Hat die Extremismustheorie zum Versagen der Sicherheitsbehörden beim NSU-Terror beigetragen?

Vor dem NSU-Prozess wächst die Kritik am Extremismusansatz

„Informationen über Extremisten jeder Art“ verspricht der bayerische Verfassungsschutzbericht 2012, der vom bayerischen Innenminister Herrmann (CSU) vorgestellt wurde. Ein eigenes Kapitel ist erneut der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) gewidmet, die als „bundesweit größte linksextremistisch beeinflusste Organisation im Bereich des Antifaschismus“ vorgestellt wird. Auch zahlreiche lokale antifaschistische Initiativen werden im VS-Bericht aufgeführt. Das sorgt für Kritik bei der Opposition.

Ende der Diffamierung gefordert

Einen Tag vor der Bekanntgabe des aktuellen VS-Berichts sind Politiker der Linken, Grünen und der SPD sowie Gewerkschafter mit einem Aufruf für ein „Ende der Diffamierung antifaschistischer und antirassistischer Aktivitäten“ durch den Verfassungsschutz an die Öffentlichkeit gegangen. Zu den Unterzeichnern des Aufrufs gehören die Bundestagsabgeordnete der Linken Eva Bulling-Schröder, der bayerische Jusovorsitzende Philipp Dees, die innenpolitische Sprecherin der Grünen im bayerischen Landtag Susanne Tausendfreund und der bayerische SPD-Landtagsabgeordnete Florian Ritter.

Auch die Antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle (aida, die in den vergangenen Jahren erheblich dazu beigetragen hat, dass die Praxis des bayerischen Verfassungsschutzes bundesweit in die Kritik geriet, hat den Aufruf unterschrieben. Sie hatte im letzten Jahr gerichtlich durchgesetzt, dass sie nicht mehr als „linksextremistisch beeinflusst“ bezeichnet werden darf. Entsprechende Stellen im VS-Bericht 2009 – 2011 mussten nachträglich geschwärzt werden.

Die Kritik an der Diffamierung antifaschistischer Aktivitäten hat nach Ansicht von Florian Ritter Spuren im aktuellen VS-Bericht erlassen. Dort werde mittlerweile zwischen den demokratischen „guten“ und den „bösen“ linken Antifaschismus unterschieden. „Lange Jahre wurde der Antifaschismus ohne jegliche Anführungsstriche als Problem des Linksextremismus bezeichnet“, so der SPD-Politiker im Gespräch mit Telepolis.

„Extremismuskonzept ist unwissenschaftlich“

Der Aufruf richtet sich aber auch gegen das Extremismuskonzept, das in Bundesländern mit konservativen Innenministern weiterhin die Leitlinie ist. Die in der Erklärung vertretene Einschätzung, das Extremismuskonzept sei „unwissenschaftlich und politisch brandgefährlich“, bekräftigt Ritter gegenüber Telepolis ausdrücklich. „Der Extremismusansatz ist in meiner Partei eine Minderheitenposition“, betont der SPD-Politiker. Der von ihm unterzeichnete Aufruf sei bewusst wenige Tage vor dem Beginn des NSU-Prozess veröffentlicht worden.

Ein Teil der Blindheit der deutschen Sicherheitsbehörden, gegenüber der rechten Gewalt könne auf den Extremismusansatz zurückgeführt werden. In dem Aufruf wird daran erinnert, dass viele der im VS-Bericht aufführten Initiativen seit Jahren für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten eintreten, sich für eine antifaschistische Erinnerungspolitik einsetzen und mit ihren Recherchen erst die extreme Rechte öffentlich problematisiert hätten. Auch an der bundesweiten Demonstration, die mit mehreren Tausend Menschen gestern in München stattfand, beteiligen sich viele der unterzeichnenden Gruppen. Für die Teilnehmer ist, anders als die öffentliche Debatte der letzten Wochen in Deutschland suggeriert, nicht die Teilnahme bestimmter türkischer Zeitungen am NSU-Prozess das Problem, sondern die Rolle von Politik und Institutionen, die diese Mordserie möglich machte.

Initiative in Thüringen lehnte Preis ab

Auch in Thüringen hat die Diskussion um das Extremismuskonzept wieder neue Impulse bekommen, nachdem der Antifaschistische Ratschlag Thüringen, ein Bündnis aus über 30 Gruppen, am vergangenen Donnerstag einen mit 4.000 Euro dotierten Preis abgelehnt hat. Dem Ratschlag war die Auszeichnung im Rahmen des bundesweiten Wettbewerbs „Aktiv für Demokratie und Toleranz“ für ihr zivilgesellschaftliches Engagement „im Kampf gegen rechte Gewalt, Antisemitismus und Rassismus“ verliehen worden.

„Einen Preis, der unter dem politischen Kampfbegriff Extremismus vergeben wird, können wir nicht annehmen“, begründete eine Sprecherin des Ratschlags gegenüber Telepolis die Entscheidung. In der Kritik stand auch der für die Preisübergabe vorgesehene Politologe Uwe Backes, der von den Kritikern als „einer der einflussreichsten Propagandisten der Extremismustheorie“ bezeichnet wurde.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154096
Peter Nowak