in Berlin-Kreuzberg betreibt. Obwohl nach 25 Jahren nicht wenige Autonome der späten 80er Jahre den Marsch durch die Institutionen erfolgreich zurückgelegt haben, findet die »Interim« immer wieder neue Leser – wenn auch mit veränderten Erwartungen. Damals war sie wichtige Informationsquelle mit aktuellen Politterminen und den neuesten Diskussionspapieren. Heute finden sich Informationen wesentlich schneller im Internet, und in der »Interim« werden vor allem Schreiben der radikalen Linken abgedruckt, die ihre politischen Aktionen am Rande oder jenseits der Legalität vorstellen und begründen. So finden sich in der aktuellen Ausgabe Erklärungen zu antirassistischen Farbanschlägen ebenso wie der Abdruck eines Zeitungsartikels zur Farbbeutelattacke auf die Hamburger Villa des Schauspielers Til Schweiger, in dem dessen Engagement für den NATO-Einsatz in Afghanistan als Grund für den Anschlag genannt wird. Auch Aktionen gegen die Bekleidungsfirma KiK, der die Verantwortung für besonders ausbeuterische Arbeitsbedingungen in asiatischen Fabriken vorgeworfen wird, werden in der aktuellen Interim bekannt gemacht.

Das zieht nicht nur Leser aus der radikalen Linken an. Im Verfassungsschutzbericht hat die Interim alljährlich eine feste Rubrik in dem Bereich der »gewaltbereiten Linksextremisten«. Doch die Dienste blieben nicht in einer Beobachterposition. So stellte sich im Gerichtsverfahren gegen angebliche Mitglieder der Militanten Gruppe (MG) heraus, dass sich 2005 und 2006 BKA-Beamte unter dem Pseudonym »Die zwei aus der Muppetshow« an der Militanzdebatte in der Interim beteiligt hatten. Leser der Zeitschrift sollten auf die Website des BKA geführt werden, um Erkenntnisse über die Militante Gruppe zu gewinnen. Dort wurden 417 IP-Adressen der Besucher gespeichert und daraus 120 Nutzerdaten ermittelt, die bis 2009 zu keinen relevanten Ermittlungsergebnissen führten.

Für junge und alte Interim-Leser sind solche Vorkommnisse ein Grund mehr, nicht auf das Internet zu vertrauen. Daher hat die Zeitschrift auch nach 25 Jahren noch Leser, die die Publikation beim Szeneladen ihres Vertrauens abholen. Ob die Zwischenlösung auch weitere 25 Jahre anhält, wird auch von der Spendenbereitschaft der Leser abhängen. Vor allem die bundesweite Verschickung könne künftig nur aufrecht erhalten werden, wenn mehr Spenden fließen, heißt es in einem mit »letzte Mahnung« überschriebenen Aufruf in der aktuellen Ausgabe.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/821493.hier-zaehlt-noch-handarbeit.html

Peter Nowak

Konservative machen Druck auf Merkel

Mit der AfD als Vehikel fordert der rechte Flügel der Union, die konservativen Werte herauszustellen

Die neue Anti-Euro-Partei Alternative für Deutschland kann sich über mangelnde Beachtung nicht beklagen. Von der Linkspartei bis zur Union betonen alle im Bundestag vertretenen Parteien, wie ernst man die neue Partei nehmen muss. Dabei sind die Intentionen durchaus unterschiedlich.

Wenn Sarah Wagenknecht erklärt, dass die Eurokritik der AfD richtige Elemente enthalte, die Partei aber ansonsten wegen ihrer wirtschaftsliberalen Ausrichtung für Linke nicht wählbar sei, dann will sie in Erinnerung rufen, dass es eben auch Eurokritiker jenseits der AfD gibt. Damit will sie der neuen Partei den Nimbus des Tabubrechers nehmen, die als einzige ausspricht, was angeblich sonst niemand sagt.

Anders gelagert sind die Warnungen der CDU-Fraktionsvorsitzenden von Hessen, Sachsen und Thüringen, die in einem Brief an die Parteivorsitzende Merkel eine klare Positionierung gegenüber der AfD fordern. Die Gründung der AfD sei eine Herausforderung für die Union und müsse ernst genommen werden, schrieben Christean Wagner, Steffen Flath und Mike Mohring in einem Papier, aus dem das Nachrichtenmagazin Der Spiegel zitiert.

Das konservative Profil der Union schärfen

Für die drei Fraktionsvorsitzenden ist die neue Partei besonders gefährlich, weil sie nicht nur Eurogegner anziehe, sondern auch jenen eine neue politische Heimat bieten könne, denen Merkels Modernisierungskurs nicht konservativ genug ist. Die politische Kompetenz für konservative Themen müsse von der Union selbstbewusster herausgestellt werden, fordern die Verfasser des Briefes und machen damit deutlich, dass sie die AfD als Vehikel benutzen, um einen Rechtsruck in der Union durchzusetzen.

Seit Merkel in der Union Verantwortung trägt und Kohl entmachtet hat, gibt es das Lamento über den Modernisierungskurs der Frau aus dem Osten, die der Union die konservative Seele nehme. Zu einer Bibel der konservativen Merkel-Kritik wurde das Buch Die Patin, mit dem die Publizistin Gertrud Höhler der Kanzlerin deren DDR-Vergangenheit vorwirft. Nun legen die konservativen Autoren Günther Lachmann und Ralf Georg Reuth in dem kürzlich erschienenen Buch Das erste Leben der Angela M. nach und werfen ihr vor, was schon immer bekannt war: Dass Merkel in der DDR keine Oppositionelle war.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Merkel diese Angriffe eher als Sympathiewerbung nutzt. Bisher haben alle unionsinternen Merkelkritiker schnell aufgegeben. Die immer wieder prognostizierten Aufstände des geschassten westdeutschen Unionsnachwuchses, der Mitte der 1980er Jahre schon eigene Karrierepläne ausgearbeitet hatte, sind ausgeblieben. Friedrich Merz oder Roland Koch gingen dann doch lieber in die Wirtschaft, als Merkel in der Politik Paroli zu bieten.

Hofften manche Konservative in der Union noch auf die Nach Merkel-Ära, so werden heute schon Kandidaten aus dem Kreis der Modernisierer größere Chancen eingeräumt. Vorausgesetzt Merkel will überhaupt ihr Amt mittelfristig aufgeben und ihr passiert das Missgeschick nicht, die Wahlen im Herbst zu verlieren. Dass die Konservativen in der Union jetzt die AfD als Vehikel benutzen, um Druck auszuüben, wurde von Merkel scharf kritisiert. Man solle sie in Zukunft besser auf dem Handy anrufen, statt mit offenen Briefen die AfD erst richtig bekannt zu machen, soll Merkel nach einen Bericht der Welt auf einer Vorstandssitzung der Union gesagt haben.

Dass vielleicht einige konservative Unionsanhänger die AfD bekannt machen wollen, um ihre Position in der Union zu stärken, wird sie sicher nicht laut aussprechen. In Großbritannien, wo EU-kritische Rechtspopulisten von der Unabhängigkeitspartei bei den Kommunalwahlen Stimmengewinne verbuchten, hat der rechte Flügel der Tories auch sofort davon profitiert.

Bröckelt die Abgrenzung der AfD nach Rechtsaußen?

Ob die AfD allerdings je Wahlerfolge erzielen und nicht wie viele Kleinstparteien rechts von der Union enden wird, ist noch gar nicht sicher. Zu Zeit streitet sich die neue Partei über die Frage, wie weit sie sich nach rechts öffnen soll. Von einzelnen Mitgliedern werden Aufrufe der Zusammenarbeit mit den Republikanern und der Anti-Islampartei Die Freiheit angestrebt.

In rechten Internetmagazinen wird schon mit Freude festgestellt, dass die Abgrenzung der AfD in Richtung der Pro-Bewegung und der Republikaner bröckelt. Im thüringischen Ilmenau gibt es Streit, um das AfD-Engagement des wegen Holocaustrelativierung verurteilten, rechtslastigen Vertriebenenfunktionärs Paul Lattusek. Nachdem die Medien über seine Aktivitäten in der AfD berichtet haben, distanziert sich die Partei von ihm.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154266
Peter Nowak