Guten Morgen, liebe Sorgen

Deutschland feiert das zehnjährige Jubiläum der Agenda 2010.

In den vergangenen Tagen häuften sich in den Medien Reportagen, in denen Journalisten Erwerbslose beim Einkaufen oder auf dem Weg zur Essenstafel begleiteten. Schließlich durften zum zehnjährigen Jubiläum der Agenda 2010 auch die Menschen nicht fehlen, die mit und unter Hartz IV leben müssen. In der Regel ähnelt sich der Tenor solcher Berichte. Das Leben mit Hartz IV ist hart, aber man kann damit überleben. Den Porträtierten wird der Status moderner Trümmerfrauen zugesprochen, die auch in widrigen Zeiten die Ärmel hochkrempeln und klaglos anpacken. Schließlich geht es nicht nur um individuelle Schicksale, sondern um Deutschland. Die Bild-Zeitung brachte es am deutlichsten auf den Punkt. Unter dem Motto »Zehn Jahre nach der Jobrevolution« wird dort das Hartz-IV-Jubiläum begangen und am Ende eines Artikels, in dem die Härten der Agenda 2010 nicht einmal verschwiegen werden, kommt der CDU-Arbeitsmarktexperte Karl Schiewerling zu Wort: »Die Hartz-Gesetze haben eine Menge an Flexibilität gebracht – und sie sind die Grundlage für die momentan starke wirtschaft­liche Stellung Deutschlands in Europa. Das ist gut.«
Zehn Jahre Prekarisierungspolitik. Protest gegen die Agenda 2010 vor dem Symposium der Friedrich-Ebert-Stiftung, das vorige Woche anlässlich des Jubiläums stattfand (Foto: PA/dpa/Maurizio Gambarini)

Darin ist Schiewerling sich mit der FDP ebenso einig wie mit einer großen Mehrheit der SPD, die im Vorwahlkampf den Hartz-IV-Kanzler Gerhard Schröder reaktivierte. Schließlich pocht die SPD darauf, dass unter ihrer Ägide jene Maßnahmen auf den Weg gebracht wurden, die seither angeblich Deutschlands Aufstieg befördert haben. Allein die Grünen wollen lediglich mit am Kabinetts­tisch gesessen haben, als die Agenda 2010 beschlossen wurde. Sie hätten sich einen Mindestlohn dazu gewünscht, sagt Jürgen Trittin heute. Dabei hatten 2004 selbst die Gewerkschaften einen Mindestlohn noch als Eingriff in die Tarifautonomie abgelehnt. Erst einige Jahre nach der Einführung der Agenda 2010 hatte sich der Niedriglohnsektor in einigen Branchen dermaßen ausgeweitet, dass mehrere Einzelgewerkschaften einen Mindestlohn zu verfechten begannen.

Anlässlich des Hartz-IV-Jubiläums meldeten sich auch in vielen Medien Ökonomen und Politiker zu Wort, die darüber aufklären wollen, dass die Agenda 2010 keinen so großen Anteil am neuen deutschen Wirtschaftswunder trage, wie gerne behauptet wird. So betätigt sich der zum Club der sogenannten Wirtschaftsweisen zählende Ökonom Peter Bofinger in der Taz als Entzauberer des Mythos: »Der Erfolg der deutschen Wirtschaft hat mit den Reformen nichts zu tun. Er verdankt sich dem Export deutscher Autos nach China und Indien.« Solche Hartz-IV-Kritiker sehen vor allem den Beitrag der Facharbeiter für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu wenig gewürdigt.

Aber nicht nur Politiker fast aller Parteien, sondern auch viele Erwerbslose sind der Meinung, dass Opfer gebracht werden müssen, um Deutschlands Stellung zu halten. Mit dieser Ideologie hat schließlich die deutsche Volksgemeinschaft im vorigen Jahrhundert ganz an­dere Zeiten überstanden. Wer einfach nur ein schönes Leben möchte, wird von einem Bündnis aus Mob und Boulevard als »Florida-Rolf« oder »Deutschlands frechster Arbeitsloser« an den öffentlichen Pranger gestellt. Schließlich verübt er in den Augen der braven Bild-Leser ein besonders schweres Verbrechen: Er will keine Opfer für Deutschland bringen. Gern melden sich die großen und kleinen Sozialdetektive zu Wort, die den erwerbslosen Nachbarn beim Jobcenter anzeigen, weil dieser vermeintlich Nebeneinkünfte bezieht. Dort findet sich in der Regel genügend Personal, das sich nicht lange bitten lässt und Erwerbslosen sogar die ALG-II-Leistungen vollständig streicht.

Eine Arbeitsvermittlerin wie Fabienne Brutus war in Deutschland lange nicht zu finden. Die Mitarbeiterin der französischen Agentur für Arbeit weigerte sich 2007, Erwerbslose zu sanktionieren, und ging an die Öffentlichkeit. Unter dem Motto »Fabienne gesucht« forderten auch in Deutschland Erwerbsloseninitiativen die Mitarbeiter von Jobcentern dazu auf, dem Beispiel der französischen Jobvermittlerin zu folgen und sich ebenfalls gegen die Zumutungen des Hartz-IV-Regimes auszusprechen. Kürzlich hat die Hamburger Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann erklärt, keine Sanktionen mehr gegen junge Erwerbslose zu verhängen. Auf ihrem Blog beschreibt sie die Zumutungen des Hartz-IV-Regimes, ohne sie mit dem Aufstieg Deutschlands zu rechtfertigen, und teilt mit, dass die Mitarbeiter der Jobcenter beim Umgang mit den Sanktionen durchaus einen Ermessungsspielraum haben, den sie nun nutze. Erfreut, endlich eine »deutsche Fabienne« gefunden zu haben, bekundeten zahlreiche Erwerbslose Hannemann ihre Solidarität, als sie wegen ihrer Kritik vom Jobcenter gerügt werden sollte. Dabei hätte das Personal der Jobcenter auch eigene Gründe, sich gegenüber den Erwerbslosen solidarischer zu zeigen. So hat der Vorsitzende der Bundesagentur für Arbeit in einem Schreiben von Anfang März, das der Jungle World vorliegt, eine von den Personalräten geplante Unterschriftenaktion gegen befristete Arbeitsverhältnisse in den Jobcentern untersagt, weil sie »dem gesetzlichen Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Personalvertretung und Dienststellenleitung widerspricht«.

Was anlässlich des Hartz-IV-Jubiläums in den Medien kaum thematisiert wurde, war der selbst­organisierte Widerstand von Erwerbslosen. Dabei brachte der Frankfurter Sozialwissenschaftler Harald Rein erst vor wenigen Wochen die Dokumentation »Dreißig Jahre Erwerbslosenprotest 1982–2012« heraus. Das Buch präsentiert nicht nur alle Formen der Erwerbslosenproteste der vergangenen Jahre, sondern leistet auch einen historischen Rückblick auf einen Zeitraum von fast 100 Jahren. So dürfte wenig bekannt sein, dass sich nach der Novemberrevolution neben Arbeiter- und Soldatenräten auch Erwerbslosenräte gründeten und dass »wilde Cliquen« von Erwerbslosen in der Weimarer Republik Zwangsräumungen verhinderten. Anschaulich werden auch die Proteste bei der Eröffnung des als »Hungerburg« bezeichneten Arbeitsamts im Berliner Stadtteil Neukölln im Jahr 1932 geschildert.

Diese Aktivitäten kann man als Vorbilder für die »Zahltag«-Aktionen bezeichnen, die seit 2007 von Köln ausgehend immer wieder kurzfristig für Schlagzeilen sorgen. Hier schließen sich Erwerbslose zusammen und fordern von den Jobcentern die Auszahlung von Geldern, die Bearbeitung von Anträgen und das Ende von Sanktionen. Vorige Woche organisierte der »Freundeskreis Bert Neumann« im Jobcenter von Forst den ersten »Zahltag« in Ostdeutschland. Der Kreis gründete sich zur Unterstützung des Erwerbslosen, dem seit dem 1. Januar für drei Monate das Arbeits­losengeld II vollständig gestrichen worden war, weil er einen Computerkurs abgebrochen hatte (Jungle World 5/2013). Obwohl der Erwerbslose nachweislich unter gesundheitlichen Problemen leidet, wurde die Sanktion nicht aufgehoben. Im Unterschied zu vielen anderen ging Neumann an die Öffentlichkeit und fand Menschen, die ihn unterstützen. »Wir wollen deutlich machen, dass die Sanktion immer Einzelne betrifft, aber alle gemeint sind«, sagt Erik Hofedank, der Pressesprecher des Freundeskreises.
Dass es zehn Jahre nach der Verkündung der Agenda 2010 auch Menschen gibt, die nicht Deutschland, sondern Bert Neumann sein wollen, und dass mittlerweile auch eine »Fabienne« in einem deutschen Jobcenter gefunden wurde, sind die erfreulichen Nachrichten dieses unerfreulichen Jubiläums
http://jungle-world.com/artikel/2013/12/47359.html
Peter Nowak


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