Bafögantragstau – oder wie die Krise in Deutschland ankommt

Mit der Agenda 2020 soll der Sozialstaat auf allen Gebieten weiter abgebaut werden

Ende Dezember 2012 hat die Berliner GEW-Vorsitzende Sigrid Baumgardt in einer Pressemitteilung Alarm geschlagen. Weil die Bafög-Anträge von Tausenden Schülern und Studierenden trotz rechtzeitiger Abgabe noch nicht bearbeitet worden sind, sei die Situation der Betroffenen dramatisch. Viele wissen nicht, wie sie die nächste Miete bezahlen sollen. Zudem haben sich viele Betroffene verschuldet. Denn von den Abschlagszahlungen, die nur 80 Prozent des Bafög betragen, kann kaum jemand über die Runden kommen. Die Berliner GEW forderte, dass zumindest diese Abschläge unbürokratisch weiter gewährt werden muss, ohne dass die Betroffenen weitere Anträge steellen müssen.

Wie hoch die Zahl der vom Bafög-Stau Betroffenen ist, zeigen die Ergebnisse einer Anfrage der bildungspolitischen Sprecherin der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus, Regina Kittler. Allein im Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf waren noch 2.700 bis 3.000 Anträge auf Schüler-BAföG und etwa 600 aus dem Auslandsförderbereich unbearbeitet. Das Bafög-Amt Charlottenburg-Wilmersdorf ist für sieben Bezirke zuständig und war mehrere Wochen geschlossen, um den Abarbeitungsstau zu beheben. Zudem müssen noch etwa Berliner 3.900 Studierende des laufenden Wintersemesters auf die Bearbeitung ihrer Anträge warten.

Verschärfung durch die Schuldenkrise

Sigrid Baumgardt von der Berliner GEW benennt auch die Ursachen: „Der Antragsstau im Bafög-Amt ist Folge des voranschreitenden Personalabbaus im öffentlichen Dienst.“ Allerdings folgen in der Pressemitteilung daraus keine Konsequenzen. Warum initiieren die Gewerkschaften nicht gemeinsam mit sozialen Verbände und Studierendenorganisationen eine Kampagne mit dem Motto „Den Bafögantragsstau auflösen – den Personalabbau im öffentlichen Dienst stoppen“?

Schließlich ist der Bafögantragsstau ein Beispiel dafür, wie von der Sparpolitik die Beschäftigten und die Nutzer der Dienstleistung gleichermassen tangiert werden. Die Folgen der kommunalen Kürzungspolitik für die Beschäftigten hat der Charlottenburger Bafögamtsleiter Carsten Engelmann gegenüber dem Deutschlandradio so auf den Punkt gebracht:

„Die Arbeitsbelastung und die hohe Rate an kranken Mitarbeitern hat mich dazu veranlasst, das Amt zu zumachen, im Sinne von: Wir schaffen Arbeitsruhe, um möglichst viele Anträge abzuarbeiten.“

Die Arbeitsverdichtung lässt sich auch in Zahlen quantifizieren: Vor drei Jahren kamen auf einen Bafög-Sachbearbeiter etwa 500 Anträge – mittlerweile sind es bis zu 750. Im Zeitalter der Schuldenbremse ist absehbar, dass es keine Entspannung sondern eine Verschärfung der Bedingungen für Beschäftigte und Schüler und Studierende geben wird. Dabei ist der Bafög-Bereich nur ein Beispiel für die massive Verschlechterung im Dienstleistungsbereich der Kommunen, den die Politik mit ihrer Sparpolitik bewusst in Kauf nimmt. Von öffentlichen Protesten, die über die Verteidigung der eigenen Anliegen hinausgehen, hört man hierzulande wenig.

Immer wieder wird als Begründung von linken Politikern und Aktivisten angeführt, „die Krise ist hierzulande noch nicht angekommen“. Doch welche Vorstellungen bestehen über das Ankommen der Krise? Sind nicht die wachsenden Schlangen an Suppenküchen und Essenstafeln ebenso wie der Bafögantragsstau eine Form, in der die Krise angekommen ist?

Weiterer Sozialabbau durch Agenda 2020?

Dass die Weichen zumindest von den meisten Kommunalpolitikern auf weiteren Sozialabbau, eine weitere Ausdünnung des Personalbestands und weitere Verschlechterungen im Dienstleistungssektor gestellt werden, zeigte der Warnruf der Kommunalpolitiker über ihre Finanzsituation. Nicht Steuererhöhungen für die Vermögenden und eine Ablehnung der Schuldenbremse, sondern eine Agenda 2020 wird dort propagiert und das Zauberwort „Vorrang der Haushaltskonsolidierung“ ist das Leitmotiv.

Der Name erinnert nicht zufällig an die Agenda 2010, mit der Bundeskanzler Schröder Hartz IV auf den Weg brachte. Mit der Agenda 2020 soll der Sozialstaat auf allen Gebieten weiter abgebaut werden. Das passiert in einem Land, dessen Spitzenpolitiker immer betonen, dass Deutschland gestärkt aus der Krise hervorgegangen sei. Tatsächlich gehört die deutsche Wirtschaft im europäischen Maßstab zu den Gewinnern. Dass hat auch ein neuer Sozialbericht der EU deutlich gemacht, wonach die Verarmung in der Europäischen Union weiter zugenommen hat. „Die Kluft zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden wächst“, heißt es da. Doch auch im „reichen Norden“ gibt es viele Krisenverlierer, die Betroffenen des Bafögstau gehören dazu.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153518
Peter Nowak

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