„Würde der ungarischen Nation“ oder „europäische Werte“

Straft die EU die ungarische Regierung ab?

Der Ton zwischen der EU und der rechtskonservativen ungarischen Regierung verschärft sich. Die EU-Kommissarin für Justiz, Viviane Reding, hat dem Land jetzt sogar mit dem partiellen Entzug des Stimmrechts und Kürzungen bei EU-Hilfen gedroht. Anlass sind dieses Mal die Verfassungsänderungen, die das von der rechtskonservativen Fidesz dominierte Parlament beschlossen hat und der ungarische Präsident unterschreiben will.

Es geht um verschiedene Paragraphen, die in das gesellschaftliche Gefüge eingreifen. So dürfen die Verfassungsrichter beschlossene Gesetze künftig nur noch auf formelle Fehler überprüfen, deren konkreten Inhalt aber nicht mehr bewerten. Überdies soll die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts nur noch auf Grundlage der 2011 von Fidesz verabschiedeten neuen Verfassung erfolgen, die Berufung auf frühere Urteile des Verfassungsgerichts soll so ausgeschlossen sein. Schließlich soll ein von der Regierung ernannter „Präsident der Nationalen Gerichtskammer“ das Recht erhalten, bestimmte Streitfälle an ausgewählte Gerichte zu überweisen.

Würde der ungarischen Nation steht über Meinungsfreiheit

Zu weiteren Kernpunkten der Verfassungsänderung gehört das Verbot von Wahlwerbung in privaten Medien, Obdachlose soll untersagt werden, sich auf „öffentlichen Flächen“ aufzuhalten dürfen. Zudem soll die Meinungsfreiheit künftig da ihre Grenzen haben, wo die „Würde der ungarischen Nation“ verletzt wird. Mit diesem Gummibegriff kann jede den Rechten missliebige Meinung verfolgt werden.

Verständlich also, dass sich in den letzten Wochen liberale und linke Gruppen gegen die Verfassungsänderungen mit Demonstrationen und Blockaden vor Parteibüros der Fidesz wehrten. Dass der Generalsekretär der Partei danach die Bildung einer eigenen Parteimiliz in die Diskussion brachte, macht noch einmal deutlich, was die Regierungspartei von Demokratie hält. Daher ist eine Kritik an dem Rechtskurs in Ungarn auch über Landesgrenzen hinweg erfreulich.

Wer sich über die sozialen und ökonomischen Hintergründe der autoritären Entwicklung in Ungarn informieren will, kann seit einigen Wochen auf ein informatives Buch mit dem Titel Mit Pfeil, Kreuz und Krone zurückgreifen, das von dem Soziologen Holger Marcks, dem Journalisten Andreas Koob und der Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky vor wenigen Wochen herausgegeben wurde. Bei einem europäischen Widerstand gegen das autoritäre Regime in Budapest könnte an der Mobilisierung gegen die Regierungsbeteiligung der Haider-FPÖ vor mehr als 10 Jahren in Österreich angeknüpft werden.

EU als autoritäre Bürokratie

Doch ein solcher länderübergreifender zivilgesellschaftlicher Widerstand wird konterkariert durch Versuche der EU-Gremien, sich als letzte Instanz in Sachen europäische Werte aufzuspielen. Wenn die Justizkommissarin Reding darauf verweist, dass die EU als Hüterin der Verträge nicht zulassen wird, dass diese mit Füßen getreten werden, agiert sie selber wie eine autoritäre Behörde, die sich in Belange einer Regierung einmischt, die von einer großen Mehrheit der Bevölkerung gewählt worden ist – anders als die Justizkomissarin Reding, die bekanntlich wie das gesamte EU-Spitzenpersonal ein Produkt der Bürokratenschicht ist und zudem kaum bekannt.

Und sind die europäischen Werte, die jetzt von Reding gegen die ungarische Regierung herangezogen werden, nicht ein genau solcher Gummibegriff, wie die Würde der ungarischen Nation, mit der Fidesz ihre Politik flankiert? Schließlich haben diese EU-Werte nicht im Wege gestanden, als die EU-Gremien in Griechenland und Italien demokratische Grundsätze ignorierten, um ein ihnen gemäßes Wirtschaftsmodell durchzusetzen.

Man braucht nur an die Stunden und Tage zurückzudenken, als der damalige sozialdemokratische griechische Ministerpräsident Papandreous das von der EU diktierte Sparprogramm der Bevölkerung zur Abstimmung vorlegen wollte, um erkennen, dass die europäischen Werte auch nur eine Variante autoritärer Politik sind. Sie haben die Herausbildung eines Machtblocks EU zum Ziel, der neben den USA und asiatischen Blöcken ökonomisch und irgendwann auch militärisch agieren kann. Der ungarische Rechtsblock hingegen will mit seiner autoritären Politik einen eigenen kleinen Machtblock herausbilden und beruft sich dabei wie alle Nationalismen auf eigene Geschichtsmythen.

Damit geriet die ungarische Regierung nicht zum ersten Mal in Konflikt mit den EU-Institutionen. Die kleine zivilgesellschaftliche Bewegung in Ungarn steht sicher in Versuchung, angesichts ihrer Marginalität im Inland die Berufung auf die europäischen Werte als zumindest kleineres Übel hinzunehmen. Doch im Grunde ist es ein Fehler, ein autoritäres Konzept gegen das andere zu stellen.

Wenn nun auch noch im deutschen Bundestag in einer aktuellen Stunde Politiker der verschiedenen Parteien ihre Besorgnis über die Entwicklung in Ungarn ausdrücken und die Oppositionsparteien die Regierung mahnen, die „europäischen Werte“ in Budapest deutlicher zum Ausdruck zu bringen, wird die Heuchelei nur fortgesetzt. Die Romafamilien aus Ungarn, die in Deutschland leben wollen, werden deshalb von Politik und Gesellschaft kein Deut besser behandelt.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153937
Peter Nowak

»Wir sind Bert Neumann«

Protest gegen Streichung des Arbeitslosengeldes am Jobcenter in Forst

„Wir sind Bert Neumann“ stand auf der Rückseite der bunten Westen, die Erwerbslosenaktiven am Dienstagnachmittag bei ihrer Protestkundgebung vor dem Jobcenter Forst trugen. Ca. zwei Dutzend Menschen hatten sich dort versammelt, um gegen Sanktionen unter Hartz IV zu protestieren. Anlass war der Fall eines Erwerbslosen, den kurz vor Weihnachten mitgeteilt wurde, dass er ab 1. Januar für drei Monate kein Geld (Hartz IV) mehr erhält.
„Die Minderung erfolgt für die Dauer von drei Monaten und beträgt 100 % des Arbeitslosengeld II“ hieß es in dem Schreiben (ND berichtete). Damit wurde er sanktioniert, weil er einen Computerkurs abgebrochen hatte, den er mehrmals hintereinander besuchen sollte. „Wir lernten in dem Kurs, wie man einen Computer anschaltet und die Maus bedient. Da ich aber schon lange mit dem Computer arbeite, war das für mich überhaupt nichts Neues“, so der Erwerbslose. Obwohl er die Gründe für seine Ablehnung des Kurses dem Jobcenter darlegte, kam die dreimonatige Hartz IV-Sperre.
„Diese 100%-Sanktion bedeutet, dass er laufende Kosten für Wohnung, Strom, Gas, Internet und Wasser nicht mehr begleichen kann,“ beschreibt der Sprecher des Freundeskreises Bert Neumann Erik Hofedank die Folgen für den von der Hartz IV-Streichung Betroffenen. Neumann ist kein Einzelfall. Die Zahl der Erwerbslosen, die mit Null-Euro überleben sollen, wächst. Doch die wenigsten gehen wie Bert Naumann an die Öffentlichkeit und wehren sich die Sanktionen. Der Freundeskreis hatte im Februar eine Diskussionsveranstaltung organisiert, wo unterschiedliche Formen des Widerstands von Erwerbslosen diskutiert wurden. Mit der Kundgebung am Dienstag knüpfen die Aktivisten an die Aktionsform des Zahltags an, mit dem Erwerbslose in verschiedenen Städten vor und in Jobcentern gegen Sanktionen und Schikamen mobilisieren. Der Besuch des Brandenburgischen Ministerpräsidenten Platzeck und seines Regierungskabinetts am Dienstagnachmittag in dem Kreishaus, in dem auch das Jobcenter untergebracht ist, sollte für den Protest gegen die Auswirkungen von Hartz IV genutzt werden.
„Mit der Parole „Wir sind alle Bert Neumann“ machen wir deutlich, dass die Sanktionen einzelne trifft, gemeint sind aber alle, die sich wehren“ betonte Hofedank.
Wie bei Zahltagaktionen in anderen Städten verteilten sich die Aktivisten mit ihren bunten Westen in den Etagen de Jobcenters und wurden so von den Erwerbslosen interessiert wahrgenommen. Auf Falterblättern wurde den Erwerbslosen Informationen in die Hand gegeben, wie sie sich am Amt wehren Dazu gehört die Aktion „Keiner muss allein zum Amt“, bei der Erwerbslose von Personen ihr Wahl auf das Jobcenter begleitet werden. Doch das wurde auch praktisch umgesetzt. Bert Neumann forderte mit einer Begleitperson von seiner Sachbearbeiterin das Ende Hartz IV-Entzugs. Die wollte sich darauf nicht einlassen, sicherte aber zu, dass er ab 1. April wieder die Hartz IV-Leistung bekommt und die Essensgutscheine nicht davon abgezogen werden. Auch die schlechte medizinische Versorgung von Erwerbslosen wurde angesprochen. Obwohl Neumann an einer chronischen Magen-Darm-Entzündung leitet, fand er in Forst keinen Arzt, weil neue Patienten nicht mehr aufgenommen wurden. . Diese Probleme wurden von Jobcenter-Mitarbeitern bestätigt, die von einen Ärztemangel in der Region sprechen, von dem Erwerbslose besonders stark betroffen sind.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/815871.wir-sind-bert-neumann.html
Peter Nowak

Griechenland im Koma?

Kirsten Schubert, Referentin für Gesundheit bei Medico International

nd: Gemeinsam mit Ärzten von Medico International und dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte haben Sie Ende Februar Griechenland besucht. Mit welchen Erkenntnissen?
Schubert: Bei unseren Gesprächen mit Ärzten, Aktivisten und Politiker in Athen und Thessaloniki wurde sehr schnell klar, dass die Medienberichte zutreffen. Dass die Krise massive Konsequenzen für den medizinischen Sektor hat.

2.) Können Sie ein Beispiel nennen?
K.S. Wir haben das das größte Athener Krankenhaus besucht. Dort haben uns die Ärzte mitgeteilt, dass ein Großteil der Patienten nicht mehr krankenversichert ist. Die offiziellen Zahlen liegen bei 30 %, in der Realität aber liegen sie bei bis zu 50%. Ein Teil der Arbeit der Ärzte besteht mittlerweile darin, dafür zu sorge, dass die Patienten an ihre Behandlungsmöglichkeiten kommen, auch wenn sie nicht krankenversichert sind. Da gibt es kreative Ideen. Manche Ärzte raten ihren Patienten beispielsweise nachts aus der Klinik zu verschwinden.

3.) Welche Menschengruppen sind am stärksten von der Krise im Gesundheitswesen betroffen?
Das sind Patienten mit psychischen Problemen und chronisch Kranke. Die kommen oft nicht mehr an ihrer dringend benötigenden Medikamente oder gehen zu spät zum Arzt. Die folge ist dann in einer schleichender Tod.

4.) Wie ist die Situation im Bereich der Psychiatrie?
Dort ist die Situation besonders katastrophal. Es ist schließlich die Politik der Troika hier besonders starke Einsparungen vorzunehmen. Die Rede ist von Kürzungen von bis zu 40 %. überlaufen. Wir haben eine psychiatrische Abteilung des größten griechischen Krankenhauses besucht. Dort lagen mindestens 20 Patienten auf Pritschen im Flur.

5.) Wie gehen die Ärzte und Patienten mit der Situation um?

Wir haben zwei solidarische Klinken besucht, die von Ärzten, Patienten und sozialen Initiativen gegründet worden sind. Dort werden nichtversicherte Patienten behandelt. Die Finanzierung läuft ausschließlich auf Spendenbasis. Dabei haben wir bei unseren Besuch sehr kreative Ideen erlebt. Eine Nachbarschaftsinitative hat zu einem Fest eingeladen, auf den Speisen und Getränke verkauft wurden. Die Einnahmen kommen der solidarischen Klinik zu gute. Andere Gruppen organisieren Veranstaltungen, um die Klinik zu finanzieren.

6.) Geht es dabei nur um medizinische Hilfe?
Die solidarischen Kliniken sind ein gutes Beispiel für eine soziale und politische Initiative. Wir haben eine Demonstration besucht, wo es um die Forderung nach gesundheitlicher Versorgung für Alle gegangen ist. Dabei ist die Kooperation zwischen Medizinern, Patienten und sozialen Initiativen aus der Stadtteil eine wichtige Grundlage.

7.) Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus dem Besuch?
Wir haben in dem griechischen Gesundheitssystem Phänomene wieder gefunden, die Medico in den 70er und 80er Jahren in Lateinamerika angeklagt hat. Auch dort waren sie eine Folge der Strukturanpassungsmaßnahmen, die zu einem massiven Einschnitt bei sozialen Leistungen auch im Gesundheitswesen führten. Diesen Zusammenhang wollen herstellen und die verschiedenen Möglichkeiten aufzeigen, wie die solidarischen Klinken unterstützt werden können
https://www.neues-deutschland.de/artikel/814891.griechenland-im-koma.html
Interview: Peter Nowak

Eine halbe Million


Belzec – das vergessene Vernichtungslager

Auschwitz, Treblinka, Sobibor, die Namen dieser deutschen Vernichtungslager im von der Wehrmacht besetzten Polen sind in einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Das 40 Kilometer südlich von Zamoscz errichtete Vernichtungslager Belzec hingegen war lange Zeit weitgehend vergessen. Dabei sind dort zwischen Februar und Dezember bis zu einer halben Million Juden sowie Sinti undm Roma ermordet worden. Danach wurde das Lager aufgelöst und die Täter pflanzten Pflanzen und Gras über der Todesstätte. Jetzt hat Berliner Metropol-Verlag die erste deutschsprachige Untersuchung zu Belzec herausgegeben. Autor ist der polnische Historiker Robert Kuwalek, der Mitarbeiter des Staatlichen Museums Majdanek in Lublin ist und von 2004 bis 2009 die Gedenkstätte Belzec leitete.
Kuwalek versteht es in seinem Buch detaillierte Informationen so darzustellen, dass sie auch für historische Laien gut nachvollziehbar sind. In den ersten beiden Kapiteln fasst der aktuellen Forschungsstand zu den Entscheidungsprozessen unter den NS-Eliten zusammen, die zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung führte. Dabei weist er nach, dass die als T4-Aktion bekannten Morde an als Geisteskrank erklärten Menschen der Probelauf für die Shoah war.
Anders als die anderen Vernichtungslager lag Belzec nicht abseits im Wald sondern an einer zentralen Bahnlinie. Daher widmete sich Kuwalek ausführlich der Frage, was darüber bekannt war. Die Bewohner der Umgebung waren über die Massenmorde informiert. Dafür sorgte schon der süßliche Geruch über dem Areal. Kuwalek zitiert auch aus Berichten von Zugpassagieren, die damals aufgefordert wurden, die Fenster in ihren Abteilen zu schließen. Es gab allerdings vor allem unter den NS-Chargen auch einen Holocaust-Tourismus. Sie berichten darüber auch ihren Familien. Nach 1945 wollten natürlich alle nichts gewusst haben. Auch bei den aus ganz Polen und der heutigen Ukraine nach Belzec deportierten Juden sprach sich bald rum, dass es sich dabei nicht um eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Osten handelte, wie die NS-Propaganda den Opfern anfangs vorgaukelte. Später verzichteten sie auf diese Camouflage. In mehreren dokumentierten Berichten wird die Brutalität deutlich, mit denen die deutschen Täter und ihre ukrainischen Helfer schon beim Transport mit den Juden umgingen. Ein großer Teil war schon tot, als sie in Belzec ankamen.
Sehr kritisch geht Kuwalek auch mit polnischen Geschichtsmythen in Polen um. So widerlegt er Berichte über Tausende in Belzec umgekommenen Polen. Zudem hätten Bewohner der umliegenden Dörfer noch bis Ende der 40 Jahre auf der Suche nach Wertgegenständen die Leichen ausgegraben. Mit Chaim Hirszman ist einer der wenigen Überlebenden von Belzec am 19. März 1946 von rechten Untergrundgruppen, die gegen die entstehende Volksrepublik Polen kämpften, in seiner Wohnung ermordet wurden. Wenige Stunden zuvor hatte er vor einer historischen Kommission über seine Erlebnisse in Belzec berichtet. Hirszman war schon in den 30er Jahren in der sozialistischen Jugendbewegung aktiv. Ein eigenes Kapitel widmet Kuwalek dem christlichen SS-Mann Kurt Gerstein, der nach einen Besuch in Belzec über die Zustände so erschüttert war, dass er Diplomaten informierte, um die Weltöffentlichkeit wachzurütteln. Vergeblich, Gerstein starb in französischer Haft, wo er mit NS-Tätern in eine Zelle gesperrt war. Die für die Morde in Belzec Verantwortlichen hingegen wurden bis auf ganz wenige Ausnahmen nie bestraft.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/815526.eine-halbe-million.html

Peter Nowak
Robert Kuwalek, Das Vernichtungslager Belzec, Aus dem Polnischen übersetzt von Steffen Hänschen, Metropol Verlag, Berlin, 2012, SBN: 978-3-86331-089-0, 392 Seiten, 24,– Euro

Boom der Containersiedlungen

In Polen regt sich Widerstand gegen Vermieterwillkür
Wohnungsmangel, steigende Mieten und Verdrängung sind nicht nur in Deutschland bekannt. In vielen Ländern der Welt sind die Probleme ähnlich, regt sich aber auch Widerstand. Eine Veranstaltungsreihe in Berlin wirft einen Blick auf die Situation außerhalb Deutschlands.

In den letzten Monaten ist in Berlin eine Mieterbewegung entstanden, die einige Zwangsräumungen verhindert hat und mit der »Kotti-Hütte« mitten in Kreuzberg ein sichtbares Zeichen setzt. In mehreren Veranstaltungen unter dem Titel „Krise – Neoliberalismus – Kämpfe – Perspektiven“ wollen sich die Aktivisten über Mieterkämpfe in anderen Ländern informieren. Vor einigen Tagen berichteten die Poznaer Mieteraktivisten Katarzyna Czarnota und Magdalena Łuczak über das Anwachsen der Containersiedlungen am Rande von Polens Städten. Dort müssen Menschen leben, die aus ihren Wohnungen vertrieben wurden. Oft werde von den Hauseigentümern nicht der juristische Weg beschritten, weil er ihnen zu lang erscheint. „Da kommen drei kräftige Männer und fordern die Mieter im Auftrag des Vermieters zum schnellen Verlassen der Wohnungen auf und bieten eine kleine Entschädigung an“, berichtet Czarnota über eine Praxis der Entmietung. Bei vielen Menschen habe dieser Druck erfolgt. Dazu habe auch die allgemeine Entpolitisierung beigetragen. Nach 1989 sei die Marktwirtschaft zum Inbegriff der neuen Freiheit erklärt worden. Solidarität und Widerstand dagegen seien verpönt gewesen. Erst in den letzten Jahren haben die Proteste gegen die Vermieterwillkür zugenommen. Dabei hätten anarchistische Gruppen Unterstützung geleistet und die Mieter ermutigt, sich nicht in die Containerstädte vertreiben zu lassen. Berichte über die dortigen Wohnverhältnisse haben zur Gegenwehr beigetragen. Die Klagen über mangelnde Wärmeisolierung, verschimmelte Teppiche und Räume, die trotz voll aufgedrehter Heizung nicht wärmer als 15 Grad werden, machten die Runde. „Von der Zimmerdecke tropft Wasser. Ich kann hier kein normales Leben gewährleisten“, berichtet eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern über das Leben in der Containersiedlung.
Angesichts solcher Zustände wächst die Zahl der Mieter, die sich trotz Drohungen und Druck von Seiten der Vermieter nicht aus ihren Wohnungen vertreiben lassen. Magdalena Łuczak aus der Stolarska Straße gehört zu ihnen. Die Stolarska, das Haus, in dem sie wohnt, ist mittlerweile über Poznan hinaus zum Symbol des Mieterwiderstands geworden. „Wir lassen uns von den Vermietern und ihren Räumungsspezialisten nicht mehr einschüchtern“, diese Botschaft wird auch in anderen polnischen Städten gerne aufgegriffen. Dass ein solcher Widerstand lebensgefährlich sein kann, zeigt der bis heute unaufgeklärte Tod der Warschauer Mieteraktivistin Jola Brzeska. Sie stellte sich den Entmietungsplänen ihres Hauseigentümers entgegen und wurde am 7. März 2011 verbrannt in einem Wald bei Warschau aufgefunden. Weil die polnische Justiz die Ermittlungen beenden will, haben Warschauer Aktivisten eine Kampagne gestartet. Sie fordern die Aufklärung über die Hintergründe ihrer Ermordung. Jetzt könnte es auch aus Deutschland Unterstützung für diese Forderungen geben. Unter http://www.youtube.com/user/WohneninderKrise sind Filme über den polnischen Mieterwiderstand zu finden. Am 18. April wird es in de Veranstaltungsreihe um Spanien gehen, das mit der Bewegung gegen Zwangsräumungen auch den Aktivisten in Deutschland Impulse gegeben hat.
http://www.bmgev.de/

https://www.neues-deutschland.de/artikel/815628.boom-der-containersiedlungen.html
Peter Nowak

Protest in Bildern, Lesungen und Filmen

Am 16. März wird im Stadtteilzentrum »Centro Sociale« die Ausstellung »Kultur und Widerstand von 1967 bis heute« eröffnet. Bis zum 24. März wird es dort Filme, Lesungen, Diskussionsveranstaltungen zu Repression gegen Fußballfans, der Kriminalisierung kurdischen Widerstands oder auch zum massiven Polizeiaufgebot gegen AKW-Gegner in der BRD vor 30 Jahren geben. Eine Veranstaltung wird sich der Geschichte des 1981 im Hungerstreik gestorbenen Gefangenen Sigurd Debus widmen. »Die Ausstellung will einen Beitrag zur Popularisierung einer politisch engagierten Kultur leisten«, sagt Wolfgang Lettow von der Zeitschrift »Gefangeneninfo«. Sie soll in den nächsten Monaten in Berlin, Stuttgart und Magdeburg gezeigt werden. political-prisoners.net

http://www.neues-deutschland.de/artikel/815627.bewegungsmelder.html

Peter Nowak

Wann kommt die Rente mit 69?

Eine von der Bertelsmannstiftung in Auftrag gegebene Studie wird für eine solche Debatte instrumentalisiert

Wenn von Reformen die Rede ist, kann man schon seit Jahrzehnten voraussagen, dass damit neue Belastungen für viele Menschen angekündigt werden. Das zeigt sich am Medienceho einer von der Bertelsmannstiftung in Auftrag gegebenen Studie zur Zukunft des Rentensystems in Deutschland, in der für einschneidende Reformen geworben wurde. Erstellt wurde die Studie von dem Bochumer Sozialwissenschaftler Martin Werding. Dort werden durchaus Forderungen erhoben, wie sie auch von Vertretern eines solidarischen Rentensystems schon länger vertreten wurde. So sollen auch Beamte und Selbstständige in das Rentensystem einzahlen, um die Rentenfinanzierung auf eine breitere Grundlage zu stellen.

Die FAZ, hingegen stellte in ihrer Überschrift eine andere Forderung ins Zentrum: „Die Rente mit 69 wird bald nötig“. Tatsächlich klingen die Töne in der Studie alarmistisch: „Wenn die geburtenstarken Jahrgänge 1955 bis 1970 demnächst aus dem Berufsleben ausscheiden, wird das Niveau der Renten in Deutschland weiter sinken und der Beitragssatz steigen müssen. Um eine langfristige Unterfinanzierung der gesetzlichen Rentenkassen zu verhindern, reichen einzelne Veränderungen nicht aus, sondern nur ein Paket an Maßnahmen.“

Welchen Stellenwert hat die Demografie in der Rentendebatte?

Tatsächlich wird in der Studie sehr stark mit dem demographischen Faktor argumentiert:

„Während heute der Anteil der über 65-Jährigen bei 30 Prozent liegt, sieht die Prognose für2030 einen Anteil von 49 Prozent und für 2060 von 63 Prozent. Damit entsteht spätestens ab 2030 ein neuer Anpassungsbedarf in der gesetzlichen Rentenversicherung. Zwar werden sich bis 2030 die Veränderungen von Beitragssatz und Rentenniveau in Grenzen halten. So wird der Beitragssatz auf 21,3 Prozent ansteigen, während das Rentenniveau auf 45,2 Prozent absinkt. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Geburtenrate gleichbleibt, die Lebenserwartung nur zwei Jahre pro Dekade steigt und die Nettozuwanderung bei durchschnittlich 150.000 pro Jahr liegt. Die weitere Fortschreibung dieser Größen bis zum Jahr 2060 würde allerdings dazu führen, dass der Beitragssatz auf 27,2 Prozent ansteigen muss, wenn wenigstens noch ein Rentenniveau von 41,2 Prozent erreicht werden soll.“

Sozialwissenschaftler wie Christoph Butterwegge wenden sich scharf gegen demografische Argumente für weitere Einschnitte in das Sozialsystem. Der „demografische Niedergang“ habe die Funktion, den „neoliberalen ‚Um-‚ bzw. Abbau des Sozialstaats und drastische Leistungskürzungen zu legitimieren“, konstatiert Butterwegge. Er kam schon 2002 zu dem Fazit:

„In den medialen Diskursen zur sozialen Sicherung erörtert man jedoch nicht, wie aus einer Verschiebung der Altersstruktur ggf. resultierende Schwierigkeiten solidarisch bewältigt werden können, z.B. durch die Verbreiterung der Basis des Rentensystems, die konsequente Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Erhöhung der Frauenerwerbsquote und/oder die Erleichterung der Zuwanderung. Stattdessen fungiert die ‚immer ungünstigere Altersstruktur‘ als Grundlage der Rechtfertigung für Sozial- und Rentenkürzungen.“

Der von der Bertelsmann-Stiftung neu entfachte Diskurs bestätigt Butterwegges Warnungen. Die Rente mit 69 wird von der Bundesregierung keineswegs ausgeschlossen, nur als gegenwärtig nicht vordringlich auf spätere Zeiten verschoben. Zunächst müsse die Rente mit 67 durchgesetzt werden, erklärt ein Sprecher des Bundesarbeitsministeriums. Vehement wandte er sich allerdings gegen die Einbeziehung von Beamten und Selbstständigen in die Rentenversicherung. Damit würde die Klientel der Bundesregierung tangiert, der man im Wahljahr eine Beteiligung an einer solidarischen Rente nicht zumuten will.

Stellt man aber die Rentenfinanzierung nicht auf eine breitere Grundlage, wird die Erhöhung des Rentenalters als Sachzwang verkauft. Schon vor einigen Wochen lieferte die konservative Welt die passende Umfrage, nach der schon mehr als die Hälfte der Befragten sich auf eine schrumpfende Rente und der Erhöhung des Rentenalters einstellen. Dabei könnte man ja auch mal nach Frankreich blicken, wo es in den letzten Jahren einen der längsten Streiks gegen eine Erhöhung des Rentenalters gab. Seit kurzen gibt es einen informativen Film mit deutschen Untertiteln über diesen Ausstand, der fast das gesamte Land lahmlegte.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153908
Peter Nowak

„Das größte Massaker der Berliner Revolutionsgeschichte“

WISSENSCHAFT Der Historiker Dietmar Lange hat einen Generalstreik erforscht, der im März 1919 blutig niedergeschlagen wurde

taz: Herr Lange, was interessiert Sie an einem Generalstreik, der vor fast einem Jahrhundert stattgefunden hat?

Dietmar Lange: Zum einen wollte ich die Streikbewegung vom Frühjahr 1919 erforschen, die Forderungen nach sozialökonomischen Umwälzungen mithilfe der Räte ausdrückte. Außerdem interessierte mich die blutige Niederschlagung der Bewegung durch das Bündnis von rechter SPD-Führung und Freikorps. Beides erreichte im Generalstreik und den Märzkämpfen in Berlin einen Höhepunkt, ist heute aber weitgehend in Vergessenheit geraten. Insbesondere die sehr brutalen militärischen Einsätze, die in Berlin zum größten Massaker der gesamten Berliner Revolutionsgeschichte führten, bedürfen einer gründlichen Aufarbeitung.

Warum war das Interesse bisher so gering?

Die Auseinandersetzung um eine gesellschaftliche Umwälzung nach der Novemberrevolution gilt auf politischer Ebene als entschieden – mit den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 zugunsten der parlamentarischen Republik. Die Ereignisse im Frühjahr 1919 wurden deshalb weniger erforscht.

Was haben die Streikenden gefordert?

Die Sozialisierung der Schlüsselindustrien, eine Heeresreform sowie die rechtliche Verankerung der Räte in der Verfassung. Das waren uneingelöste Forderungen, die bereits der 1. Reichsrätekongress 1918 aufgestellt hatte.

Wurde nur in Berlin gestreikt?

Die Streikbewegung blieb nicht auf Berlin beschränkt, sie war aber regional zersplittert und setzte zeitlich ungleichmäßig ein. Der Grund war vor allem eine nur lose Koordination zwischen den einzelnen Streikzentren im Ruhrgebiet, Mitteldeutschland und Berlin. Im Ruhrgebiet setzte der Streik nach dem Einmarsch von Freikorpsverbänden zu früh ein und war bereits zusammengebrochen, als er in Berlin begann. Dort wiederum hat er wegen der Verzögerungstaktik der SPD-Fraktionsführung in den Räten zu spät eingesetzt.

Wieso kam es mit Streikbeginn zu großen Unruhen, obwohl sich die Streikleitung von allen Aufstandskonzepten distanziert hat?

Viele Indizien deuten auf eine gezielte Provokation der Militärs beim Beginn der Ausschreitungen hin – und vor allem bei der Eskalation der Kämpfe mit den Soldatenwehren. Falschmeldungen von getöteten Polizisten wurden verbreitet. So wurde ein Klima erzeugt, das erstens die Ausrufung des Belagerungszustands über Berlin ermöglichte, zweitens die Ausschaltung der in der Novemberrevolution geschaffenen Soldatenwehren zugunsten der rechten Freikorps und drittens das Blutbad unter den revolutionären Arbeitern und Soldaten.

Wie viele Menschen sind in Berlin umgekommen?

Die genaue Zahl der Toten und Verletzten wurde nie ermittelt. Der verantwortliche SPD-Minister Gustav Noske sprach von 1.200 Toten in Berlin. Die meisten sind nicht in den Kämpfen gestorben, sondern nach der Verhaftung standrechtlich erschossen worden. Andere starben bei der Bombardierung von Arbeiterquartieren durch schwere Artillerie und Fliegerbomben.

Sind die Orte der Massaker bekannt?

An der damaligen Zahlstelle der Volksmarinedivision in der Französischen Straße 32 wurden 30 revolutionäre Soldaten erschossen, die ihren Sold abholen wollten. 11 Aufständische wurden an der Mauer des Lichtenberger Friedhofs hingerichtet. Die meisten wurden in den Standgerichten erschossen, die überall in Berlin errichtet worden waren und bis Mitte März im Schnellverfahren Todesurteile vollstreckten.

Wäre es nicht an der Zeit für einen Gedenkort für die Opfer?

Ich würde mich freuen, wenn die Diskussion darüber beginnen würde. An der Karl-Marx-Allee erinnern 40 Gedenkstelen an historische Ereignisse der 1848er Revolution bis zur Gegenwart. Obwohl bei der Zerschlagung des Generalstreiks im März 1919 die Gegend um die heutige Karl-Marx-Alle eine große Rolle spielte, fehlt bisher jeder Hinweis darauf. INTERVIEW: PETER NOWAK

Dietmar Lange

32, hat an der Freien Universität Geschichte und Philosophie studiert und promoviert zur Streikgeschichte in Deutschland und Italien. Er ist außerdem Mitglied im Vorstand des Fördervereins für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung.

Der Generalstreik

Anfang März 1919 endete ein Generalstreik in Berlin in einem Blutbad. Der Berliner Historiker Dietmar Lange hat darüber das Buch „Massenstreiks und Schießbefehl – Generalstreik und Märzkämpfe in Berlin 1919“ im Verlag edition assemblage veröffentlicht. Am Donnerstag um 19 Uhr berichtet Lange über seine Forschungen zu dem in Vergessenheit geratenen Massaker in der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Franz-Mehring-Platz 1. Am 17. März veranstalten linke Gruppen gemeinsam mit Lange einen historischen Spaziergang zu den Schauplätzen von Widerstand und Terror im März 1919. Treffpunkt ist 15 Uhr am U-Bahnhof Weberwiese. (pn)

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2013%2F03%2F12%2Fa0143&cHash=bcfa301e6f623c5863245fdd729cb36a
Interview: Peter Nowak:

Staatlich geförderte Esoterik

Die Skeptiker starten Petition gegen Waldorfschule

In Hamburg soll im Schuljahr 2014/15 die erste Waldorfschule in staatlicher Regie eingerichtet werden. Das dürfte ganz im Sinne eines umweltbewussten grünen Mittelstands sein, der die Waldorfpädagogik als antiautoritäre Alternative zum herkömmlichen Schulsystem schätzt. Widerstand hingegen kommt von der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften. Die Organisation beschäftigt sich kritisch mit den verschiedenen Formen von Esoterik, magischen Denken und Aberglauben.

In diese Reihe stellt die GWUP auch die von Rudolf Steiner entwickelte Anthroposophie, die die weltanschauliche Grundlage für die Waldorf-Pädagogik bildet. Mit einer Online-Petition wollen die Skeptiker, wie sich die GWUP-Aktivisten selber bezeichnen, die Waldorfschule in staatlicher Regie noch verhindern. Damit werde antiaufklärerisches und antiwissenschaftliches, im schlimmsten Fall sogar rassistisches Gedankengut in das staatliche Schulsystem eingespeist, befürchten die Initiatoren.

Mit ihrer scharfen Frontstellung gegen die verschiedenen Spielarten von Obskurantismus und Esoterik macht sich die GWUP nicht nur Freunde. Mittlerweile haben die Kritisierten mit GWUP-Watch eine Webseite ins Netz gestellt, die die Skeptiker selber in die Nahe einer Sekte rücken wollen. Dabei kann man ihr höchstens ihren zu unkritischen Bezug auf Rationalität und Wissenschaft vorwerfen, der von der dunklen Seite des Fortschritts wie sie in der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer entwickelt wurde, nichts wissen will. Auch ihre Kritik an den Waldorf-Schulen ist begründet und nicht neu. Es gibt seit Jahren Bücher, die über die kritischen Aspekte der Steiner-Ideologie berichten, aber viel zu selten zur Kenntnis genommen werden.

Feen, gute Hexen und biblische Propheten

Als „Alternativen zu Leistungsdruck und Pisa-Stress“ und „Schmiede für gute Menschen“ werden Waldorfschulen auch in Medien wie der Zeit angepriesen, die nicht als esoterikaffin gelten. Doch wenn es um Abfederung der Zumutungen des kapitalistischen Alltags geht, wird auch dort auf Zuflucht in Religion und Aberglaube gesetzt. So heißt es dort:

„Die Waldorfwelt ist freundlich, weich und geordnet. In ihr hausen – noch lange nach der ersten Klasse – Feen, gute Hexen und biblische Propheten. Sie meidet grelle Farben und harte Winkel, kennt weder Zensuren noch Sitzenbleiben. Kein Schüler muss die Schule verlassen, weil er Leistungsansprüche verfehlt. Bis zuletzt bleibt die Klassengemeinschaft zusammen.“

Viele Eltern schätzen an den Waldorf-Schulen vor allem den fehlenden Notendruck und den hohen Stellenwert musischer und kultureller Fächer. Solche positiven pädagogischen Elemente sollten allerdings von den staatlichen Schulen übernommen werden, ohne sich die anthroposophische Ideologie in die Schule zu holen. Damit wäre auch gewährleistet, dass diese pädagogisch sinnvollen Maßnahmen allen Kindern zur Verfügung stehen und dies nicht von der sozialen Situation der Eltern abhängig sind. Doch in Zeiten von Wirtschaftsliberalismus und dem Dogma der Schuldenbremse sind solche Forderungen zu teuer und die Waldorfschulen sorgen für die nicht nur ideelle Sinnstiftung.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/153899
Peter Nowak

Berlin reif für Gedenkort?

Der Berliner Historiker Dietmar Lange untersuchte die blutigen Ereignisse 1919

nd: Anfang März 1919 endete ein Generalstreik in Berlin in einem Blutbad. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie ein historischer Spaziergang zu den Schauplätzen erinnern in diesem Jahr daran. Was forderten die Streikenden damals?
Lange: Sie wollten die uneingelösten Forderungen des 1. Reichsrätekongresses von 1918 durchsetzen. Dazu gehörten die Sozialisierung der Schlüsselindustrien, eine Heeresreform und die Verankerung der Räte in der Verfassung.

Wurde nur in Berlin gestreikt?
Die Streikbewegung blieb nicht auf Berlin beschränkt, war aber regional zersplittert. Grund waren die nur lose Koordination zwischen den Streikzentren im Ruhrgebiet, Mitteldeutschland und Berlin und der gezielte Einsatz militärischer Kräfte. Im Ruhrgebiet setzte der Streik nach dem Einmarsch von Freikorpsverbänden zu früh ein und war bereits zusammengebrochen, als er in Berlin begann.

Wieso kam es mit Streikbeginn zu den Unruhen, obwohl sich die Streikleitung von allen Aufstandskonzepten distanzierte?
Viele Indizien deuten auf eine gezielte Provokation der Militärs zu Beginn der Ausschreitungen und vor allem bei der Eskalation der Kämpfe mit den Soldatenwehren hin. Es wurden Falschmeldungen über getötete Polizisten verbreitet. Das so erzeugte Klima ermöglichte die Ausrufung des Belagerungszustandes über Berlin, die Ausschaltung der in der Novemberrevolution geschaffenen Soldatenwehren und das Blutbad unter den Revolutionären.

Wie viele Menschen starben?
Die genaue Zahl ist nie ermittelt worden. Der verantwortliche SPD-Minister Gustav Noske sprach von 1200 Toten in Berlin. Die meisten sind nicht in den Kämpfen gestorben, sondern wurden nach der Verhaftung standrechtlich erschossen oder kamen bei der Bombardierung von Arbeiterquartieren durch schwere Artillerie und Fliegerbomben um.

Sind Orte der Massaker bekannt?
An der damaligen Zahlstelle der Volksmarinedivision in der Französischen Straße 32 wurden 30 revolutionäre Soldaten erschossen, die ihren Sold abholen wollten. Elf Aufständische wurden an der Mauer des Lichtenberger Friedhofs hingerichtet. Überall in Berlin verhängten Standgerichte in Schnellverfahren Todesurteile.

Wäre es nicht an der Zeit für einen Gedenkdort?
Ich würde mich freuen, wenn die Diskussion um einen solchen Ort beginnen würde. An der Karl-Marx-Allee erinnern 40 Gedenkstelen an historische Ereignisse von der 1848er Revolution bis zur Gegenwart. Obwohl bei der Zerschlagung des Generalstreiks im März 1919 die Gegend um die Karl-Marx-Alle eine große Rolle spielte, fehlt bisher jeder Hinweis auf die Märzkämpfe.

2013 gibt es deutliches Interesse an dem Thema. Was ist geplant?

Am 14. März stelle ich in der Luxemburg-Stiftung das Buch vor, in dem ich mich mit den März-Ereignissen beschäftige. Am 17. März gibt es um 15 Uhr einen historischen Spaziergang zu den Schauplätzen vom März 1919.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/815240.berlin-reif-fuer-gedenkort.htm
Fragen: Peter Nowak

»Massenstreik und Schießbefehl – Generalstreik und Märzkämpfe in Berlin 1919«, edition assemblage, ISBN 978-3-942885-14-0

Bis zu 50 Prozent der Menschen sind nicht mehr krankenversichert

Eine Ärzte-Delegation informierte sich über die Folgen der Krise für das griechische Gesundheitssystem, aber auch über solidarische Gegenstrategien


Kirsten Schubert (K.S.) ist Ärztin und Referentin für Gesundheit bei Medico International und hat vom 25.- 28. Februar gemeinsam mit dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte an einer Delegation in Griechenland teilgenommen.

Was war das Programm Ihrer Delegation?

K.S.: Wir haben in den vier Tagen Ärzte, Aktivisten und Politiker in Athen und Thessaloniki getroffen. Dabei wurde sehr schnell klar, dass das, was wir in einigen Medien über die Folgen der Krise hören, zutrifft und sich massive Konsequenzen der Sparpolitik von Troika und griechischer Regierung für den medizinischen Sektor zeigen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

K.S. Wir haben unter anderem das größte Athener Krankenhaus besucht. Dort haben die Ärzte bestätigt, dass viele ihrer Patienten nicht mehr krankenversichert sind. Die offiziellen Zahlen liegen bei 30 %, in der Realität aber bis zu 50% betroffen. Ein Teil der Arbeit der Ärzte besteht mittlerweile darin, dafür zu sorgen, dass die Patienten an ihre Behandlungsmöglichkeiten kommen, auch wenn sie nicht krankenversichert sind. Da gibt es kreative Ideen. Manche Ärzte raten ihren Patienten beispielsweise nachts aus der Klinik zu verschwinden, damit sie nicht zahlen müssen.

Welche Menschengruppen sind am stärksten von der Krise im Gesundheitswesen betroffen?

K.S: Vor allem Menschen mit psychischen oder anderen chronischen Erkrankungen. Sie können sich die dringend benötigten Medikamente nicht mehr leisten oder gehen zu spät zum Arzt. Es ist ein schleichender Tod..

Wie ist die Situation im Bereich der Psychiatrie und der psychosozialen Versorgung?

K.S.: Dort ist die Situation besonders katastrophal, da dieser Bereich besonders unter den Einsparungen leidet. Geplant sind offenbar Kürzungen von bis zu 40 %. Wir haben eine psychiatrische Abteilung des größten griechischen Krankenhauses besucht. Dort lagen mindestens 20 Patienten auf Pritschen im Flur. Das macht deutlich, wie angespannt die Situation schon jetzt ist.

Wie gehen die Ärzte und Patienten mit der Situation um?

K.S: Wir haben zwei solidarische Klinken besucht, die von Ärzten, Patienten und sozialen Initiativen gegründet worden sind. Dort werden nichtversicherte Patienten behandelt. Die Finanzierung läuft ausschließlich auf Spendenbasis. Dabei haben wir bei unseren Besuch sehr kreative Ideen erlebt. Eine Nachbarschaftsinitative hat zu einem Fest eingeladen, auf dem Speisen und Getränke verkauft wurden. Die Einnahmen kommen der solidarischen Klinik zugute. Andere Gruppen organisieren Veranstaltungen, um die Klinik zu finanzieren.

Geht es dabei nur um medizinische Hilfe?

K.S.: Nein, vor allem die solidarische Klinik in Thessaloniki ist gutes Beispiel für eine soziale und politische Initiative. Wir haben an einer ihrer Demonstrationen teilgenommen, wo es um die Forderung nach gesundheitlicher Versorgung für Alle gegangen ist. Dabei ist die Kooperation zwischen Medizinern, Patienten und sozialen Initiativen aus dem Stadtteil eine wichtige Grundlage.

Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus dem Besuch?

K.S.: Wir haben in dem griechischen Gesundheitssystem Phänomene wiedergefunden, die Medico bereits in den 80er Jahren in Lateinamerika angeklagt hat. Auch dort waren sie eine Folge der Strukturanpassungsprogramme, die zu einem massiven Einschnitt bei sozialen Leistungen auch im Gesundheitswesen führten. Eine öffentliches, qualitativ gutes Gesundheitssystem für alle Menschen muss jedoch an erster Stelle stehen und darf nicht den Sparauflagen zum Opfer fallen.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/153884
Peter Nowak

»Kein Anspruch, weil das Gesetz geändert wurde«

Allein in Berlin gibt es unzählige erwerbslose EU-Bürger, die keinerlei finanzielle Unterstützung bekommen, weil die Bundesregierung vor einem Jahr gegen das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) einen Vorbehalt eingelegt hat. Giulia Tosti, eine vom Hartz-IV-Entzug Betroffene, berichtet von ihren Erfahrungen.

Wann haben Sie mit dem deutschen Hartz-IV-System zu tun bekommen?

Ich bin im Sommer 2010 nach Berlin gekommen und habe als Assistentin in einer Galerie gearbeitet. Ein Jahr später musste die Galerie schließen und ich wurde erwerbslos. Nach einigen Monaten Jobsuche auf eigene Faust habe ich dann einen Antrag auf Arbeitslosengeld II gestellt, der auch genehmigt wurde. Im Februar 2011 ging die erste Zahlung auf meinem Konto ein. Als einen Monat später dann kein Geld kam, dachte ich, es würden wohl noch Dokumente fehlen. Doch die Sachbearbeiterin teilte mir mit, dass ich keinen Anspruch mehr auf Hartz IV habe, weil das Gesetz geändert worden sei.

Wurden Sie im Jobcenter über Ihre Rechte informiert?

Nein, die Sachbearbeiterin sagte mir, es täte ihr leid, aber mir blieben nur drei Möglichkeiten: Ich müsse schnell wieder einen Job bekommen, nach Italien zurückkehren oder mir einen reichen deutschen Freund anschaffen.

Das waren für Sie aber keine Optionen?

Nein, ich informierte mich bei einer Beratungsstelle über meine Rechte. Ich stellte einen Eilantrag und bekam dann auch schnell wieder Hartz-IV-Leistungen ausgezahlt. Leider war der Erfolg aber nur von kurzer Dauer. Mein Folgeantrag wurde nämlich mit der Begründung abgelehnt, dass ich wegen des EFA-Vorbehalts keinen Anspruch mehr hätte. Da ich zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als ein Jahr in Deutschland lebte, ist dieser Vorbehalt in meinem Fall aber gar nicht anwendbar. Obwohl ich alle Belege und Rechnungen an das Jobcenter schickte, erhielt ich nach drei Wochen erneut eine Ablehnung, und das mit derselben Begründung wie beim ersten Mal. Ich nahm mir dann einen Rechtsanwalt und klagte.

Wie ist der derzeitige Stand?

Obwohl ich mittlerweile wieder in einer Galerie arbeite und theoretisch Hartz IV als »Aufstockerin« beantragen könnte, halte ich die Klage aus Prinzip aufrecht. Bisher gab es noch keine endgültige Entscheidung. Zum Glück bin ich jetzt aber über meinen deutschen Freund, der ebenfalls Hartz IV bezieht, krankenversichert.
http://jungle-world.com/artikel/2013/10/47284.html
Interview: Peter Nowak

In Bewegung gekommen

Nach Hausbesetzern, Mieterbewegungen und Protesten gegen Gentrifizierung bildet sich in Berlin über den Widerstand gegen Zwangsumzüge und Wohnungsräumungen eine neue soziale Bewegung für das Recht auf Wohnen. Sie feiert erste Erfolge.

Der Jubel unter den knapp 200 Demonstrantinnen und Demonstranten war groß, als bekannt wurde, dass sie in letzter Minute ihr Ziel erreicht hatten. Sie waren am Vormittag des 27. Februar im Berliner Stadtteil Reinickendorf zusammengekommen, um die Zwangsräumung der 67jährigen Rentnerin Rosemarie P. zu verhindern, die im Herbst 2012 vom Amtsgericht Wedding wegen Mietrückständen zur Räumung ihrer Wohnung verurteilt worden war. Aufgerufen hatte das Bündnis »Zwangsräumungen verhindern«, das am 9. Februar vergeblich gegen die Räumung der Familie Gülbol in Kreuzberg protestiert hatte. Die Polizei hatte damals die Gerichtsvollzieherin mit einer Polizeiweste getarnt über ein Nachbargrundstück in die Wohnung geschleust, wo sie die Räumung vollstrecken konnte, während auf der Straße Hunderte Menschen die Zugänge zum Gebäude blockierten.

Zunächst sah es so aus, als wiederhole sich in Reinickendorf das Szenario. Schließlich war dieselbe Gerichtsvollzieherin schon Stunden vor dem Termin vor Ort, beschützt von der Polizei, die mit einem Großaufgebot die Straße abgesperrt hatte. Doch als sie das Schloss in der Wohnungstür gerade austauscht hatte, klingelte ihr Telefon und sie musste ihr Tagwerk schon wieder beenden. Sie erfuhr, dass das Berliner Landgericht zwei Vollstreckungsschutzklagen angenommen und die Räumung vorerst ausgesetzt hatte. Damit sollte die Mieterin »vor einer unbilligen Härte durch die drohende Zwangsvollstreckung« geschützt werden, hieß es in einer Erklärung des Gerichts zu dem Aufschub. Zuvor hatte bereits ein Arzt attestiert, dass der Stress einer Zwangsräumung der gesundheitlich angeschlagenen Rentnerin nicht zuzumuten sei.

Einen solchen Erfolg auf der juristischen Ebene hatten die Demonstranten, die vor dem Haus protestierten, nicht erwartet. Die Mobilisierungszeit für die Kundgebung war sehr kurz gewesen. Zudem stand in Reinickendorf anders als in Kreuzberg kein Stadtteilladen im Haus für die Infrastruktur des Widerstands zur Verfügung. Statt solidarischer Nachbarn kamen in den Berliner ­Lokalmedien Hausbewohner zu Wort, die die Räumung der Rentnerin begrüßten. Anders als in Kreuzberg wurde von dem Bündnis daher auch nicht zu einer Blockade, sondern zu einer Kundgebung gegen die Zwangsräumung aufgerufen. Umso erfreuter waren die Initiatoren des Protests, dass um acht Uhr dennoch rund 200 Menschen zusammengekommen waren, die nach der Aussetzung der Räumung in Feierlaune waren. Dem tat auch das aggressive Auftreten der Polizei keinen Abbruch, die den Rückweg der Aktivisten zur U-Bahn-Station als unangemeldete Demonstration wertete und mit Faustschlägen in die Menge und einigen vorübergehenden Festnahmen reagierte.

Tatsächlich hat sich die noch junge Bewegung gegen Wohnungsräumungen am 27. Februar als handlungsfähig auch über den Stadtteil Kreuzberg/Friedrichshain hinaus erwiesen. Zudem wird die Kampagne auch von Menschen ernst genommen, die weder in linken Organisationen aktiv sind noch in Stadtteilen wohnen, in denen poli­tische und soziale Initiativen allgegenwärtig sind. Rosemarie P. hatte durch eine Bekannte von dem Bündnis »Zwangsräumungen verhindern« erfahren. Anfang Februar nahm sie Kontakt auf. In den folgenden Wochen versuchte das Bündnis zusammen mit Behördenvertretern, unter anderem dem Reinickendorfer Sozialstadtrat Andreas Höhne (SPD), die Räumung zu verhindern. Höhnes Behörde hatte sich gegenüber dem Vermieter schriftlich bereit erklärt, die Mietrückstände von Rosemarie P., die Empfängerin von Grundsicherung ist, zu übernehmen und künftig für die Mietzahlungen aufzukommen. Die Eigentümer wollten sich allerdings auf dieses Angebot nicht einlassen und bestanden auf der Räumung. Auch die Klagen, die schließlich zur Aussetzung der Räumung führten, waren von dem Bündnis initiiert worden.

Der Erfolg macht aber auch deutlich, dass die Ausschöpfung sämtlicher offizieller behördlicher und juristischer Möglichkeiten notwendig war. Eine Blockade hätte bei der Polizeitaktik eben­so wenig zum Erfolg geführt wie in Kreuzberg. Auch in der Vergangenheit wurden bereits durch öffentlichen Protest Wohnungsräumungen verhindert. So hatte die Wohnungsbaugesellschaft Mitte die Kündigung eines Rentnerehepaar zurückgenommen, nachdem sich Mitte Januar im Foyer des kommunalen Immobilienunternehmens 30 Wohnrechtsaktivisten zum Sit-in niedergelassen hatten. Ebenfalls Mitte Januar hatte die Berliner Wohnungsbaugesellschaft GSW die Kündigung einer fünfköpfigen Familie nach Protesten zurückgenommen.

Solche Aktionen mögen nicht so spektakulär wie eine Blockade sein, tragen aber dazu bei, dass der Protest gegen Wohnungsräumungen zumindest in Berlin eine wahrnehmbare soziale Bewegung wird, die es auch schafft, den Zusammenhang zwischen hohen Mieten, niedrigen Einkommen und den Zumutungen des Hartz-IV-Regimes aufzuzeigen. So wurde in einem Redebeitrag auf der Kundgebung in Reinickendorf darauf hingewiesen, dass Mietschulden oft entstehen, weil sich Jobcenter weigern, die volle Miete zu übernehmen. Hier ergeben sich für die Bewegung gegen Räumungen Kooperationsmöglichkeiten mit anderen sozialen Bewegungen. In den vergangenen Jahren wehrten sich in verschiedenen Städten Erwerbslose mit »Zahltagaktionen« und der Kampagne »Keine/r muss allein zum Amt« gegen Sanktionen oder Kürzungen durch Jobcenter.

In Zukunft könnten solche Aktionen von Erwerbslosen- und Mieterinitiativen gemeinsam organisiert werden. So könnte nicht nur verhindert werden, dass sich der Widerstand gegen Zwangsumzüge und Wohnungsräumungen in arbeits- und zeitaufwendiger Sozialarbeit erschöpft. Den Zusammenhang zwischen hohen Mieten einer- und niedrigen Einkommen andererseits darzustellen, könnte auch Vereinnahmungsversuche von Politik und Medien erschweren. Der Berliner Kurier hat bereits eine Plakatserie mit dem Motto »Berliner wehren sich« in der ganzen Stadt kleben lassen. Und ausgerechnet die SPD, die am 14. März in Berlin zusammen mit dem »Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung« eine Feier zum zehnjährigen »Geburtstag« der Agenda 2010 veranstaltet, will sich im Wahlkampf als Mieterpartei profilieren. Daran, dass sie selbst an der prekären Lage Schuld trägt, will sie sich lieber nicht erinnern.
http://jungle-world.com/artikel/2013/10/47269.htm
Peter Nowak

Esoterik, staatlich gefördert

In Hamburg soll im nächsten Schuljahr die erste Waldorfschule in staatlicher Regie eingerichtet werden, Waldorflehrer sollen dort gemeinsam mit staatlich ausgebildeten Pädagogen unterrichten. Das dürfte ganz im Sinne jener sein, die die Waldorfpädagogik als Alternative zum herkömmlichen Schulsystem schätzen. Widerstand hingegen kommt von der »Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften« (GWUP). Die Organisation beschäftigt sich kritisch mit den verschiedenen Formen von Esoterik und Aberglauben. In diese Reihe stellt die GWUP auch die von Rudolf Steiner entwickelte Anthroposophie, die die weltanschauliche Grundlage für die Waldorfpädagogik bildet. Mit einer Online-Petition wollen die Skeptiker, wie sich die GWUP-Aktivisten selber bezeichnen, die Waldorfschule in staatlicher Regie noch verhindern. Damit werde antiaufklärerisches und antiwissenschaftliches, im schlimmsten Fall sogar rassistisches Gedankengut in das staatliche Schulsystem eingespeist, befürchten die Initiatoren.

Bei aller Kritik an dem allzu empathischen Bezug auf Wissenschaft und Rationalität beim GWUP, ihre Initiative im Fall der Waldorfschulen ist zu begrüßen. Viele Eltern favorisieren bei den Waldorfschulen vor allem den fehlenden Notendruck und den hohen Stellenwert musischer und kultureller Fächer. Solche positiven pädagogischen Elemente sollten allerdings von den staatlichen Schulen übernommen werden, ohne sich die anthroposophische Ideologie in die Schule zu holen. Damit wäre auch gewährleistet, dass diese pädagogisch sinnvollen Maßnahmen allen Kindern zur Verfügung stehen und nicht von der sozialen Situation der Eltern abhängig sind.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/815037.esoterik-staatlich-gefoerdert.html
Peter Nowak

FDP schafft Armut in Deutschland ab – zumindest auf dem Papier

Die heuchlerische Debatte um den veränderten Armutsbericht geht weiter, die grundsätzlichen Fragen werden kaum gestellt

Ende November gaben sich Oppositionsparteien, Gewerkschaften und soziale Initiativen empört. Auf Druck der FDP war der ursprüngliche Entwurf, der Ende September vom Bundesarbeitsministerium (http://www.bmas.de) vorgelegt worden war, entschärft worden. Jetzt wurde dieser geänderte Bericht veröffentlicht und die Kritiker melden sich erneut zurück. Die FDP habe sich durchgesetzt, heißt es, und die Armut in Deutschland zumindest auf dem Papier abgeschafft.

Tatsächlich sind einige prägnante Aussagen aus der Zusammenfassung in den hinteren Teil des Berichts gewandert. Dazu gehört die Feststellung der Tatsache, dass 4 Millionen Beschäftigte in Deutschland für einen Stundenlohn von weniger als 7,50 Euro arbeiten oder dass die Privatvermögen in Deutschland ungleich verteilt sind.

Die Bundesarbeitsministerin von der Leyen, deren Mitarbeitern ja in ihren Text hinein redigiert wurde, will von der Debatte nichts mehr hören. Ihre Botschaft aus dem Bericht ist so vage, wie es eben in der Politik üblich ist. „Die vorliegenden Daten belegen eine positive Entwicklung der meisten Lebenslagen in Deutschland. Es gibt aber auch Befunde im 4. Armuts- und Reichtumsbericht, die Handlungsbedarf signalisieren“, heißt die Nullaussage, die auch von einem rotgrün besetzten Arbeitsministerium nicht anders formuliert worden wäre.

Die Heuchelei der Opposition

Daher ist die Kritik der Opposition auch heuchlerisch und berechnend. Im Zentrum ihrer Kritik steht eigentlich nur, dass der Bericht auf dem Weg von der Fassung bis zur Veröffentlichung Veränderungen erfahren hat. Das aber ist eigentlich nichts Besonderes. Die Frage ist vielmehr, wer den Armutsbericht braucht, um über die aktuellen sozialen Realitäten in Deutschland zu erfahren?

Dabei braucht man nur mit wachen Augen durch eine Großstadt gehen, um etwas über Armut in Deutschland zu erfahren. Immer mehr Menschen leben vom Flaschensammeln und Zeitungsverkauf, Bankfilialen sind im Winter von obdachlosen Schlafgästen belegt, wenn sie nicht um Mitternacht abgeschlossen werden. Oder man geht zu einem Jobcenter, wo besonders am Beginn oder Ende eines Monats die Menschen hinkommen, die kein oder zu wenig Geld auf ihren Konto haben und nicht wissen, wie sie etwas zu essen kaufen können.

Um also etwas über die wachsende Armut in Deutschland zu erfahren, braucht man nur einen wachen Blick in den Alltag. Wenn der Armutsbericht überhaupt einen Sinn hat, dann sollte er eine Debatte darüber anregen, warum in einem Land wie Deutschland die Armut wächst. Da wären nicht nur die Bundesregierung im Allgemeinen und die FDP im Besonderen angesprochen. Zumindest SPD und Grüne müssten sich ebenso nach ihrem spezifischen Beitrag zur Armut in Deutschland fragen. Schließlich fällt die Einführung der Agenda 2010, die den Niedriglohnsektor so richtig beflügelte, ebenso in ihre Amtszeit wie der Beginn des Booms im Leiharbeitssektor, während die Steuern für die Reichen und Vermögenden gekappt wurden.

Wenn es also um die Ursachen der wachsenden Armut in Deutschland geht, müsste die Frage gestellt werden, wer die politischen Weichen dafür stellte. Zudem dürfte bei einer Debatte über den Armutsbericht die europäische Dimension nicht vernachlässigt werden. Es ist schließlich genau jenes Politikmodell, das die deutsche Regierung mit Unterstützung der größten Oppositionsparteien, die höchstens Detailkritik äußern, der EU-Zone verordnen hat. Die Folgen in den Ländern der europäischen Peripherie sind bekannt. Damit genau solche Debatten durch die Veröffentlichung des Armutsberichts nicht geführt werden, macht man die unterschiedlichen Fassungen zum großen Skandal.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153871
Peter Nowak