Wohlfühlort, Täterort

Acht Jahre lang gab es das besetzte Haus in Erfurt auf dem ehemaligen Gelände der Firma Topf und Söhne, die im Nationalsozialismus Krematoriumsöfen herstellte. Nun widmen sich ehemalige Bewohner einer kritischen Rückschau.

Gleich zwei Jubiläen stehen für die linke Szene in Erfurt an. Am 12. April jährt sich zum 12. Mal die Besetzung des ehemaligen Geländes der Firma Topf und Söhne. Am 15. April 2009 wurde es mit einem großen Polizeieinsatz geräumt. Auch beinahe vier Jahre nach der Räumung sind das Gelände und das ehemals besetzte Haus, das sich dort befindet, noch nicht in Vergessenheit geraten. Das zeigt der ansprechend gestaltete Bildband »Topf & Söhne – Besetzung auf einem Täterort«, der von den ehemaligen Hausbewohnern Karl Meyerbeer und Pascal Späth kürzlich im Verlag Graswurzelrevolution herausgegeben wurde.

Anders als in vielen anderen Schriften über Haus­projekte handelt es sich keineswegs um eine Publikation, in der sich ehemalige Besetzer wehmütig an die gute, alte Zeit erinnern und die Repression beklagen. Vielmehr ist der Band ein Geschichtsbuch über die radikale Linke der vergangenen 15 Jahre. Denn »das besetzte Haus«, wie es auf Flugblättern immer genannt wurde, war nie nur ein Wohlfühlort für Unangepasste.

Schon im Titel des Buches wird deutlich, dass die Geschichte des Ortes für die Außen- und die Selbstwahrnehmung der Besetzer eine zentrale Rolle spielte. Denn die Erfurter Firma Topf und Söhne stellte auf dem Gelände in der Zeit des Nationalsozialismus Krematoriumsöfen für Konzentrations- und Vernichtungslager her. Die Mehrheit der jungen Menschen, die im Frühjahr 2001 die Besetzung vorbereiteten, sah in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Geländes von Anfang an eine politische Notwendigkeit. Das ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit in der Geschichte der Besetzerbewegung. So thematisierten die Bewohner des als Köpi international bekannten Hausprojekts in Berlin nie öffentlich, dass sich während des Zweiten Weltkriegs auf dem Gelände eine der vielen Unterkünfte für Zwangsarbeiter befunden hat.

In Erfurt wurde hingegen bereits 2002 das Autonome Bildungswerk (ABW) gegründet, das mit Veranstaltungen und historischen Rundgängen über das ehemalige Gelände von Topf und Söhne aufklärte. Marcel Müller, der bis 2003 im ABW mitarbeitete, kommt im Buch zu einem sicher diskussionswürdigen Resümee über das Bildungswerk: »Als ein echtes Stück bürgerschaftlichen Engagements kann es als Teil einer unerzählten Geschichte der Erfurter Zivilgesellschaft gelten. Als revolutionäres Projekt der kollektiven Bildung für eine andere Gesellschaftsordnung ist es Teil linker Geschichte des Scheiterns. Für die Beteiligten kann es als Erfahrungsraum für spätere Lebensabschnitte in seiner Bedeutung möglicherweise nicht hoch genug eingeschätzt werden, war mit ihm doch die Einübung bestimmter Skills wie Selbständigkeit, Geschichtsbewusstsein, Organisationstalent verbunden, die z. B. einer akademischen Karriere nicht eben abträglich sind.« Ein solches Fazit könnten Angehörige der radikalen Linken auch in anderen Bereichen ziehen.

In einem eigenen Kapitel zur geschichtspolitischen Auseinandersetzung mit dem »Täterort« zeigt sich, wie diese selbst dazu beitrug, dass es mittlerweile auch offiziell einen »Erinnerungsort Topf und Söhne« gibt. Diesen bewirbt die Stadt Erfurt auf ihren Tourismusseiten im Internet, umgeben wird der Verweis auf »die Ofenbauer von Auschwitz« von Slogans wie »erleben und verweilen« und »Rendezvous in der Mitte Deutschlands«. Das passt sehr gut zu jener Erinnerungspolitik, die im besetzten Haus einer radikalen Kritik unterzogen wurde.

Auch in innerlinken Auseinandersetzungen ergriffen die politisch aktiven Bewohner Partei und scheuten dabei nicht die Auseinandersetzung. So sorgte die Demonstration unter dem Motto »Es gibt 1 000 Gründe, Deutschland zu hassen«, die mehrere Jahre in Folge am 3. Oktober in Erfurt mit Unterstützung des besetzten Hauses veranstaltet wurde, vor allem in reformistischen Kreisen für Aufregung. Die Ablehnung von Antiamerikanismus und antiisraelischer Politik, die ein Großteil der Hausbewohner nach den Anschlägen vom 11. September 2001 vertrat, sorgte auch in der radikalen Linken für Konflikte.

Es ist erfreulich, dass auch diese strittigen Themen im Buch nicht ausgespart werden. So findet sich ein Interview mit einem ehemaligen Mitglied der Gruppe Pro Israel und einem Antizionisten, der bei einer Veranstaltung dieser Gruppe im April 2002 Hausverbot erhielt. Elf Jahre später sind beide in der linken Bildungsarbeit in Thüringen tätig und sehen den damaligen Streit mit großer Distanz. Der ehemalige Pro-Israel-Aktivist stellt nun selbstkritisch fest: »Dass die Auseinandersetzung über linken Antisemitismus geführt wurde, fand ich richtig. Von heute aus gesehen würde ich sagen, dass die Fokussierung auf einen Punkt ein Problem war. Die soziale Frage hat überhaupt keine Rolle gespielt, was – muss man auch mal sagen – daran lag, das die uns kaum betroffen hat.« Der Streit um eine US-Fahne, die ein Hausbewohner an seinem Zimmerfenster angebracht hatte und die andere ­erzürnte, wird von den Beteiligten mittlerweile eher als Punkrock denn als Politik bezeichnet.

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des über acht Jahre lang besetzten Hauses in Erfurt führt so auch zu den damaligen Diskussionen, die die radikale Linke bundesweit beschäftigten. Dass trotz der sicher nicht immer besonders erfreulichen Diskussionen ehemalige Hausbewohner drei Jahre nach der Räumung noch in unterschiedlichen linken Gruppen tätig sind, macht deutlich, dass das Haus bei der Politisierung ­einer Generation junger Menschen in Erfurt und Umgebung eine wichtige Rolle spielte.

http://jungle-world.com/artikel/2013/13/47408.html
Peter Nowak

Gericht hält Hartz IV-Sätze für verfassungskonform

Ein Urteil des Bundessozialgerichts konterkariert Versuche von Erwerbslosengruppen, die Hartz IV-Sätze durch die Justiz zu steigern

„Regelbedarf und Bedarfe für Bildung und Teilhabe zusammengenommen decken den grundsicherungsrelevanten Bedarf von Kindern und Jugendlichen“. Mit dieser Begründung wies das Bundesozialgericht in Kassel am Donnerstag die Klage einer Delmenhorster Familie mit einem Kleinkind ab, die gegen die Hartz IV-Sätze geklagt hatte. Sie hatte auch schon beim Oldenburger Sozialgericht keinen Erfolg mit ihrer Klage.

Im Mittelpunkt ihrer Klage stand die Ermittlung des Hartz IV-Satzes für Kinder. Die Kläger argumentierten, es sei nicht nachvollziehbar, wie die Hartz IV-Sätze für die Kinder ermittelt werden. Die Nachvollziehbarkeit hatte aber das Bundesverfassungsgericht zu einem Essential eines mit der Verfassung vereinbaren neuen Hartz IV-Satzes erklärt. In der Folge vertraten einige Initiativen die Auffassung, dass es auf diesen Wege möglich ist, mit Hilfe der Justiz das Hartz IV-System zumindest zu reformieren.

Diese Bestrebungen dürfen durch das aktuelle Urteil einen Rückschlag erlitten haben. Nachdem im Jahr 2010 das Bundesverfassungsgericht die damaligen Hartz IV-Sätze für verfassungswidrig erklärt hatte und für die Neuberechnung bestimmte Grundsätze wie die Nachvollziehbarkeit aufgestellt hatten, sahen einige Initiativen auch weiter im juristischen Weg Chancen einer Erhöhung der Sätze, die politisch nicht durchsetzbar, weil nicht gewollt waren.


Zurück zur Politik

Im April 2012 erklärt eine Kammer des Berliner Sozialgerichts tatsächlich, dass die Hartz IV-Sätze um 36 Euro zu niedrig liegen und damit verfassungswidrig seien. Dabei handelte es sich um das erste Urteil, in dem es um die Verfassungsmäßigkeit der neuen Regelsätze ging. Doch die Vorstellung, dass damit die Hartz IV-Sätze juristisch schon gekippt sind, erwies sich als voreilig. Nur wenige Wochen später kam das Bundessozialgericht bereits zu der Auffassung, die Hartz IV-Sätze kollidieren nicht mit der Verfassung.

In diesem Fall hatte eine alleinlebende Frau geklagt, die mit der Berufung auf die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip 1.000 Euro im Monat forderte. Sie konnte das Bundesverfassungsgericht davon nicht überzeugen. Gerade in diesem Fall wird aber auch deutlich, wie illusionär es ist, die Forderung nach einem Grundeinkommen von 1.000 Euro im Monat auf den Gerichtsweg erreichen zu wollen, statt dafür politisch zu streiten, gesellschaftlichen Druck zu erzeugen und über dieses Umfeld vielleicht sogar Gerichtsentscheidungen beeinflussen zu können. Schließlich fließen in die Urteile und Entscheidungen der Gerichte durchaus auch gesellschaftliche Stimmungen mit ein.

So kann das Urteil von 2010, das die damaligen Hartz IV-Sätze beanstandete, durchaus als Reaktion auf ein allgemeines Ungerechtigkeitsempfinden interpretiert werden, das sich auf den Höhepunkt der Bankenkrise bis in konservative Medien hinein zum Ausdruck kam. Diese Gerechtigkeitsdebatte ist heute gesellschaftlich nicht verschwunden, aber spielt aktuell nicht die dominierende Rolle. Der Anwalt der klagenden Familie will den Instanzenweg weitergehen. Doch für aktive Erwerbslose sollte eine Konsequenz aus dem jüngsten Urteil eigentlich darin bestehen, ihre Forderungen wieder verstärkt in die politische Arena zu bringen, wie es beispielsweise 2010 mit der Kampagne Krach schlagen statt Kohldampfschieben geschehen ist und das Jobcenter dabei in den Mittelpunkt zu stellen.

Mittlerweile hat die Hamburger Jobcentermitarbeiterin Inge Hannemann öffentlich ihre Weigerung bekundet, erwerbslose Jugendliche und junge Erwachsene zu sanktionieren. So wurde nach Jahren vergeblicher Suche doch noch eine deutsche Fabienne gefunden, nach dem Vorbild der französischen Angestellten eines Arbeitsamtes, die bereits vor Jahren mit ihrer Ankündigung für Aufmerksamkeit sorgte, auf Sanktionen zu verzichten. Nicht juristische Entscheidungen, sondern gesellschaftliche Debatten haben in beiden Fällen dazu geführt.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/154022
Peter Nowak

Schockstrategie in Griechenland

In Berlin berichtete die Schulleiterin Alexandra Ioannidou, wie sich die Krise auf das Bildungssystem auswirkt
Auf Einladung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) berichtet eine Athener Schulleiterin in Berlin, wie in der Krise das Bildungssystem in Griechenland zerstört wird.
Nur knapp ein Dutzend Zuhörerkamen am Montagabend ins Büro der Berliner GEW zum Vortrag der Athener Pädagogin Alexandra Ioannidou. Er hätte mehr Aufmerksamkeit verdient. Denn Ioannidou beschrieb sehr anschaulich die Folgen der Troika-Programme für das griechische Bildungssystem.
„Was sich in den letzten Monaten abspielt, könnte durchaus ‚die Chronik eines angekündigten Todes‘ genannt werden“, erklärte die Referentin. Der Anteil der Bildungsausgaben sei in Griechenland in den letzten 3 Jahren von 3 auf 2, 3 % des Bruttosozialprodukts zurückgefallen. Die Folgen sind vor allem für Kinder aus einkommensschwachen Familien erschreckend. Klassenräume, die für maximal 30 Kinder ausgestattet sind, werden mittlerweile von bis zu 40 Schülern belegt. Viele Fächer fallen ganz aus, weil die Lehrer fehlen. In einer besonders armen Gegend im Norden Griechenland mussten während der Wintermonate die Schulen sogar bei Temperaturen unter Null Grad schließen. Weil kein Geld für Heizöl vorhanden war, blieben die Klassenräume ungeheizt. Schüler aus abgelegenen Dörfern haben oft keine Möglichkeit mehr die Schule zu besuchen. Aus Geldmangel haben die Kommunen die Bustransporte abgeschafft. Selbst der Hunger hat wieder in griechischen Schulen Einzug gehalten. Betroffen sind dabei vor allem Bildungseinrichtungen in ärmeren Stadtteilen der griechischen Großstädte.
Die ersten Meldungen über Schüler, die ohne Frühstück zum Unterricht kommen und sogar ohnmächtig werden, hätte die Regierung noch mit dem Kommentar reagiert, dass sei linke Propaganda, erklärt Ioannidou. Doch nachdem sich diese Vorfälle häuften, habe die Regierung einräumen müssen, dass die Angaben den Tatsachen entsprechen. Mittlerweile werde an bestimmten Problemschulen Essen ausgegeben, damit die Schüler den Unterricht folgen können. Vorteile hätten die Menschen, die auf dem Land wohnen. Weil dort Nahrung angebaut wird, sei zumindest der Hunger dort noch unbekannt. Nicht wenige Menschen, die in den Städten ihre Arbeit verloren, sind deshalb mittlerweile wieder auf das Land gezogen. Für die Kinder der Binnenflüchtlinge bedeutet das oft den Schulabbruch. Der habe in den letzten Jahren stark zugenommen. Die hingen meist mit den Auswirkungen der Krise zusammen. Junge Leute ohne Geld und Perspektive verlassen die Schule ohne Abschluss, um als Kellner oder Taxifahrer wenigstens etwas Geld zu verdienen. Andere sehen ihre Zukunft nicht mehr in Griechenland. Viele hoffen in den EU-Ländern, vor allem in Deutschland, auf eine besser bezahlte Arbeit.
Neben der desolaten sozialen Situation macht Ioannidou der rasante Aufstieg der faschistischen Goldenen Morgenröte besonders große Sorgen. Selbst in den Schülerverwaltungen hätten die Neofaschisten, die aus ihrer Begeisterung für Hitler keinen Hehl machen, ihren Einfluss ausgebaut. Viele Lehrer seien verunsichert, wie sie mit der ansteigenden faschistischen Welle unter den Jugendlichen umgehen sollen, betont Ioannidou. Für zusätzliche Unruhe unter den Lehrern sorgt ein Gesetz der Regierung, nachdem alle Beamten suspendiert werden, wenn gegen sie juristische ermittelt wird. Sollte keine Anklage erhoben werden, können sie wieder in ihren Beruf zurück. Doch das kann Jahre dauern. So wurde eine Lehrerin vom Dienst suspendiert, die von einem Mitglied der Neofaschisten angezeigt wurde, weil albanische Kinder Flaggen ihres Heimatlandes im Malunterricht zeichneten.
Ioannidou spricht in Bezug auf die Zerstörung des griechischen Bildungswesens von einem Schockstrategie, mit der die Etablierung von Privatschulen vorangetrieben wird, auf die die wohlhabenden Eltern ihre Kinder schicken würden. Schockstrategie hieß es auch der Bestseller der globalisierungskritischen Publizistin Noami Klein. Dort beschrieb sie am Beispiel von Chile und anderen Ländern, wie ein Katastrophen-Kapitalismus ganze Länder reif für die neoliberale Unterwerfung geschossen hat. Wenn man Ioannidou zuhört, könnte man denken, dass sich dieses Szenario in Griechenland dieser Tage wiederholt, nicht nur im Bildungswesen.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/817125.schockstrategie-in-griechenland.html
Peter Nowak

Dann waren es schon 129

Wie mit der Legende von den 3 isolierten NSU-Mitgliedern der skandalöse Umgang mit den Rechtsterroristen fortgesetzt wird

Seit Monaten wird über die „Pannen“ der Behörden im Umgang mit der rechtsterroristischen NSU debattiert. War es nur eine Kette von Fehlern oder hatte das ganze System Methode, lautete die Frage. Während alle so lebhaft diskutierten, wurde uns womöglich schon die Fortsetzung des NSU-Skandals geboten. Es geht um die Legende von der NSU als abgeschottetes Trio, ohne jegliches Umfeld. Daran konnte daran eigentlich niemand so recht glauben. Zumal sich schon längst herausgestellt hat, dass die Rechtsterroristen gar nicht so konspirativ lebten.

Nun werden die Vermutungen auch offiziell bestätigt, die die Bild am Sonntag im Stil einer Enthüllungsstory verbreitete. 129 Namen aus dem NSU-Umfeld stünden auf einer geheimen Liste der Sicherheitsbehörden, die dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags kürzlich zuging, wusste die Bams. Die Meldungen wurden mittlerweile offiziell bestätigt (vgl. „Eine erschreckend hohe Zahl“).

Die Zahl der Unterstützer war in den letzten Wochen immer weiter nach oben gerechnet worden. War zunächst von knapp 30, dann von 100 Personen, die die Rechtsterroristen unterstützten die Rede, sind es nun 129. Der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses, der SPD-Politiker Sebastian Edathy erklärt, die Zahl könne noch steigen.

Auch V-Leute im Unterstützerkreis?

Edathy wie auch der Grünen-Politiker Christian Ströbele wollen noch wissen, ob auch V-Leute zum NSU-Umfeld gehören. Die NSU-Gruppe sei kein Trio einsamer Wölfe gewesen, sondern habe Unterstützer bei der Wohnungs- und Waffensuche gehabt, fasst Ströbele den aktuellen Erkenntnisstand zusammen.

Für ihn wird „das Versagen der Behörden“ immer dramatischer. „Wir konnten uns das kaum vorstellen am Anfang, aber wir fallen da von einem Schrecken in den anderen“, so Ströbele, der sich nicht vorstellen kann oder zumindest nicht auszusprechen wagt, dass es sich gar nicht um eine Kette von Pannen handelt. Dass es vielleicht auch in Deutschland einen tiefen Staat geben könnte, darf hierzulande nicht mal in Frageform formuliert werden, ohne gleich gemaßregelt zu werden.

Diese Erfahrung musste die SPD-Integrationsministerin von Baden Württemberg Bilkay Öney machen, die mit Rücktrittsforderungen der Opposition konfrontiert war, als sie nur die Vermutung aussprach, die NSU-Affäre könnte auch der tiefe Staat in Aktion gewesen sein.

Kein Vergleich mit der Sympathisantenhetze der 70er Jahre

Bemerkenswert ist auch, wie genau konservative Politiker in der Diskussion um das NSU-Umfeld zu differenzieren in der Lage sind. So wurde von verschiedenen Unionspolitikern betont, dass nicht alle aus dem NSU-Umfeld zu den Unterstützern des Terrortrios gehört haben müssen. So viel Differenzierung hätte man sich aus diesen Kreisen auch in den 1970er Jahren gewünscht, als mit der Sympathisantenhetze jeder kapitalismuskritische Gedanke in die Nähe der Rote Armee Fraktion gerückt wurde. Selbst ein Linksliberaler wie der Schriftsteller Heinrich Böll hat das zu spüren bekommen. Sollte man zugunsten der Konservativen annehmen, dass sie sich die Kritik an der unreflektierten Sympathisantenjagd zu Herzen genommen haben? Oder rührt die Differenzierung schlicht daher, dass es sich heute eben um einen rechten Untergrund handelt?

Auch der Umgang der Justiz gegenüber Beate Zschäpe unterscheidet sich vom Umgang mit tatsächlichen oder vermeintlichen Mitgliedern linker Untergrundgruppen in den 1970er und 1980er Jahren beträchtlich. Damals wäre es undenkbar gewesen, dass Gudrun Ensslin oder Ulrike Meinhof die Möglichkeit bekommen hätten, ihre kranken Angehörigen für einige Stunden zu besuchen. Beate Zschäpe aber bekam die Gelegenheit, sich von ihrer schwerkranken Großmutter zu verabschieden. Nun sollte man nicht reflexhaft fordern, der Staat sollte gegen Rechts genau so repressiv vorgehen. wie vor 30 Jahren gegen links.

Aber der Erkenntnis sollte man sich nicht verschließen, dass der staatliche Umgang mit der NSU von deren ersten Mord bis heute zeigt, dass sehr unterschiedlich reagiert wird, wenn die Gewalt von rechts und nicht von links kommt und die Opfer Migranten und nicht deutsche Wirtschaftsbosse sind. Dass fing mit der konsequenten Ausblendung jeglicher Ermittlungen ins rechte Milieu an und setze sich mit der Stilisierung der Opfer zu Tätern fort. In den 1970er Jahren reichte es aus, ein Gedicht im Schulunterricht zu behandeln, dass sich kritisch mit dem Wirken des von der RAF erschossenen Bankmanagers Jürgen Ponto beschäftigte , um als Lehrerin entlassen zu werden. Doch gegen keinen der Beamten, die die Familien der NSU-Opfer zu Tätern machten, wurde bisher auch nur ermittelt. Die strukturellen Ursachen für diese offensichtliche Ungleichbehandlung dürfen bei einer für den 13. April geplanten bundesweiten Demonstration zu Beginn des NSU-Prozesses in München im Mittelpunkt stehen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154001
Peter Nowak

Keiner muss allein zum Jobcenter

Initiative begleitet Hartz-IV-Empfänger und protokolliert Gespräche

Der Kühlschrank ist leer, das Konto ebenfalls, und das Jobcenter weigert sich, Geld zu überweisen. Dieser Albtraum vieler Erwerbsloser wurde für Bettina Kemper (Name geändert) zur Realität.

Viele Betroffene sind in dieser Situation überfordert und hilflos. Frau Kemper holte sich Unterstützung bei der Berliner Erwerbsloseninitiative Basta. Sie bietet jeden Mittwoch zwischen 10 und 13 und donnerstags zwischen 15 und 18 Uhr Beratung für Erwerbslose an.

»Die unübersichtlichen und immer repressiver werdenden Gesetze der so genannten Arbeitsmarktreform sorgen dafür, dass sich viele Betroffene als ohnmächtige Opfer einer willkürlich agierenden Behördenmaschinerie empfinden«, erklärte eine Basta-Mitbegründerin. Deshalb sei der Bedarf an Beratung groß. Ein Angebot der Gruppe ist die Begleitung von Erwerbslosen zu ihren Terminen im Jobcenter. Mit der Parole »Keine/r muss allein zum Amt« wird auf die rechtlichen Grundlagen hingewiesen. Jeder Erwerbslose hat das Recht, bis zu drei Begleiter seiner Wahl zum Termin mitzunehmen und muss so nicht mehr allein mit den Mitarbeitern der Jobcenter verhandeln. Ob die Begleitperson selber in die Verhandlungen eingreift oder nur zuhört und den Gesprächsverlauf protokolliert, entscheiden die Erwerbslosen selber. Der protokollierte Gesprächsverlauf des Termins von Frau Kemper beim Jobcenter Mitte liegt »nd« vor.

Danach bestätigte die zuständige Sachbearbeiterin, dass kein Geld überwiesen worden ist. Man wisse gar nicht, ob Kemper in der Wohnung lebt, die sie in dem Antrag als Adresse angibt. Ein Team von zwei Außenmitarbeitern, so die offizielle Bezeichnung der vom Jobcenter beauftragten Sozialdetektive, sei im Februar gleich drei Mal an der Wohnung gewesen, habe Frau Kemper aber nicht angetroffen. Dafür hätten die Mitarbeiter festgestellt, dass ihr Briefkasten gefüllt gewesen sei. Auch hätten Nachbarn auf Nachfragen deren Namen nicht gekannt.

Bettina Kemper weist die Vorwürfe zurück und spricht von »einer unangemessenen Unterstellung«. Der Briefkasten sei wegen eines Zeitungsabonnements voll gewesen. Sie sei nicht in ihrer Wohnung anzutreffen gewesen, weil sie in der Zeit an einer vom Jobcenter finanzierten Weiterbildung teilgenommen habe. Zudem hätte sie die Sozialdetektive auch nicht unangemeldet in die Wohnung gelassen, wenn sie Zuhause gewesen wäre.

Die Jobcentermitarbeiterin quittierte laut Protokoll diese Klarstellung mit der Bemerkung, wenn sie den Außendienst nicht in die Wohnung lasse, würden die Gelder von Frau Kemper erst recht gekürzt. Ein weiterer Streitpunkt zwischen der Erwerbslosen und dem Jobcenter ist das Namensschild am Briefkasten. »Wenn drei Namen drauf stehen, dann wird auch die Miete gedrittelt. Wir zahlen also höchstens noch die Hälfte von dem, was bis jetzt gezahlt wurde«, wird die Mitarbeiterin des Jobcenters im Protokoll zitiert. »Am Briefkasten hängen drei Namen, weil eine Freundin des Hauptmieters noch Post an diese Adresse bekommt«, begründete Frau Kemper den Sachverhalt. »Wenn selbst ein Briefkastenschild darüber entscheiden kann, ob das Jobcenter die Miete übernimmt, ist die Belastung für die Betroffenen besonders groß«, so die Basta-Aktivistin.

Erwerbsloseninitiative Basta, Wedding, Schererstraße 8
http://www.neues-deutschland.de/artikel/816849.keiner-muss-allein-zum-jobcenter.html
Peter Nowak

Opel-Belegschaft will nicht für die Autokrise zahlen

Was das Nein der Bochumer Opel-Beschäftigten mit dem Nein des zypriotischen Parlaments zu den EU-Troika-Plänen zu tun hat

Die Belegschaft von Opel Bochum hat vor einigen Tagen mit einer Mehrheit von über 76 Prozent ein Abkommen abgelehnt, das die IG-Metall mit dem Opel-Management ausgehandelt hatte. Es hat den hochtrabenden Titel „Deutschlandplan“ getragen. Die Beschäftigten sollten dort weiteren Verzichtsleistungen zustimmen, darunter einem Lohnstopp und der Streichung von übertariflichen Entgeltbestandteilen. Im Gegenzug wollte das Management die Opel-Produktion bis 2016 in Bochum belassen und eine Transfergesellschaft einrichten.

In der Regel werden solche Verzichtsleistungen für den Standort von den Lohnabhängigen mehr oder weniger zähneknirschend akzeptiert, gerade dann, wenn eine DGB-Gewerkschaft als Vertragspartner mit im Boot ist. Doch bei Opel Bochum lief es anders. Die Mehrheit der Belegschaft hatte genug vom ewigen Verzicht und zeigte nicht nur dem Management, sondern auch der IG-Metall die kalte Schulter. Daher ist die Einschätzung eines taz-Kommentators, wonach mit dem Votum aus Bochum auch die IG-Metall eine Ohrfeige bekommen habe, völlig korrekt. Schließlich hatte auch die IG-Metall den Standort Bochum längst aufgegeben und sich auf den Erhalt von Rüsselsheim konzentriert.

Sechs Tage der Selbstermächtigung

Das Nein aus Bochum kommt nicht überraschend. Mehr als zwei Jahrzehnte hatte die linksgewerkschaftliche Gruppe Gegenwehr ohne Grenzen in dem Werk eine Basis. Sie lehnte jeden Standortnationalismus ab und setzte sich schon früh für einen länderübergreifenden Kampf aller Beschäftigten gegen die Konzernpläne ein. Im Oktober 2004 erregte ein Großteil der Opel-Belegschaft mit einem sechstägigen wilden Streik bundesweit große Aufmerksamkeit (Details können in dem im Verlag Die Buchmacherei herausgegebenen Buch Sechs Tage der Selbstermächtigung nachgelesen werden).

Nach dem Schließungsbeschluss vom 11. Dezember letzten Jahres war die Stimmung bei Opel zunächst gedämpft. Ca. 100 Beschäftigte beteiligten sich an einer Demonstration am gleichen Tag. Am 14. Dezember rief die IG Metall zu einer Kundgebung vor dem Tor 4 auf. „Die meisten Reden verbreiteten Zweckoptimismus“, erklärte der langjährige Betriebsrat und GoG-Aktivist Wolfgang Schaumberg. Er registriert die Veränderungen im Opel-Werk sehr genau und kennt auch die Ursachen.

„Heute liegt der Altersdurchschnitt im Werk bei über 47 Jahren. Gerade die Älteren hoffen auf eine Abfindung und rechnen sich schon aus, wie sie mit Abfindungen und Arbeitslosengeld bis zum Rentenalter kommen“, beschrieb er Situation. Weil die Komponentenfertigung für andere Werke aus Bochum abgezogen wurde, könnte ein Ausstand heute nicht mehr, wie 2004, die Opel-Produktion in ganz Europa lahmlegen. Dieser durch die technologische Entwicklung begünstigte Verlust der Produzentenmacht hat auch dazu geführt, dass viele Streikaktivisten von 2004 Abfindungen angenommen und sich aus dem Betrieb verabschiedet haben.

Der „Arbeitermilitante“, der, wie der vor einigen Jahren verrentete Wolfgang Schaumberg, über Jahrzehnte im Betrieb arbeitete und seine Erfahrungen an die jeweils nächste Generation weitergab, war auch bei Opel schon vor den Schließungsplänen ein anachronistischer Typus geworden. Schließlich haben die Bochumer Opelaner den Machtverlust selber erfahren. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die Zahl der Belegschaftsmitglieder kontinuierlich zurückgegangen. Die Beschäftigten haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass ihr Verzicht nicht etwa belohnt, sondern mit weiteren Kürzungs- und Schließungsplänen beantwortet wurde. Das Nein zu einem erneuen Verzicht war dann nur eine logische Konsequenz.

Die Weigerung

„Die Alternative wäre gewesen, dass wir noch ein paar Tage länger hätten produzieren können – mit einer schrumpfenden Belegschaft“, beschrieb der durchaus nicht als besonders radikal bekannte Bochumer Opel-Betriebsratsvorsitzende Reiner Einenkel den von der IG-Metall beworbenen Vertrag.

Dass sich die Belegschaft nicht widerspruchslos fügen würde, war bereits im letzten Jahr zu erkennen. So empfahl ein oppositioneller Betriebsrat den Beschäftigten auf einer Kundgebung am 14. Dezember, sich an den belgischen Ford-Kollegen aus Genk ein Beispiel zu nehmen. Die sind Anfang November nach der Ankündigung der Schließung ihres Werkes spontan zum Ford-Werk nach Köln gefahren und haben dort protestiert. Die Aktion ist in den Medien in Deutschland als Randale hingestellt worden und die belgischen Arbeiter wurden von der Polizei erkennungsdienstlich behandelt. Die mangelnde Solidarität der IG-Metall sorgte an der Gewerkschaftsbasis durchaus für Unmut. Manche der Beschäftigten werden sich an diese Aktionen erinnert haben, als sie sich jetzt bei der Abstimmung weigerten, dem eigenen Verzicht aktiv zuzustimmen.

Eine Form der Krisenproteste

Das Management hat die Ablehnung mit der Bemerkung kommentiert, man bedauere, dass die Belegschaft ein attraktives Angebot ausgeschlagen hat und werde nun das Opel-Werk bereits 2014 schließen. Bei großen Teilen der Belegschaft wird diese Ankündigung als Bluff aufgefasst. Das Management könne sich eine Schließung im nächsten Jahr gar nicht leisten und werde weiter verhandeln, lautet eine weitverbreitete Einschätzung. Doch was ist, wenn sie nicht zutrifft und das Werk tatsächlich geschlossen werden soll? Gibt es dann eine Werksbesetzung?

Solche Fragen sollten sich die Beschäftigten in Bochum zumindest stellen. Denn sie haben mit ihrer Weigerung, weiter für den Standort Verzicht zu üben, in Deutschland etwas Seltenes getan. Sie haben Nein gesagt und dem Druck wiederstanden, der auf sie ausgeübt wurde.

In dieser Hinsicht kann man das Nein zum Verzichtsplan in Bochum mit dem Nein des zypriotischen Parlaments zu dem von der Troika festgelegten Krisenplan vergleichen. In beiden Fällen waren sich fast sämtliche Medien und Politiker einig, eine Annahme der Pläne ist sowohl in Zypern als auch in Bochum alternativlos, eine Ablehnung dagegen würde schlimme Folgen haben. Im Fall Zypern will die EU-Troika nun mit allen Mitteln durchsetzen, dass die renitenten Parlamentarier doch noch einen Rückzieher machen und den EU-Plan akzeptieren. Solche Pressionen könnten auch der Belegschaft in Bochum noch bevorstehen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153986
Peter Nowak

Lohngeprellt und fern der Heimat

Die Beratungsstellen des DGB-Projekts »Faire Mobilität« helfen ausländischen Beschäftigten

Vor einigen Wochen hat die Unterbringung von in Spanien angeworbenen Beschäftigten in deutschen Amazon-Filialen für Schlagzeilen gesorgt. Dabei handelt es sich keinesfalls um Ausnahmen. In Deutschland müssen viele Beschäftigte aus EU-Ländern um ihre Rechte kämpfen.
Sechs Monate hatte Agneta G. aus Polen rund um die Uhr einen Pflegebedürftigen in dessen Familie betreut. Ausgezahlt bekam sie einen Abschlag von monatlich 500 Euro. Vereinbart waren mit der Arbeitsvermittlerin 2000 Euro. Als sie am letzten Tag des Arbeitsverhältnisses den restlichen Lohn einforderte, wurde sie im Haus eingeschlossen. Da die Vermittlerin keine neue Pflegekraft geschickt hatte, sollte sie weiterarbeiten. Mit Hilfe der Polizei konnte G. ihre Heimreise antreten. Auf den ausstehenden Lohn wartet sie bis heute. Mit Unterstützung der Berliner Beratungsstelle »Faire Mobilität« wurde ihr Fall an die Zollbehörden übergeben – Ausgang bislang ungewiss.

Das DGB-Projekt »Faire Mobilität« wurde in im August 2011 ins Leben gerufen. Ziel ist, für Beschäftigte aus den mittel- und osteuropäischen EU-Staaten gerechte Löhne und faire Arbeitsbedingungen durchzusetzen. In Berlin, Frankfurt am Main, Hamburg, München und Stuttgart gibt es schon Beratungsstellen, im März 2013 wird in Dortmund ein Büro eröffnet. »Überall da, wo wir die Büros eröffnet haben, saßen schon in den ersten Tagen Menschen, um uns ihre Probleme zu schildern«, sagt der Leiter des Berliner Büros und Projektmanager Dominique John gegenüber »nd«.

In einer von ihm erstellen Expertise » heißt es: «Die Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit funktioniert in vielen Bereichen gut. In einigen Branchen dagegen gibt es ein große Anzahl von Beschäftigten aus den mittel- und osteuropäischen Ländern, die aufgrund mangelnder Kenntnisse ihrer Rechte und einer geringen Verhandlungsmacht systematisch ausgenutzt werden.»«

Oft haben die Betroffenen keine schriftlichen Verträge, sondern nur mündliche Vereinbarungen. Das erschwert die Durchsetzung ihrer Rechte. Doch die Beratungsstellen können Erfolge vorweisen: Im Jahr 2012 konnte die IG BAU 52 polnischen Arbeitern, die für Abbrucharbeiten eines Klinikums verantwortlich waren, 73 000 Euro vorenthaltenen Lohn auszahlen. Vorausgegangen waren intensive Verhandlungen der Gewerkschaft mit dem Bauunternehmen, dem Generalunternehmer und den öffentlichen Auftraggebern. Den Beschäftigten war gekündigt worden, nachdem sie ihren Lohn eingefordert hatten.

»Wir versuchen mit Verhandlungen und öffentlichen Druck die Forderungen der Beschäftigten durchzusetzen, um einen langwierigen juristischen Weg zu vermeiden«, betont John. Doch das klappt nicht immer. So hätte die Firma Condor Elektronik Insolvenz angemeldet, nachdem 150 ungarische Beschäftigte ausstehende Löhne eingefordert hatten. Der Arbeitgeber hatte ihnen zu Weihnachten einen Heimflug bezahlt und ihnen anschließend gekündigt. Nur einige der Betroffenen haben sich an die Beratungsstelle gewandt. Auch Arbeiter aus Spanien und Portugal suchten immer wieder Rat, beobachtet John. Sie versuchen der wirtschaftlichen Krise durch Beschäftigung in Deutschland zu entfliehen und müssen in hier um ihre Rechte kämpfen.

Dazu gehören auch Pedro Sanchez Nula und Sergio Barbero Escavy. Sie haben fast ein Jahr für die Firma Messeshop, die ihren Sitz in Eimersleben bei Magdeburg hat, gearbeitet und statt Lohn nur kleine Abschläge bekommen. Die beiden haben sich an die anarchosyndikalistische Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU) gewandt, die kürzlich eine Sektion »ausländische Beschäftigte« gründete. Anfang März übergaben die Gewerkschafter dem Unternehmen eine Petition, in der die Auszahlung der ausstehenden Löhne gefordert wird. Die Initiative hat die Firma Messeshop bisher ebenso ignoriert wie Presseanfragen.
www.neues-deutschland.de/artikel/816583.lohngeprellt-und-fern-der-heimat.html
Peter Nowak

Der Sound des Kalten Krieges


Während manche EU-Politiker in der Zypern-Frage vor dem russischen Einfluss warnen, vergleicht der russische Ministerpräsident die EU-Politik mit der Sowjetunion

Es war kein Euroskeptiker, sondern der überzeugte EU-Befürworter und langjährige Stellvertretende Vorsitzende der Sozialdemokraten im EU-Parlament, Hannes Swoboda, der gegenüber dem Deutschlandfunk ungewöhnlich kritische Töne zur Lage der EU nach der Abfuhr ihres „Rettungspakets“ durch Zypern anschlug:

„Das sagt eigentlich, dass diese Union derzeit in einem äußerst katastrophalen Zustand ist, dass stümperhaft an diese Sache herangegangen wird.“

Seine Beobachtungen sind erstaunlich präzise, wenn er als Ergebnis der Zypern-Rettung resümiert:

„Man entfremdet und schickt mehr und mehr Menschen weg von der Union, von der Begeisterung für die Union in eine Oppositionshaltung zur Europäischen Union.“

Dass sich diese Entfremdung im Protest- und Wahlverhalten in verschiedenen europäischen Ländern ausdrückt, bringt Swoboda gut zum Ausdruck: „Die Finanzminister müssen doch das Gefühl dafür haben, wie derzeit die Stimmung in Europa ist, wie die Demonstranten von Sofia bis Portugal auf die Straße gehen, wie die Wählerinnen und Wähler in Italien gewählt haben, Herrn Grillo gewählt haben, aus Opposition, nicht weil sie vielleicht so begeistert sind von seinen konkreten Vorschlägen, die er ja kaum hat. Das ist die Stimmung heute in Europa, und wenn Politiker und Finanzminister inklusive natürlich den zypriotischen Vertretern das nicht mitbekommen, wie die Stimmung in Europa ist, dann ist es um Europa eben schlecht bestellt.“

Da wird mal nicht eine Wählerbeschimpfung vorgelegt, wenn die Wähler nicht für eine Politik stimmen, wie sie die Troika ihnen vorgibt. Dass diese selbstkritischen Äußerungen allerdings mehr ausdrücken als die Enttäuschung eines sozialdemokratischen Politikprofis, beim Zypernretten nicht besser mit eingebunden worden zu sein, ist wenig wahrscheinlich. Doch solche Interviews drücken die Nervosität von EU-Spitzenpolitikern darüber aus, dass trotz aller Beschwörungen von einem Ende der EU-Krise nicht die Rede sein kann. Allerdings sind solche selbstkritischen Töne auch heute noch eher die Ausnahmen bei den Spitzenpolitikern.

„Ich will nicht mit Russland verhandeln, wenn ich über Zypern rede“

Der Mainstream der EU-Politiker will von eigenen Fehlern wenig wissen, sondern den zypriotischen Politikern Ratschläge geben, wie sie ihr Verhältnis mit Russland zu gestalten haben, wenn sie zur europäischen Familie gehören wollen. Den Ton gab der Vorsitzende der Grünen Cem Özdemir vor, der erklärte, nicht mit Moskau verhandeln zu wollen, wenn er über Zypern rede. Er habe kein Interesse daran, dass Russland in einem Land der Europäischen Union mitregiert.

Dabei wird in dem Interview auch deutlich, dass es um geostrategische Interessen und Gasvorkommen in der Region geht, auf die sowohl Russland als auch andere europäische Länder begehrliche Blicke werfen. In den Worten von Özdemir und vielen anderen Politikern hört man entfernt den Sound des Kalten Krieges – aus Zeiten, als man vor dem Einfluss der Sowjetunion warnte. Nun wird deutlich, dass auf beiden Seiten kapitalistische Staaten agieren, die unterschiedliche Interessen haben. Bei einem Treffen mit führenden EU-Vertretern verglich der russische Ministerpräsident Medwedew die EU-Politik gegen Zypern mit Maßnahmen der Sowjetregierung.

Wie während des kalten Krieges werden in diesen Tagen auch innerhalb der EU-Länder die Widersprüche zwischen Kräften, die sich eher mit Russland verbinden wollen und anderen, die Russland isolieren wollen, deutlich. Der Berater des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft, Klaus Jürgen Mangold, sprach sich in einem Interview für eine Beteiligung Russlands an der Diskussion um die Zypernhilfe aus.

„Aber in der Sache, glaube ich, muss man ein Verständnis haben für die russische Position – vor allem deshalb, weil Russland ja nicht frühzeitig eigentlich in diese ganzen Konsultationen so einbezogen worden ist, dass sie aktiv hätten mitwirken können“, so der Interessenvertreter jener Wirtschaftskreise in Deutschland, die ihr Exportinteresse eher im Bündnis mit Russland gewahrt sehen.

Auch in den Hochzeiten des Kalten Krieges gab es bereits Kapitalkreise in der BRD, die sich aus ökonomischen Gründen für bessere Beziehungen zu Russland einsetzen. Diese Kapitalfraktion ist in den letzten Jahrzehnten gewachsen. Aus der gesamten Diskussion wird klar, dass es sich bei den vielbeschworenen europäischen Werte eben auch nur um einen Ausdruck ökonomischer Interessen handelt. Weil die unterschiedlich sind, gibt es darüber Streit.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153976
Peter Nowak

Guten Morgen, liebe Sorgen

Deutschland feiert das zehnjährige Jubiläum der Agenda 2010.

In den vergangenen Tagen häuften sich in den Medien Reportagen, in denen Journalisten Erwerbslose beim Einkaufen oder auf dem Weg zur Essenstafel begleiteten. Schließlich durften zum zehnjährigen Jubiläum der Agenda 2010 auch die Menschen nicht fehlen, die mit und unter Hartz IV leben müssen. In der Regel ähnelt sich der Tenor solcher Berichte. Das Leben mit Hartz IV ist hart, aber man kann damit überleben. Den Porträtierten wird der Status moderner Trümmerfrauen zugesprochen, die auch in widrigen Zeiten die Ärmel hochkrempeln und klaglos anpacken. Schließlich geht es nicht nur um individuelle Schicksale, sondern um Deutschland. Die Bild-Zeitung brachte es am deutlichsten auf den Punkt. Unter dem Motto »Zehn Jahre nach der Jobrevolution« wird dort das Hartz-IV-Jubiläum begangen und am Ende eines Artikels, in dem die Härten der Agenda 2010 nicht einmal verschwiegen werden, kommt der CDU-Arbeitsmarktexperte Karl Schiewerling zu Wort: »Die Hartz-Gesetze haben eine Menge an Flexibilität gebracht – und sie sind die Grundlage für die momentan starke wirtschaft­liche Stellung Deutschlands in Europa. Das ist gut.«
Zehn Jahre Prekarisierungspolitik. Protest gegen die Agenda 2010 vor dem Symposium der Friedrich-Ebert-Stiftung, das vorige Woche anlässlich des Jubiläums stattfand (Foto: PA/dpa/Maurizio Gambarini)

Darin ist Schiewerling sich mit der FDP ebenso einig wie mit einer großen Mehrheit der SPD, die im Vorwahlkampf den Hartz-IV-Kanzler Gerhard Schröder reaktivierte. Schließlich pocht die SPD darauf, dass unter ihrer Ägide jene Maßnahmen auf den Weg gebracht wurden, die seither angeblich Deutschlands Aufstieg befördert haben. Allein die Grünen wollen lediglich mit am Kabinetts­tisch gesessen haben, als die Agenda 2010 beschlossen wurde. Sie hätten sich einen Mindestlohn dazu gewünscht, sagt Jürgen Trittin heute. Dabei hatten 2004 selbst die Gewerkschaften einen Mindestlohn noch als Eingriff in die Tarifautonomie abgelehnt. Erst einige Jahre nach der Einführung der Agenda 2010 hatte sich der Niedriglohnsektor in einigen Branchen dermaßen ausgeweitet, dass mehrere Einzelgewerkschaften einen Mindestlohn zu verfechten begannen.

Anlässlich des Hartz-IV-Jubiläums meldeten sich auch in vielen Medien Ökonomen und Politiker zu Wort, die darüber aufklären wollen, dass die Agenda 2010 keinen so großen Anteil am neuen deutschen Wirtschaftswunder trage, wie gerne behauptet wird. So betätigt sich der zum Club der sogenannten Wirtschaftsweisen zählende Ökonom Peter Bofinger in der Taz als Entzauberer des Mythos: »Der Erfolg der deutschen Wirtschaft hat mit den Reformen nichts zu tun. Er verdankt sich dem Export deutscher Autos nach China und Indien.« Solche Hartz-IV-Kritiker sehen vor allem den Beitrag der Facharbeiter für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu wenig gewürdigt.

Aber nicht nur Politiker fast aller Parteien, sondern auch viele Erwerbslose sind der Meinung, dass Opfer gebracht werden müssen, um Deutschlands Stellung zu halten. Mit dieser Ideologie hat schließlich die deutsche Volksgemeinschaft im vorigen Jahrhundert ganz an­dere Zeiten überstanden. Wer einfach nur ein schönes Leben möchte, wird von einem Bündnis aus Mob und Boulevard als »Florida-Rolf« oder »Deutschlands frechster Arbeitsloser« an den öffentlichen Pranger gestellt. Schließlich verübt er in den Augen der braven Bild-Leser ein besonders schweres Verbrechen: Er will keine Opfer für Deutschland bringen. Gern melden sich die großen und kleinen Sozialdetektive zu Wort, die den erwerbslosen Nachbarn beim Jobcenter anzeigen, weil dieser vermeintlich Nebeneinkünfte bezieht. Dort findet sich in der Regel genügend Personal, das sich nicht lange bitten lässt und Erwerbslosen sogar die ALG-II-Leistungen vollständig streicht.

Eine Arbeitsvermittlerin wie Fabienne Brutus war in Deutschland lange nicht zu finden. Die Mitarbeiterin der französischen Agentur für Arbeit weigerte sich 2007, Erwerbslose zu sanktionieren, und ging an die Öffentlichkeit. Unter dem Motto »Fabienne gesucht« forderten auch in Deutschland Erwerbsloseninitiativen die Mitarbeiter von Jobcentern dazu auf, dem Beispiel der französischen Jobvermittlerin zu folgen und sich ebenfalls gegen die Zumutungen des Hartz-IV-Regimes auszusprechen. Kürzlich hat die Hamburger Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann erklärt, keine Sanktionen mehr gegen junge Erwerbslose zu verhängen. Auf ihrem Blog beschreibt sie die Zumutungen des Hartz-IV-Regimes, ohne sie mit dem Aufstieg Deutschlands zu rechtfertigen, und teilt mit, dass die Mitarbeiter der Jobcenter beim Umgang mit den Sanktionen durchaus einen Ermessungsspielraum haben, den sie nun nutze. Erfreut, endlich eine »deutsche Fabienne« gefunden zu haben, bekundeten zahlreiche Erwerbslose Hannemann ihre Solidarität, als sie wegen ihrer Kritik vom Jobcenter gerügt werden sollte. Dabei hätte das Personal der Jobcenter auch eigene Gründe, sich gegenüber den Erwerbslosen solidarischer zu zeigen. So hat der Vorsitzende der Bundesagentur für Arbeit in einem Schreiben von Anfang März, das der Jungle World vorliegt, eine von den Personalräten geplante Unterschriftenaktion gegen befristete Arbeitsverhältnisse in den Jobcentern untersagt, weil sie »dem gesetzlichen Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Personalvertretung und Dienststellenleitung widerspricht«.

Was anlässlich des Hartz-IV-Jubiläums in den Medien kaum thematisiert wurde, war der selbst­organisierte Widerstand von Erwerbslosen. Dabei brachte der Frankfurter Sozialwissenschaftler Harald Rein erst vor wenigen Wochen die Dokumentation »Dreißig Jahre Erwerbslosenprotest 1982–2012« heraus. Das Buch präsentiert nicht nur alle Formen der Erwerbslosenproteste der vergangenen Jahre, sondern leistet auch einen historischen Rückblick auf einen Zeitraum von fast 100 Jahren. So dürfte wenig bekannt sein, dass sich nach der Novemberrevolution neben Arbeiter- und Soldatenräten auch Erwerbslosenräte gründeten und dass »wilde Cliquen« von Erwerbslosen in der Weimarer Republik Zwangsräumungen verhinderten. Anschaulich werden auch die Proteste bei der Eröffnung des als »Hungerburg« bezeichneten Arbeitsamts im Berliner Stadtteil Neukölln im Jahr 1932 geschildert.

Diese Aktivitäten kann man als Vorbilder für die »Zahltag«-Aktionen bezeichnen, die seit 2007 von Köln ausgehend immer wieder kurzfristig für Schlagzeilen sorgen. Hier schließen sich Erwerbslose zusammen und fordern von den Jobcentern die Auszahlung von Geldern, die Bearbeitung von Anträgen und das Ende von Sanktionen. Vorige Woche organisierte der »Freundeskreis Bert Neumann« im Jobcenter von Forst den ersten »Zahltag« in Ostdeutschland. Der Kreis gründete sich zur Unterstützung des Erwerbslosen, dem seit dem 1. Januar für drei Monate das Arbeits­losengeld II vollständig gestrichen worden war, weil er einen Computerkurs abgebrochen hatte (Jungle World 5/2013). Obwohl der Erwerbslose nachweislich unter gesundheitlichen Problemen leidet, wurde die Sanktion nicht aufgehoben. Im Unterschied zu vielen anderen ging Neumann an die Öffentlichkeit und fand Menschen, die ihn unterstützen. »Wir wollen deutlich machen, dass die Sanktion immer Einzelne betrifft, aber alle gemeint sind«, sagt Erik Hofedank, der Pressesprecher des Freundeskreises.
Dass es zehn Jahre nach der Verkündung der Agenda 2010 auch Menschen gibt, die nicht Deutschland, sondern Bert Neumann sein wollen, und dass mittlerweile auch eine »Fabienne« in einem deutschen Jobcenter gefunden wurde, sind die erfreulichen Nachrichten dieses unerfreulichen Jubiläums
http://jungle-world.com/artikel/2013/12/47359.html
Peter Nowak

Aufstehen gegen Rassismus

Zivilgesellschaftliche Organisationen rufen zur Aktion »5 vor 12« auf
Morgen ist der Internationale Tag gegen Rassismus. Mit dezentralen Aktionen werden unter anderem institutioneller Rassismus, die deutsche Asylpolitik und die NSU-Morde thematisiert.

Der 21. März wurde von den vereinten Nationen zum »Internationalen Tag für die Beseitigung rassistischer Diskriminierungen« erklärt. Wie bereits im letzten Jahr rufen auch 2013 zahlreiche Organisationen unter dem Motto »5 vor 12« zu dezentralen Aktionen auf. Eine davon ist der Türkische Bund Berlin (TBB). Der Aktionstag solle dazu beitragen, dass Rassismus und Rechtspopulismus auch in etablierten Parteien bekämpft wird. Dabei stehen symbolische aber medienwirksame Aktionen im Vordergrund. So wollen Aktivisten am Donnerstag den Rassismus mit Besen aus Behörden und Verwaltungen fegen. »Wir wollen damit darauf hinweisen, welches Ausmaß Rassismus und Diskriminierung in Deutschland auch heute noch in solchen Institutionen haben«, erklärt TBB-Vorstandssprecher Hilmi Kaya Turan gegenüber »nd«. Wie im vergangenen Jahr machen auch 2013 mehrere Berliner Bezirksämter wieder bei der Aktion mit. Das Interesse sei in diesem Jahr sogar noch gewachsen betont Turan.
Neben verschiedenen Institutionen und Parteien wie Grüne und Linkspartei beteiligen sich verschiedene antirassistische Gruppierungen mit eigenen Aktionen an dem Tag. Sie stellen die deutsche Flüchtlingspolitik in den Mittelpunkt ihrer Aktionen.
So will die Antirassistische Initiative Berlin (ARI) am Donnerstag am Hackeschen Markt in Berlin ein Transparent mit den Namen von Flüchtlingen anbringen, die seit 1993 in Deutschland umgekommen sind. Diese Gedenkkundgebung an die Opfer der deutschen Asylpolitik ist der Auftakt der Kampagne »Fight Rassismus Now«. »Damit soll eine Plattform zur Vernetzung antirassistischer Gruppen gegen die rassistische Kontinuität geschafft werden. Es mobilisiert für einen bundesweiten Aktionstag Mitte Mai und den 25. Mai zu einer bundesweiten Demonstration nach Berlin«, erklärt eine Sprecherin der ARI. Die antirassistische Kampagne soll bis zum Bundestagswahlkampf fortgesetzt werden.

Wie im letzten Jahr spielt auch 2013 die Aufdeckung des Nationalsozialistischen Untergrunds eine zentrale Rolle. Hilmi Kaya Turan erklärt, dass der Schock und die Wut über die »Kette von sogenannten Pannen« in diesem Jahr sogar bei vielen der an dem Aktionstag beteiligten Gruppen noch gewachsen sei. »Es geht doch nicht, dass Menschen auf offener Straße erschossen werden«, sagte der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde Riza Baran. Wenn der pensionierte Lehrer, der seit fast 50 Jahren in Deutschland lebt, sagt, »wir sind doch längst zu einer Gesellschaft zusammengewachsen«, dann klingt es so, als müsse er sich nach den Ereignissen der letzten Monate im Zusammenhang mit der NSU selber Mut zu sprechen.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/816380.aufstehen-gegen-rassismus.html
Peter Nowak

Abfuhr der EU-Troika in Zypern

Könnte das Nein des zyprischen Parlaments auch Nachahmer in anderen EU-Ländern finden?

Ausgerechnet in Zypern hat die EU-Troika eine empfindliche Niederlage erlitten. Dabei haben die konservativen Medien und Politiker, die ominösen Märkte, aber auch die Protestbündnisse in ganz Europa seit Monaten auf Griechenland und Spanien geblickt. Wann wird in diesen Ländern einmal eine Mehrheit der Abgeordneten die als Rettungspakete deklarierten Verarmungsprogramme EU-Diktate einfach zurückweisen? Bisher hat der Druck aus den europäischen Kernländern, vor allem aus Deutschland, immer ausgereicht, um doch wieder eine zähneknirschende Zustimmung zu gewährleisten. Dabei haben die herrschenden Kreise in den jeweiligen Ländern durchaus ihre eigenen Interessen im Schatten des EU-Diktats durchgesetzt. Schließlich konnten sie sich dahinter verstecken und die Krisenlasten der großen Mehrheit der Bevölkerung aufbürden.

Dass ausgerechnet die Abgeordneten des zyprischen Parlaments die Courage hatten, der EU-Troika die kalte Schulter zu zeigen, überraschte Politik und Wirtschaft, aber auch die Protestbewegung. Dabei war es schon einmal eine Insel, die selten im Fokus des Weltgeschehens steht, die bereits vor einigen Jahren dem Druck der europäischen Wirtschaft und Politik trotzte: Die isländische Bevölkerung war partout nicht bereit, für die Schulden ihrer Pleitebanken aufzukommen. Das Land wurde trotzdem nicht isoliert und ist heute sogar wieder wirtschaftlich solvent. Kein Wunder, dass die EU-Politiker so panisch reagierten, als der damalige griechische Premierminister Papandreus ein Referendum über das EU-Programm anberaumte und dann wenige Tage später wieder absagen und zurücktreten musste.

Die Parlamentarier sind schließlich einfacher im Sinne der Troika-Logik zu bearbeiten. Daher ist es umso bemerkenswerter, dass am 19. März in Zypern kein einziger Abgeordneter für das Rettungsprogramm stimmte. Dabei glich die Drohkulisse, die gegen Zypern von europäischen Politikern und ihnen nahestehenden Medien in den letzten Wochen errichtet wurde, durchaus den Kampagnen, mit denen die Abgeordneten in Griechenland gefügig gemacht wurden. „Das Land am Abgrund“, „Staatsbankrott“ heißen die Stichworte.

Prophezeit und damit gedroht wurde, dass keine Löhne mehr gezahlt werden können und die Menschen hungern. Damit werden die Abgeordneten gefügig gemacht, sozialen Grausamkeiten zuzustimmen, die reale Not, die Zerschlagung des Gesundheitssystems und anderer sozialer Sicherheitssysteme zur Folge haben. Für die Bildzeitungsleser der verschiedenen Länder Kerneuropas wird zur Causa Zypern eine besondere Variante der sozialchauvinistischen Demagogie bereit gestellt.

Neben den Pleitegriechen, die ihre Inseln verkaufen sollen und den berühmten steuerbefreiten griechischen Reedern stehen die russischen Banken, die Zypern angeblich oder tatsächlich als Steueroase benutzen. Damit wurde in den Ländern die Stimmung geschaffen, besonders harte Auflagen für Zypern zu legitimieren. Gerade der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hat seit Wochen Unterstützung für Zypern an strenge Bedingungen geknüpft.

Welche Alternativen hat Zypern?

Nun stellt sich die Frage, warum gerade die zyprischen Abgeordneten den Mut aufbrachten, der EU-Troika ihr Nein entgegen zu schleudern. Noch wichtiger ist die Frage, ob dieses zyprische Nein vielleicht auch Nachahmer in anderen Ländern finden könnte. Schließlich sind die Beziehungen zwischen Zypern und Griechenland eng. Viel wird davon abhängen, wie die Alternativen aussehen, von denen der frisch gewählte zyprische Präsident Nikos Anastasiades gesprochen hat. Über ein Abkommen mit Russland wird gesprochen. Sind es auch Alternative für andere Länder, die unter dem Diktat des EU-Diktats leiden? Könnten nicht auch andere Staaten nach dem Nein aus Zypern auf die Idee kommen, dass selbst ein Staatsbankrott und der Austritt aus dem Euro das kleinere Übel ist – gegenüber immer neuen und immer aberwitzigeren Verarmungsprogrammen? Davor werden die EU-Bürokraten die größte Angst haben und es ist wahrscheinlich, dass sie schon Gegenmaßnahmen vorbereiten.

Motiviert das zyprische Nein die Protestbewegung?

Könnte der Widerstand aus Griechenland vielleicht auch der Protestbewegung neuen Auftrieb geben, die sich seit Jahren bemüht, die EU-Krise zu politisieren? Zumindest werden es die Aktivisten versuchen, die sich dabei sind, unter widrigen Umständen Ende Mai neue Krisenproteste in Deutschland zu organisieren. Sollte es den dort beschworenen europäischen Frühling tatsächlich geben, könnte er in Zypern begonnen haben.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153963
Peter Nowak

NPD-Verbot wird Wahlkampfthema


Die Begründungen für die Nichtbeteiligung der Bundesregierung am NPD-Verbot können als Verharmlosung der Rechten gewertet werden

Eigentlich war die neonazistische NPD auf den besten Weg sich selber abzuschaffen. Sie taumelte von einer Wahlniederlage in die nächste, aus der vollmundig gepriesenen Fusion mit der Deutschen Volksunion ist nur neuer Streit entstanden. Mit der Bewegung Pro Deutschland und der Kleinstpartei „Die Rechte“ ist ihr zudem weitere Konkurrenz im eigenen Milieu entstanden. Innerparteilich wartet der Freundeskreis des Ex-Vorsitzenden Voigt schon auf die Gelegenheit, um gegen die aktuelle Führung um den NPD-Politiker Holger Apfel zu putschen. Die Partei bräuchte nur bei der nächsten Landtagswahl in Sachsen aus dem Parlament zu fliegen und wäre wohl endgültig irrelevant.

Doch ausgerechnet die endlosen Diskussionen um das NPD-Verbotsverfahren könnte sie noch vor dem Untergang bewahren. Höhepunkt ist der Streit zwischen den verschiedenen Staatsapparaten, der nun durch das Veto der FDP gegen eine Beteiligung der Bundesregierung deutlich wird. Auch der Bundestag wird nun keinen Verbotsantrag stellen. Plötzlich wird der Kampf gegen Rechts zum innenpolitischen Thema.

SPD und Grüne werden sich die Chance nicht entgehen lassen, sich als die besseren Kämpfer gegen die rechte Gefahr zu inszenieren. Denn die FDP konnte sich in der Frage nur deshalb durchsetzen, weil die Union hoffnungslos zerstritten ist. Das zeigte sich schon wenige Stunden, nachdem die neue Marschrichtung der Bundesregierung bekannt wurde. Der CSU-Innenpolitiker Uhl konnte sich mit seiner skeptischen Haltung gegen ein NPD-Verbot, die er schon immer äußerte, auch gegenüber dem CSU-Vorsitzenden Seehofer bestätigt sehen, der vor allem aus realpolitischen Gründen die Beteiligung der Bundesregierung an einem NPD-Verbot befürwortete.

Bundesinnenminister Friedrich und Bundeskanzlerin Merkel, die sich zu dieser Frage immer bedeckt gehalten haben, müssen die neue Linie jetzt politisch vertreten. Der Kreis der Kritiker wächst. Dazu gehören zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen. Auch der Vorsitzende der Zentralrat der Juden, Dieter Graumann, der sich seit Langem für ein energisches Vorgehen gegen die NPD einsetzt, kritisiert den Rückzieher der Bundesregierung.

Ist Faschismus nur eine Dummheit, die man nicht verbieten kann?

Sollte der Verdacht entstehen, dass der Rückzieher der Bundesregierung eben nicht nur die vorgegebenen verfassungsrechtlichen Gründe hat, sondern eine Verharmlosung rechter Strömungen dahinter steckt und vielleicht sogar ein Liebäugeln mit rechten Wählern. hätte sie wirklich ein Problem. Tatsächlich gibt es diskussionswürdige verfassungsrechtliche Argumente gegen ein NPD-Verbot, wie sie teilweise im Umfeld von Politikern der Grünen geäußert wurden. Doch die Statements von den Gegnern des NPD-Verbots in der Bundesregierung gehen in eine ganz andere Richtung.

Wenn der FDP-Vorsitzende Rösler das NPD-Verbot mit dem Spruch begründet, dass man Dummheit nicht verbieten kann, dann wird eine offen rechte Partei tatsächlich verharmlost. Noch wesentlich fataler ist die Erklärung des CSU-Rechtsaußen Uhl, der sich gegen ein NPD-Verbot mit der Begründung ausspricht, „dass es unverhältnismäßig ist, eine Partei zu verbieten, die 99 Prozent der Wähler verachten und von der keine Gefahr für die Demokratie ausgeht“.

Damit maßt er sich genau das Urteil an, das das Gericht eigentlich prüfen sollte. Die NPD kann sich zudem freuen, dass ihr nun von einem führenden Politiker einer Regierungspartei bescheinigt wird, was ihr das Bundesverfassungsgericht verweigert hat. Zudem ist die Erklärung auch eine Provokation für viele zivilgesellschaftlichen Gruppen, die in Initiativen gegen Rechts arbeiten und dort durchaus unterschiedliche Meinungen zu einem staatlichen NPD-Verbot haben.

Denn damit wird unterschlagen, was genügend Studien nachweisen: Dass ein relevanter Teil der Bevölkerung rechte Ideologie vertritt und dass die momentane Erfolglosigkeit der NPD eher mit deren Erscheinungsbild und deren scheinbarem Loserimage, nicht aber mit einer grundsätzlichen Ablehnung von deren Ideologie zu tun hat.

Erklärungen von Uhl und Rössler, die der NPD eine Unbedenklichkeit ausstellen, sind auch eine Provokation für viele migrantische Organisationen, die im Zuge der Aufdeckung der NSU daran erinnern, dass sie jahrelang als Täter stigmatisiert wurden. Wenn man sich das mehr als ein Jahrzehnt dauernde Gezerre um das NPD-Verbot anguckt, könnte man sich fragen, ob es im Staatsapparat nicht Kräfte gibt, die eine legale NPD an der langen Leine, der aber immer wieder auch ihre Grenzen gezeigt werden, durchaus erhalten wollen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153953
Peter Nowak

Castorgegner vor Gericht

Am heutigen Montag beginnt vor dem Potsdamer Amtsgericht der Prozess gegen einen AKW-Gegner. Ihm wird vorgeworfen, 2010 in der Nähe von Kassel zwei Personen unterstützt zu haben, die mit Seilen an einer ICE-Strecke gegen den damaligen Castortransport protestiert haben. Der zweite Vorwurf ist bereits fünf Jahre alt. Beim Castortransport 2008 soll der Angeklagte in der Pfalz Aktivisten unterstützt haben, die sich in einem Betonblock anketteten und damit den Atomzug 12 Stunden aufhielten. Der Vorgang ist in mehrerlei Hinsicht bizarr. Zum einen ist es der Gerichtsort, der weder mit dem vermeintlichen Tatort noch dem Wohnort des angeblichen Täters zu tun hat. Denn seit einer internen Reform der Bundespolizei werden sämtliche Verfahren zu Ordnungswidrigkeiten im Bereich der Bahnanlagen nur noch vor dem Potsdamer Amtsgericht verhandelt. Zum anderen moniert der Beschuldigte, er habe sich beide Male lediglich in der Nähe einer Aktion zivilen Ungehorsams befunden.
Fracking

Die merkwürdige Regelung über den Gerichtsort bringt nicht nur lange Anfahrtswege für Beklagte – im aktuellen Fall 500 Kilometer, mit sich. Juristen sehen auch eine Beeinträchtigung der Rechte der Angeklagten, wenn der Gerichtsort für sämtliche Verfahren Potsdam ist. Nun regt sich Widerstand: Bereits im Februar organisieren zahlreiche außerparlamentarische Gruppen in der brandenburgischen Landeshauptstadt Aktionstage gegen Repression und enterten in diesem Rahmen auch das Brandenburger Tor in Potsdam.

Immerhin konnte in der vergangenen Woche die Robin-Wood-Aktivistin Cecile Lecomte, die wegen ihrer Kletteraktionen Eichhörnchen genannt wird, vor Gericht einen Erfolg erzielen. Sie war am 17. Mai 2011 bei einer Protestaktion gegen die Tagung des Deutschen Atomforums in Berlin von der Polizei festgenommen worden. Jetzt hat ihr die Polizei schriftlich bestätigt, dass ihre Festnahme ebenso rechtswidrig war wie der anschließende Platzverweis. Ob das Verfahren heute in Potsdam ebenso ausgeht, wird sich zeigen.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/816061.castorgegner-vor-gericht.html
Peter Nowak

Genickschuss oder Begnadigung?


Während ein Artikel, der die Todesstrafe befürwortete, unter Taz-Lesern für Aufregung sorgte, bleibt die Kritik schwach, wenn soziale Bewegungen Hinrichtungen propagieren

„Jeder sollte bekommen, was er verdient. Ja, jeder hat das Recht auf Leben, und das muss respektiert werden. Bis zu einem gewissen Punkt: Wenn du jemandem das Leben genommen hast, dann sei bitte so gut, und gib auch deins dafür. Das ist die ganze Politik.“

Diese Verteidigung der Todesstrafe war am 22. Februar in einer Beilage unter dem martialischen Titel „Begnadigung oder Genickschuss?“ der linksliberalen Tageszeitung zu finden. Dort hätte man eine Zustimmung zu einer Hinrichtung bestimmt nicht erwartet. Schließlich schrieb die verantwortliche Redakteurin: „Diese Texte, die nicht die Meinung der taz-Redaktion wiedergeben, unterscheiden sich deutlich von den Beiträgen, die Sie sonst in unserer Zeitung finden. Aber das ist ein Ausdruck unterschiedlicher Realitäten im immer noch geteilten Europa.“

Das ist nun ein sehr schwaches Argument. Auch Antisemitismus und Rassismus gehören zu den Realitäten in Europa und trotzdem erwartet niemand, dass die nun in der Taz affirmiert werden. Allerdings kann man auch vielen der Kritiker des Artikels Heuchelei unterstellen. Denn auf den Beitrag folgten eine Menge empörter Leserbriefe. Viele sahen gleich ihren Seelenfrieden in Gefahr. Zuweilen meinte man aus manchen dieser Briefe noch den Sound der frühen Spontijahre der Taz herauszuhören, als auch immer gleich die Welt fast unterging, wenn man einmal eine Meinung lesen musste, die man partout nicht akzeptieren konnte.

Politisch ist Liza Krasavtceva tatsächlich heftig zu widersprechen. So heißt die junge weißrussische Journalistin, die an einem Ostwest-Workshop junger Journalisten in der Taz teilnahm. In diesem Rahmen ist der umstrittene Kommentar entstanden, der sich mit der Hinrichtung von zwei angeblichen Attentätern in Weißrussland befasste. Die Todesurteile und ihre Vollstreckung sorgten europaweit für Empörung. Neben ihrer plumpen Verteidigung der Hinrichtung der jungen Männer finden sich in dem Beitrag der Journalistin auch einige diskussionswürdige Punkte, die aber von den Kritikern ignoriert wurden. So erinnert die Autorin an Paragraph 21 der hessischen Verfassung, der die Todesstrafe zulässt.

Kriege ja – Todesstrafe nein?

Auch eine andere Frage der Autorin hätte argumentative Auseinandersetzungen verdient. So schreibt sie: „Auch in anderen Ländern, wie China, den USA, Iran, Irak und Saudi-Arabien, werden Menschen zum Tode verurteilt und hingerichtet. Vielleicht ist die EU bestürzt darüber, dass das kleine Weißrussland in dieser Frage in einer Linie mit den USA steht? Aber warum empört sich die EU dann nicht so lautstark, wenn es um Fakten in diesen anderen Ländern geht?“ Tatsächlich hängt der Grad der Empörung über die Todesstrafe sehr stark davon ab, um welches Land es sich handelt.

Meldungen über vollzogene Hinrichtungen in den USA sind meistens versteckt im Auslandsressorts zu finden. Die Debatte ist auch deshalb heuchlerisch, weil in der Taz in den letzten Jahren immer wieder auch Kriege verteidigt wurden. Auch ein Taz-Beitrag, in dem das Recht auf Waffenbesitz in den USA unter der Überschrift „Das Recht zu schießen“ ausdrücklich verteidigt wurde, sorgte längst nicht für so viel Aufregung, wie der Artikel der weißrussischen Journalistin. Dabei bezieht sich der Autor auf eine vor allem in den USA virulente rechte Staatskritik, die den Waffenbesitz mit der Ablehnung jeder Gesellschaftlichkeit verbindet, die historisch eng mit dem Kampf gegen die indigene Bevölkerung in den USA verbunden ist. Es gäbe also für Leser, die sich gerne und schnell empören, häufig Grund zur Aufregung. Aber Liza Krasavtceva konnte man noch gleich als Parteigängerin des geächteten weißrussischen Regimes markieren. Gerade das aber macht die Empörung so schal und konformistisch.

Die Taz-Chefredakteurin Ines Pohl zeigte in ihrer Erklärung Verständnis für die Kritiker und verschob den Focus noch mehr auf die Frage, ob einer regimetreuen Journalistin in der Taz ein Forum geboten werden soll. Dabei wäre eine Diskussion darüber fällig, ob Initiativen in aller Welt nicht viel mehr Kritik erfahren müssten, die mit der Forderung für die Todesstrafe auf die Straße gehen. Dazu gehört ein naußerparlamentarisches Bündnis in Bangladesch. das seit Wochen dafür demonstriert, dass die Todesstrafe gegen Islamisten verhängt wird, die sich vor mehr als 40 Jahren bei Konflikten im Land schwerer Verbrechen schuldig gemacht haben sollen. Dass es jetzt zur Anklage kommt, ist das Ergebnis eines Machtverlustes der Islamisten. Der neue Machtblock gibt sich eher säkular, ist aber ebenfalls autoritär.

Tod den Vergewaltigern?

Auch in Indien kann von einer [Renaissance der Todesstrafe http://www.taz.de/!111142/] in sozialen Bewegungen gesprochen werden. Nach der brutalen Vergewaltigung einer jungen Frau, die an ihren schweren Verletzungen gestorben ist, wurde auch von feministischen Gruppen in Indien die Todesstrafe für Gewaltiger gefordert. Nachdem einer der Hauptangeklagten in seiner mit mehreren Gefangenen belegten Zelle unter ungeklärten Umständen zu Tode kam, gab es unverhohlene Zustimmung in Teilen dieser Bewegung.

Es ist eine Sache, sich gegen Rufe nach der Todesstrafe zu empören, wenn sie von einer Autorin kommt, der die Nähe zu einem Regime nachgesagt wird, das kaum jemand verteidigt. Sollte aber hinter der Empörung eine klare menschenrechtliche Position stehen, muss die auch gegen soziale Bewegungen verteidigt werden, die wie in Indien scheinbar berechtigte Anliegen vortragen. Die Forderungen, die nach der brutalen Vergewaltigung auf Indiens Straßen laut wurden, hätten nicht nur wegen der offenen Propagierung der Todesstrafe Kritik verdient. Kaum jemand hat darauf hingewiesen, dass es dabei längst nicht um die Rechte aller Frauen in Indien ging. Die Empörung war so groß, weil die Opfer aus der wachsenden indischen Mittelklasse, die Täter aber mehrheitlich aus den Armensiedlungen stammen.

Dass Frauen aus in Indien marginalisiertesten Bevölkerungsgruppen, wie den Dalit und Adivasi seit Jahrzehnten sexuellen Angriffen ausgesetzt sind, hat hingegen auch in der indischen Gesellschaft bisher kaum Proteste ausgelöst. Eine Ahnung von dem Ausmaß ihrer Unterdrückung gibt die Biographie der indischen Rebellin Phoolan Devi, über deren Leben ein Filmbuch Auskunft gibt. Phoolan Devi ging als Guerillera in den achtziger Jahren auch gewaltsam gegen Vergewaltiger vor und wurde von Familienangehörigen eines dieser Vergewaltiger 2001 ermordet, als sie den bewaffneten Kampf aufgegeben hatte und für eine linke indische Partei im Parlament saß.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153943
Peter Nowak

Die Armut der Anderen


Die Kritik der Opposition am Armutsbericht der Bundesregierung konzentriert sich auf Nebensächlichkeiten. Kritik an der Armut selbst oder an ihren Ursachen gibt es dagegen kaum.

»FDP schafft Armut in Deutschland ab – zumindest auf dem Papier.« So oder so ähnlich könnte die Debatte der vergangenen Wochen zusammengefasst werden. Bereits Ende November hatten Oppositionsparteien, Gewerkschaften und soziale Initiativen empörte Pressemitteilungen verfasst, als bekannt geworden war, dass der ursprüngliche Entwurf des alle vier Jahre vom Bundesarbeitsministerium veröffentlichten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung auf Druck der FDP entschärft worden war. Jetzt wurde dieser Bericht über »Lebenslagen in Deutschland« in seiner endgültigen Form veröffentlicht und die Kritiker setzten sich erneut in Szene.

Die FDP habe sich durchgesetzt und der Bericht schöne die soziale Wirklichkeit in Deutschland, lautet die meist eher moderat vorgetragene Kritik. Sigmar Gabriel, der sich als Vorsitzender der SPD schon ganz im Wahlkampfmodus befindet, fühlte sich gar an die Praktiken »totalitärer Staaten« erinnert, wo die Wirklichkeit »gefälscht, Statistiken verändert, retuschiert und Zensur ausgeübt« werde.

Davon kann im Armutsbericht allerdings keine Rede sein. Tatsächlich sind jedoch einige prägnante Aussagen aus der Zusammenfassung des Berichts in den hinteren Teil gewandert – darunter die Feststellungen, dass vier Millionen Beschäftigte in Deutschland für einen Stundenlohn von weniger als 7,50 Euro arbeiten oder dass die Privatvermögen in Deutschland ungleich verteilt sind.

Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), deren Mitarbeiter für die ursprüngliche Version des Berichts verantwortlich waren, wies die Kritik vehement zurück. Ihre Erklärung zu der Veränderung des Berichts ist so vage, wie es in der Politik üblich ist. »Die vorliegenden Daten belegen eine positive Entwicklung der meisten Lebenslagen in Deutschland. Es gibt aber auch Befunde im vierten Armuts- und Reichtumsbericht, die Handlungsbedarf signalisieren«, lautet ihre Stellungnahme, die auch von einem rot-grünen Arbeitsministerium nicht wesentlich anders formuliert worden wäre. Schließlich ging in der aufgeregten Debatte um die unterschiedlichen Fassungen fast gänzlich unter, welche Zeiträume in dem neuen Armutsbericht eigentlich verglichen wurden. Für die größte Oppositionspartei ein echter Glücksfall, denn der Armutsbericht – ob nun in der alten oder der neuen Fassung – vergleicht den Zustand im Jahr 1998, also dem Jahr, als die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder an die Regierung kam, mit dem des Jahres 2008, also einer Zeit, in der zwar eine große Koalition die Regierung stellte, Arbeits- und Finanzministerium aber immer noch in den Händen der SPD waren.

Die gespielte Empörung der Opposition lässt sich daher wohl eher unter der Rubrik »Wahlkampfgetöse« verbuchen. Kritisiert wird von ihr nur, dass der Bericht von der ersten Fassung bis zur Veröffentlichung verändert wurde. Dabei müsste die erste Frage eigentlich lauten, ob es überhaupt einen Armutsbericht braucht, um über die gegenwärtige soziale Lage in Deutschland aufzuklären. Schließlich muss man nur mit wachen Augen durch eine beliebige Großstadt gehen, um etwas über Armut in Deutschland zu erfahren. Immer mehr Menschen leben vom Flaschensammeln oder dem Verkauf von Obdachlosenzeitungen, und die Vorräume vieler Bankfilialen sind – wenn sie nicht »aus Sicherheitsgründen« um Mitternacht abgeschlossen werden – in Winternächten von obdachlosen Schlafgästen belegt. Wer sich über Armut in Deutschland ein Bild machen will, kann auch – bevorzugt am Monatsende – ein Jobcenter besuchen und zuschauen, wie die Menschen dort Essensgutscheine abholen wollen, weil sie keinen Cent mehr haben. Auch ein Besuch bei einer der vielen »Tafeln«, bei denen Bedürftige von den Supermärkten entsorgte Lebensmittel abholen, wäre ein geeigneter Ansatzpunkt, um etwas über Armut in Deutschland zu erfahren.

Doch nur eine Minderheit der Armen ist in der Öffentlichkeit sichtbar. Längst ist die Verelendung auch in der Mittelschicht angekommen, die jedoch die eigene Misere möglichst zu verbergen versucht. In der Taz etwa kam vor einigen Wochen ein Augenarzt aus Ulm zu Wort, der eine Praxis für verarmte Angehörige der Mittelschicht eröffnet hat. Er beschreibt seine Patienten als »ganz bürgerliche Leute, die sauber gearbeitet haben und dann plötzlich arbeitslos wurden oder bankrott gegangen sind«. Ehemals Selbstständige seien ebenso darunter wie Akademiker. Der Arzt berichtet exemplarisch über einen dieser Armutsfälle: »Einer ist ein ehemaliger Lehrer, der seine Medikamente nicht mehr zahlen kann. Die Frau hatte Krebs, und sie haben, nachdem nichts mehr half, Chemo gemacht mit ausländischen Ärzten, Akupunktur usw., er ist dabei ausgenommen worden. Das ganze Geld war weg. Und nun kriegte er den grünen Star, die Kasse verlangt soundso viel Selbstzahlung, was er nicht leisten kann. Er kommt regelmäßig sehr gepflegt mit Anzug und Krawatte in die Praxis und bekommt von mir kostenlos seine Tropfen.«

Wer also etwas über die wachsende Armut in Deutschland erfahren will, ist auf die Lektüre des Armutsberichts wahrlich nicht angewiesen. Auch das Scheingefecht von Regierung und Opposition über die Frage, wer die Verantwortung dafür zu tragen habe, dass diese oder jene Passage verändert oder in den hinteren Teil verfrachtet worden ist, geht am Kern des Problems vorbei. Stattdessen müsste über die Ursachen der wachsenden Armut in Deutschland diskutiert werden. Hierbei stünden aber nicht nur die derzeitige Bundesregierung und insbesondere die FDP in der Verantwortung, sondern auch SPD und Grüne. Schließlich fällt die Einführung der Agenda 2010, die den Niedriglohnsektor erst richtig expandieren ließ, ebenso in die rot-grüne Ära wie der Boom im Bereich der Leiharbeit und die deutliche Senkung des Höchstsatzes bei Einkommenssteuer.

Zudem sollte bei einer Debatte über den Armutsbericht die europäische Dimension des Problems nicht vernachlässigt werden. Schließlich verordnet die deutsche Regierung mit Unterstützung der Oppositionsparteien SPD und Grüne, die nur gelegentlich Detailkritik üben, der gesamten Euro-Zone eben jenes Wirtschaftsmodell, das in Deutschland zur Ausbreitung der Armut führte. Die Folgen in den Ländern der europäischen Peripherie sind bekannt. Dennoch wurde die Debatte darüber nach der Veröffentlichung des Armutsberichts kaum geführt, stattdessen wurden die unterschiedlichen Fassungen zum Skandal aufgeblasen. Damit ist die Differenz zwischen Regierung und Opposition exakt benannt. Nicht die Existenz von Armut ist für sie das Problem, sondern die Art, wie man über sie berichtet.

Nur wenige Tage nach der zweiten Aufregung um Formulierungen im Armutsbericht tagte in Berlin der 19. Kongress Armut und Gesundheit. Mehr als 2 000 Teilnehmende diskutierten dort und stellten einen sehr direkten Zusammenhang zwischen Armut, Krankheit und frühem Tod her. Bei Alleinerziehenden mit Kindern in einem Alter von bis zu drei Jahren liege das Armutsrisiko bei über 50 Prozent. Bei Menschen mit niedriger Schulbildung und ohne berufliche Ausbildung sei es jeder Vierte, der an oder unter der Armutsgrenze lebe, hieß es dort in einer Erklärung. »Statistisch gesehen werden arme Menschen häufiger krank und sterben früher. Frauen, die in Armut leben, haben eine um acht Jahre kürzere Lebenserwartung als sozial Bessergestellte, bei Männern sind es sogar elf Jahre«, schrei­ben die Veranstalter des Kongresses und benennen damit Sachverhalte, die weder in der ersten noch in der letzten Fassung des Armutsberichts formuliert wurden.

Diese Fakten aber fanden in der Medienöffentlichkeit längst nicht das Echo, das die Debatte um die unterschiedlichen Versionen des Armutsberichts hervorrief. Auch an Darstellungen über die Altersarmut haben wir uns längst gewöhnt. Schließlich sind Renten, von denen man nicht ­leben kann, nur die logische Fortsetzung der Hartz-IV-Politik. Schon jetzt versuchen auch Rentner mit Minijobs ihre kärglichen Einnahmen aufzubessern. Für die Unternehmen dagegen ist es ein gutes Geschäft, wenn das Erreichen des Rentenalters keine Grenze mehr für die Ausbeutung der Menschen darstellt. Armut ist also durchaus ein Thema in der deutschen Öffentlichkeit. Der Schwerpunkt dabei liegt jedoch meist auf den unterschiedlichen davon betroffenen Gruppen, die zudem noch häufig isoliert voneinander betrachtet werden. Dabei müsste die Kritik auf die kapitalistisch verfasste Gesellschaft zielen, die Armut für viele ebenso hervorruft wie Reichtum für Wenige.
http://jungle-world.com/artikel/2013/11/47319.html
Peter Nowak