„Ein Kind, das an Hunger stirbt, wurde ermordet!

Positiv- und Negativpreise für Jean Zieger und den Rohstoff-Multi Glencore

Der Saal im Berliner Pfefferwerk war voll, als dort am Samstag die Stiftung Ethecon ihren Positiv- und Negativpreis vergab. Publikumsmagnet war der Schweizer Soziologe Jean Ziegler, der sich den Kampf gegen den Hunger verschrieben hat und dafür auch in UN-Gremien als Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung arbeitete.

„Ziegler setzt sich seit Jahren unerschrocken für das Recht auf Nahrung ein“, begründete Ethecon-Sprecherin Bettina Schneider die Auswahl des diesjährigen Preisträgers. Bei seinem Engagement ging es Ziegler immer auch um die gesellschaftlichen Ursachen für den Hunger in der Welt, worauf der Gründer der NGO Business Crime Control, Hans See, in seiner ausführlichen Laudatio auf den Preisträger hinwies. „Nie mehr auf Seiten der Henker stehen“, sei Zieglers Devise, betonte See. Vor wenigen Monaten ist Zieglers Buch Wir lassen sie verhungern – die Massenvernichtung in der dritten Welt auf Deutsch erschienen. Dort geht er mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem hart ins Gericht. Zieglers Äußerung: „Ein Kind, das an Hunger stirbt, wurde ermordet“, wurde am Samstag häufig zitiert.

Strukturelle Gewalt statt böse Manager

In seiner Dankesrede lieferte der Geehrte viele Details zum weltweiten Skandal des Hungers. Ziegler betonte, dass bei den heutigen technischen Mitteln kein Mensch mehr Hunger leiden müsste. Hunger sei nicht die Folge von Mangelproduktion, sondern bedingt durch den fehlenden Zugang zu Nahrung. Dabei betonte Ziegler, dass es sich um strukturelle Gewalt handelt und eine Anprangerung von angeblich „bösen Managern“ daher zu kurz greife.

Diesen Befund sollte man im Hinterkopf haben, wenn jetzt von drei Preisträgern die Rede ist, welche die ihnen zugedachte Ethecon-Ehrung ignoriert haben. Simon Murray, Tony Hayward und Ivan Glasenberg sollten stellvertretend für den Schweizer Rohstoff-Multi Glencore den Negativpreis der Stiftung entgegennehmen. Die Schmährede, in der diese Wahl begründet wurde, hielt der Schweizer Gewerkschafter und engagierte Antimilitarist Josef Lang.

Er berichtete, dass Glencore in der Schweiz seit langem in der Kritik steht und auch schon mit Negativpreisen bedacht wurde. Mit der Verleihung des jetzigen Negativpreises dürften auch in Deutschland die Praktiken des umstrittenen Konzerns bekannter werden.

„Multis wie Glencore verletzen Menschen- und Sozialrechte, verursachen Umweltschäden und vergiften Gewässer, verschieben Gewinne in Steuerparadiese, vergrößern den globalen Graben zwischen arm und reich“, heißt es dem Aufruf eines Komitees Solidarität mit den Opfern der Rohstoffmultis.

Das Komitee hatte vor einigen Monaten zu einer Demonstration im Schweizer Örtchen Zug, in der Glencore seinen Sitz hat, aufgerufen. Der Konzern wurde von dem Schweizer Ölhändler Marc Rich gegründet. Er war mit Diktatoren verschiedener Länder befreundet und wurde von den US-Behörden wegen Steuerhinterziehung und Falschaussagen angeklagt, aber 2001 vom damaligen Präsidenten Bill Clinton begnadigt.

Eröffnet wurde die gesellschaftskritische Herbstschule, zu der sich die alljährlich Mitte November stattfindende Ethecon-Preisverleihung mittlerweile entwickelt hat, von dem Kölner Publizisten Werner Rügemer, der sich in seiner Rede mit dem Ausverkauf öffentlicher Güter im Rahmen des Public Private Partnership auseinandersetzte.

Die Stiftung Ethecon wurde 2004 von Axel Köhler Schnurra und Gudrun Rehmann mit dem Ziel gegründet, ökologische, soziale und menschenrechtliche Prinzipien im Wirtschaftsprozess zu fördern sowie demokratische und selbstbestimmte Strukturen zu stärken.

In den letzten Jahren waren u.a. die indische Globalisierungskritikerin Vandana Shiva, der israelische Friedensaktivist Uri Avnery, der österreichische Menschenrechtler Elias Bierdel und die langjährige Kämpferin gegen Rassismus und den gefängnisindustriellen Komplex in den USA, Angela Davis mit dem Preis geehrt worden.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/153213
Peter Nowak

Die schöne Republik

In der vorigen Woche debattierte der Bundestag über die Aufarbeitung der NS-­Vergangenheit deutscher Behörden und Ministerien. Viele Akten sind weiterhin nicht zugänglich.

70 000 Mark Abfindung kassierte Carl-Theodor Schütz, nachdem ihm der Bundesnachrichtendienst (BND) 1964 wegen seiner NS-Vergangenheit gekündigt hatte. Schütz erstritt die Summe vor Gericht, wegen der Entlassung von seinem Posten als Abteilungsleiter beim BND war er vorübergehend in Geldnot geraten und musste sein Haus verkaufen. Dabei konnte sich Schütz auf eine exzellente berufliche Beurteilung berufen. Reinhard Gehlen, der während der NS-Zeit als Leiter der Gruppe Ost der Heeresabteilung maßgeblich am Unternehmen Barbarossa beteiligt war, setzte sich besonders für ihn ein. Gehlen, der bis 1968 Präsident des BND war, erläuterte dem vormaligen Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, Adenauers Staatssekretär Hans Globke, in einem Schreiben, warum die NS-Elite auch nach dem Ende des NS-Regimes gebraucht werde: Die ehemaligen Beamten der Gestapo seien die »einzig kriminalistisch geschulten Beamten (…), die die Gewohnheit des Umgangs mit intelligenten Gegnern haben, wie sie im Kreise der Kriminellen regelmäßig nicht anzutreffen sind«. Für Gehlen und seinen Adressaten war klar, wer damit gemeint war. Es ging vor allem um Kommunisten.
Schütz hatte bereits 1924 diesen Gegner fest im Blick, als er als Mitglied des Freikorps Rhein-Ruhr gegen streikende Arbeiter kämpfte. Er trat bereits im Oktober 1931 in die SS ein. 1933, als er schon als angehender Jurist beim Oberlandesgericht Köln beschäftigt war, beteiligte er sich an Überfällen auf Wohnungen von Kommunisten. Im selben Jahr wurde er wegen schwerer Misshandlung von wehrlosen Frauen und Männern von der noch nicht vollständig gleichgeschalteten Justiz zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt, aber bald begnadigt. Seine NS-Mordkarriere führte ihn nach Polen, in die Ukraine und nach Italien. Beim Massaker in den Ardeatinischen Höhlen, bei dem 335 Geiseln der SS ermordet wurden, kommandierte Schütz die Erschießungskommandos. Am Massaker beteiligte Täter sagten später aus, Schütz sei einer der Haupttäter gewesen.

Dass ein solcher Mann seine Karriere in der Bundesrepublik fortsetzen und wegen seiner Entlassung gerichtlich eine Abfindung erstreiten konnte, war keine Ausnahme. Die Karriere eines Carl-Theodor Schütz, der 1985 in Köln starb, ohne jemals gerichtlich belangt worden zu sein, beschäftigte in der vorigen Woche noch einmal den Bundestag.

Am 8. November debattierte das Parlament knapp zwei Stunden lang über die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit deutscher Behörden und Ministerien. Dass es sich dabei keineswegs um ein Thema der Vergangenheit handelte, wurde schnell deutlich. Noch heute sind Akten gesperrt, die den Schutz belegen, den bundesdeutsche Behörden und Geheimdienste NS-Verbrechern wie Klaus Barbie, Adolf Eichmann oder Walter Rauff gewährten. Auch die Vita von Carl-Theodor Schütz wurde wegen der Geheimhaltung erst Ende Oktober durch einen Bericht der Süddeutschen Zeitung bekannt. Jan Korte, Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, wies auf die Nachkriegskarriere von Schütz in der Debatte ebenso hin wie Wolfgang Thierse (SPD) und die Parteivorsitzende der Grünen, Claudia Roth. Mit dem pflichtschuldigen Entsetzen über den Fall Schütz waren aber die Gemeinsamkeiten schon beendet.

Die Linkspartei möchte in die Erforschung der NS-Verstrickung deutscher Behörden auch die sechziger und siebziger Jahre einbeziehen und fordert die Öffnung sämtlicher Akten. Es dürfe keine Handhabe mehr geben, um Akten über die braunen Kontinuitäten in der Bundesrepublik mit dem Verweis auf das Staatsinteresse zurückzuhalten, betonte Korte. Die SPD hingegen hat sich mit FDP und Union auf einen gemeinsamen Antrag geeinigt, der sich auf die Erforschung der frühen Jahre der Bundesrepublik beschränkt. Vor allem anhand des jeweiligen Forschungsinteresses zeigte sich die völlig unterschiedliche Stoßrichtung der Anträge, über die am Donnerstag vergangener Woche im Bundestag debattiert wurde.

SPD, FDP und Union wollen untersuchen, wa­rum aus der Bundesrepublik trotz der Beschäftigung zahlreicher NS-Funktionäre in ihren Institutionen eine stabile Demokratie wurde. In der Bundestagsdebatte betonten besonders die Redner von Union und FDP, dass es sich nach so langer Zeit erübrige, nachzurechnen, wie viele NS-Täter in den Ministerien und Behörden beschäftigt waren. So waren bei Stefan Ruppert von der FDP zwar einige selbstkritische Töne über die Landesverbände seiner Partei zu hören, die in den fünfziger Jahren in mehreren Bundesländern zu Nachfolgeorganisationen der NSDAP geworden waren, doch kurz darauf stimmte er ein Loblied auf die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik an. Dabei führte Ruppert ausdrücklich das Verbot der KPD an. Dass dieses Verbot von einem Bundesverfassungsgericht verhängt wurde, dessen Personal im NS-Staat für die Jagd auf Kommunisten geschult worden war, war ihm keiner Erwähnung Wert.

Dagegen ging Korte auf die Konsequenzen ein, die die Präsenz der Nazis in den staatlichen Institutionen für die wenigen Antifaschisten in der Bundesrepublik hatte. Sie wurden erneut an den Rand gedrängt, bedroht und nicht selten verfolgt. In ihrem im Oktober mit dem Deutschen Buchpreis 2012 ausgezeichneten Roman »Landgericht« hat die Schriftstellerin Ursula Krechel mit dem Protagonisten Richard Kornitzer, einem aus der Emigration zurückgekehrten Richter, exemplarisch eine solche Biographie bekannt gemacht.

»Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse, betrete ich Feindesland«, sagte der antifaschistische Staatsanwalt Fritz Bauer, der wesentlich dazu beitrug, dass die Frankfurter Auschwitz-Prozesse zustande kamen. Informationen über den Aufenthaltsort von Adolf Eichmann, die er von einem in Argentinien lebenden ehemaligen KZ-Häftling erhalten hatte, leitete er 1960 an die israelischen Behörden weiter, weil er den deutschen Ämtern misstraute.

Korte ging in seiner Rede auch auf Tausende unbekannte Menschen ein, die in den fünfziger Jahren als tatsächliche oder vermeintliche Kommunisten wieder verfolgt und inhaftiert wurden. In dem kürzlich fertiggestellten Film »Verboten – verfolgt – vergessen. Die Verfolgung Andersdenkender in der Adenauerzeit« gibt der Regisseur Daniel Burgholz einen Einblick in das Ausmaß und die Folgen dieser deutschen Verfolgung von Linken. Im Zentrum steht das Ehepaar Ingrid und Herbert Wils aus dem Ruhrgebiet. Als Mitglieder der in Westdeutschland 1951 verbotenen Freien Deutschen Jugend waren beide wegen der Herstellung einer Betriebszeitung und des Singens von als staatsfeindlich eingeschätzten Liedern jahrelang inhaftiert. Der Film verzichtet auf Heroisierung, seine Stärke liegt darin, dass er auch zeigt, wie sich die Verfolgung auf das Umfeld der Betroffenen auswirkte. Manche haben die zweite Verfolgung nicht überlebt.

Herbert Wils berichtet im Zeitzeugengespräch, viele Genossen hätten nicht begreifen können, wieso sie nur wenige Jahre, nachdem sie die Konzentrationslager der Nazis überlebt hatten, erneut im Gefängnis saßen, und nicht nur das Gefängnispersonal, sondern auch die zuständigen Richter sich noch in Positionen befanden, die sie bereits vor 1945 innehatten.

http://jungle-world.com/artikel/2012/46/46592.html
Peter Nowak

Deadline für Indymedia-Deutschland

Die Probleme der aktivistischen Internetplattform sind auch die Krise einer Bewegung, die unter der Parole „Reclaim the Media“ angetreten war

Vor einigen Tagen wurde ein von Umweltaktivisten besetztes Waldstück im Hambacher Forst im äußersten Westen der Republik von der Polizei geräumt. Solche Ereignisse sind immer Höhepunkt des Video- und Medienaktivismus. Zahlreiche Videos über die Besetzung und die Räumung kursieren im Netz. Die Ereignisse können dort fast in Echtzeit beobachtet und mögliche Rechtsverletzungen der Polizei dokumentiert werden. Eigentlich müssten bei solchen Ereignissen die Nutzerzahlen von Indymedia Deutschland in die Höhe schnellen. Schließlich wurde die Internetplattform von globalisierungskritischen Aktivisten genau zu dem Zweck gegründet, Informationen direkt und ungefiltert im Netz zu verbreiten.

SOS-Indymedia
Doch seit einigen Wochen sendet die Indymedia-Deutschland SOS-Signale aus. Der geschrumpfte Kreis der Aktivisten, der sich für die Plattform verantwortlich erklär, hatte schon im Sommer auf einem Treffen in Hamburg beschlossen, Indymedia noch eine Frist bis zum Frühjahr 2013 zu geben. „Bis dahin sollen wieder mehr Aktive gefunden und auf ein neues Content-Management-System umgestellt werden … Werden diese beiden Ziele nicht erreicht, so wird de.indymedia.org deaktiviert und archiviert“, heißt es in einer auf Indymedia dokumentierten Erklärung.

Bisher ist noch völlig offen, ob diese Ziele erreicht werden. Gelingt es nicht, könnte es auf der Startseite von Indymedia Deutschland so aussehen, wie aktuell auf den österreichischen Zweig. „Seit Ende Juni 2012 ist at.indymedia.org abgeschaltet“, liest man dort. Damit wird auch deutlich, dass es um eine Krise geht, die nicht nur den deutschen Zweig von Indymedia, sondern das Projekt insgesamt betrifft.

Die Gründe werden in der Erklärung zum Hamburger Treffen auch von allen Seiten auch genannt. So scheint das Projekt das typische Schicksal von Medienpionieren zu ereilen, die von der technischen Entwicklung überholt werden. Als Indymedia 1999 gegründet wurde, brauchte man noch ein gewisses Insiderwissen, um Videos ins Netz zu stellen. Heute ist es fast für alle, die es wollen, möglich. Ähnlich wurde auch das Berliner Medienprojekt ak-kraak von der technischen Entwicklung überholt. Die Aktivisten im Umfeld der Berliner Hausbesetzerbewegung produzierten Anfang der 90er Jahre Videos von der Bewegung für die Bewegung. Damals musste sich jeder rechtfertigen, der bei solchen Aktionen mit einer Kamera hantierte. Heute gibt es auf Demonstrationen oft mehr Kameraleute als Aktivisten und oft ist auch nicht ganz klar, wo die Grenze verläuft.

Doch die Frage der technischen Entwicklung ist nur die eine Seite des Problems, mit dem Projekte wie Indymedia zu kämpfen haben. Auch politische Aktivisten sehen in Indymedia weniger einen eigenen Raum, den sie mit eigenen Inhalten füllen können, sondern eine Dienstleistung oder ein Zweitverwertungsmedium. „Häufig werden Presseerklärungen über Aktionen bis ins kleinste Detail für die Mainstream-Median entworfen, damit sich niemand auf den Schlips getreten fühlt. Für Indymedia, für das eigentlich frei von der Leber formuliert werden könnte, bleibt dann nur noch eine Kopie der Presseerklärung. Viele Initiativen verwechseln Indymedia immer noch mit einem Flugblattständer“, heißt es in der Erklärung der Indymedia-Aktivisten. Zudem gibt es böse Kommentare, wenn ein Text nicht schnell genug auf der Startseite erscheint, oder wenn zu einem Thema gar kein Text auf der Seite zu finden ist .Hier wird die Dienstleistungsfunktion besonders deutlich. Als wäre Indymedia ein Zeitungsprojekt, wird gefragt, wann endlich etwas zu diesem oder jenen Thema kommt. Dabei könnten die Kritiker einfach selber einen Text, einen Mitschnitt oder ein Bild dazu online stellen. Ähnliche Probleme hatten die österreichischen Aktivisten in ihrem Abschiedsstatement benannt:

„Die fehlenden Ressourcen führen uns zum Problem der Betreuung: wir können nicht mehr. Es existiert ein grundsätzliches Problem mit Infrastrukturarbeit, das wir auch in anderen Zusammenhängen beobachten konnten: sobald Infrastruktur existiert, wird diese genutzt, damit aber auch abgenutzt. Was an reproduktiver Arbeit dahintersteckt, wie viel Arbeit es bedeutet, Räume offline sowie online zu betreuen, wird selten gesehen, angesprochen oder sichtbar gemacht. Auch die Arbeitsverteilung selbst wird nicht diskutiert oder hinterfragt, obwohl allzu oft gerade damit strukturelle Diskriminierung manifestiert wird. Das Bestehen von selbstverwalteten und offenen Räumen scheint wie eine Selbstverständlichkeit wahrgenommen zu werden. Dahinter steht aber viel zu oft die Selbstausbeutung von Aktivist_innen, die zum Beispiel einer Lohnarbeit nachgehen um das Einkommen in die Instandhaltung der Räume zu buttern und dann fünf Tage die Woche damit beschäftigt sind Plena und Treffen zu besuchen oder Veranstaltungen vorzubereiten. Doch nicht selten reichen zeitliche und personelle Ressourcen in diesen Räumen für nicht mehr als die Aufrechterhaltung eines Minimalbetriebes.“

Reclaim the Media oder Krise der Selbstverwaltung
So zeigt sich an den Problemen, die das Projekt Indymedia zurzeit hat, auch die Krise von selbstverwalteten Medienprojekten insgesamt. Denn es geht nicht in erster Linie um staatliche Repression, wie sie noch auf dem Höhepunkt der globalisierungskritischen Bewegung durchaus eine Rolle spielte und dem Projekt viel Solidarität eintrug. Heute hat das Projekt mit einem Dienstleistungsdenken vieler Aktivisten zu kämpfen, die eben die vielbeschworenen eigenen Räume gar nicht nutzen wollen.

In den Anfangsjahren von Indymedia war häufig die Parole Reclaim the Media zu hören. Mittlerweile haben finanzkräftige Anbieter wie Twitter und Facebook diesen Spruch gekapert. Ihre Seiten funktionieren natürlich störungsfreier und erreichen viel mehr Menschen als Indymedia. Allerdings akzeptieren die Nutzer dann deren Bedingungen und verzichten auf eine Internetplattform ohne Chefs und Kommerz. So steckt hinter der Frage, ob Indymedia Deutschland noch eine Zukunft hat, mehr als das An- und Abschalten einer Plattform. Hat der Medienaktivismus der späten 90er Jahre nur Twitter und Co. den Weg bereitet oder gibt es noch ein Milieu, das die Ansprüche einer selbstorganisierten Plattform ernst nimmt?
http://www.heise.de/tp/blogs/6/153205

Peter Nowak

Zu viele Zufälle im Berliner Verfassungsschutz

Die Leiterin der Berliner Verfassungsschutzbehörde musste wegen Aktenvernichtungen zurückgetreten – nur ein Bauernopfer?

Die Aktenvernichtung im Berliner Verfassungsschutz hat personelle Konsequenzen. Die Leiterin der Berliner Behörde Claudia Schmid hat ihren Rücktritt erklärt. Damit übernimmt sie die Verantwortung für die immer wieder bekannt gewordenen Aktenvernichtungen des Berliner VS im Zusammenhang mit der rechten Szene, die wachsende Kritik ausgelöst hat. Erst kürzlich war bekannt geworden, dass zwei Mitarbeiterinnen im Juli 2010 Akten zum Komplex des mittlerweile verbotenen neonazistischen Netzwerkes Blood & Honour vernichtet hatten, die eigentlich zur Aufbewahrung im Landesarchiv bestimmt waren. Schon vorher hatte für Schlagzeilen gesorgt, dass im Sommer dieses Jahres Akten vernichtet wurden, die nach Aussage von Henkel einen Bezug zur rechten Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) gehabt haben könnten.

Dabei war in den letzten Tagen immer mehr der Innensenator Franz Henkel selber in die Kritik geraten. Nachdem der Christdemokrat in Umfragen zwischenzeitlich den wegen der Verzögerungen beim Berliner Flughafen angeschlagenen Regierenden Bürgermeister Wowerei in der Beliebtheitsskala überrundet hatte, überwiegt nun in der Öffentlichkeit der Eindruck, dass der Politiker sein Amt nicht im Griff hat. Um diesen Eindruck zu widerlegen, hat Henkel schon gestern Konsequenzen angekündigt. Der Rücktritt von Schmid dürfte dazu gehören. Henkel konnte darauf verweisen, dass zumindest die zuletzt bekannt gewordene Aktenvernichtung nicht in seiner Amtszeit erfolgte. 2010 war der Sozialdemokrat Ehrhart Körting Innensenator.

„Unsägliche Salamitaktik des Innensenats“

Doch auch mit Schmids Rücktritt dürften weder Henkel noch der Verfassungsschutz aus der Kritik sein. Es wird vor allem darauf ankommen, ob noch mehr Aktenvernichtungsaktionen bekannt werden. Schon vor einigen Tagen zog der innenpolitischer Sprecher und Vorsitzender der Berliner Piratenfraktion Christoph Lauer eine vernichtende Kritik an Henkel und der Behörde. Er monierte die „unsägliche Salamitaktik des Innensenats“. Doch er stellt auch eine Frage, die sich in den letzten Wochen im Zusammenhang mit der NSU viele Menschen ebenfalls gestellt haben: „Es ist kaum mehr möglich, bei den haarsträubenden Vorgängen im Berliner Verfassungsschutz noch an Zufälle zu glauben“, betont Lauer.

Tatsächlich ist es bemerkenswert, dass Mitarbeiter von Verfassungsschutzämtern, die gemeinhin im Fall von Linken durch Klagen dazu gezwungen werden müssen, gesammelte Daten zu vernichten, hier scheinbar sehr daran interessiert waren, Akten loszuwerden. Pikant ist auch, dass zumindest die Aktenvernichtung im Sommer dieses Jahres zu einem Zeitpunkt erfolge, als die Verfassungsschutzämter verschiedener Länder bereits stark in der Kritik standen, weil Aktenvernichtungen bekannt geworden waren. Wollte da jemand schnell noch Spuren beseitigen? Diese Frage wird sich zumindest so lange stellen, wie die Behörden mauern und nur die Informationen zugeben, die sie nicht mehr verschweigen können.

Am Ende eine Stärkung der Behörde?

Dass es in den Behörden ein Leck gibt zeigt sich nun daran, dass bestimmte Medien immer wieder mit Berichten über Aktenvernichtungsaktionen gefüttert werden. Über die Aktenzerstörung im Sommer 2010 hatte die Bildzeitung exklusiv berichtet. Solche Veröffentlichungen könnten am Ende auch die Sicherheitsbehörden stärken.

Schon wird von offizieller Seite als Konsequenz der ständigen „Pannen“ eine effektivere und zentralistisch gelenkte Behörde gefordert. Zivilgesellschaftliche und linke Kritiker warnen denn auch, in das Lamento über die Pannen einzustimmen. Am 4. November demonstrierten in vielen Städten Deutschlands anlässlich des Jahrestages der Selbstenttarnung der NSU Tausende für die Auflösung der Verfassungsschutzämter. Diese Forderung wird zurzeit selbst von FDP-Politikern unterstützt. Daher könnte Schmids Rücktritt auch ein Bauernopfer für die Behörden sein.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153193
Peter Nowak

Verfolgt unter Hitler und Adenauer

Linkenverfolgung Verboten – verfolgt – vergessen – ein Film von Daniel Burgholz gibt Opfern der westdeutschen Kommunistenverfolgung Raum und Stimme
Letzte Woche debattierte der deutsche Bundestag über die NS-Verstrickung westdeutscher Behörden und Institutionen. Nachdem die meisten Betroffenen nicht mehr leben, leugnet auch der rechteteste Flügel der Union nicht mehr, dass bis in die 60er Jahre die meisten dieser Institutionen glatt als NSDAP-Nachfolgeorganisationen hätten verboten werden müssen. Nur bei einigen Landesverbänden der FDP stritten die Alliierten tatsächlich ein und verboten sie.

Doch die bürgerlichen Parteien haben sich auf eine neue Argumentationslinie verlegt. Nach so langer Zeit sollte man nicht mehr aufzählen, wo welche Nazis weiter gearbeitet haben. Vielmehr müsse die Frage lauten, warum die bundesdeutsche Demokratie trotzdem ein solcher Erfolg wurde. Der Sprecher der FDP in der Debatte zählte zu diesen Erfolg ausdrücklich auch das KPD-Verbot. Da kommt ein Film gerade recht, der das Ausmaß der bundesdeutschen Linkenverfolgung an einigen Biographien exemplarisch und eindringend deutlich machte. „Verboten – verfolgt – vergessen“ heißt der Film des Regisseurs Daniel Burgholz. Im Mittelpunkt steht das Ehepaar Ingrid und Herbert Wils aus dem Ruhrgebiet. Beide waren als Mitglieder der in Westdeutschland 1951 verbotenen Freien Deutschen Jugend (fdj) jahrelang wegen der Herstellung einer Betriebszeitung und dem Singen von als staatsfeindlich eingeschätzten Liedern inhaftiert waren. Wie heute noch bei den Paraphen 129 a und b, wo eigentlich legale Aktionen plötzlich strafrelevant sein können, weil sie angeblich im Kontext einer „terroristischen Organisation“ stehen, war damals für fdj-Mitglieder fast jede politische Betätigung strafrelevant und ins Gefängnis kamen Kommunisten und solche, die dafür gehalten werden, wie Burgholz zeigte.

Manche überlebten die zweite Verfolgung nicht

Ingrid Wils beschreibt, dass die beiden minderjährigen Kinder nach ihrer plötzlichen Inhaftierung mehrere Tage allein in der Wohnung bleiben mussten, bis sie zu Verwandten und später in ein Heim gekommen sind. Die Stärke des Films liegt darin, dass er auf jede Heroisierung verzichtet und aufzeigt, wie sich die Verfolgung auch auf das Umfeld der Betroffenen auswirkte. Vor allem im Gespräch nach der Berliner Filmpremiere ging Ingrid Wils auf die lebenslangen Folgen der Verfolg ein. Der jüngere Sohn habe sich davon wohl nie erholt, sagte sie und ging nicht näher auf sein Schicksal ein. Der ältere Sohn wurde auch Kommunist, was nicht heißt, dass die Erfahrungen der Repression im Kindesalter spurlos an ihn vorbeigegangen sind. Man wünscht sich mehr solcher Filme, die konkret aufzeigen, was die Linkenverfolgung der 50er Jahre mit den Menschen gemacht hat. Viele der Betroffenen saßen schon während der NS-Zeit hinter Gittern. So waren nur wenige Jahre nach ihrer Befreiung durch die Alliierten in der gleichen Position wie im NS und viele ihrer Wärter, ihrer Richter und Staatsanwälte saßen ebenfalls noch auf den Posten wie vor dem Ende des NS. Nicht alle der Verfolgten haben diese Erfahrungen überlegt. Es sind Leute verrückt geworden, als sie nur wenige Jahre nach der von den Antifaschisten mit so großen Hoffnungen verbundenen Befreiung wieder Gefangene waren. Es gab in den 50er Jahre sogar Urteile, in denen die KZ-Haft als strafverschärfend gewertet wurden, denn trotzdem habe der Verurteilte nicht von seinen staatsfeindlichen Gesinnung gelassen. Kein Wunder, wenn das alte Personal auch für die Urteile verantwortlich war.

Rehabilitierung von diesem Staat?

Der Film soll auch die Forderung nach Rehabilitierung bekräftigen, die die Opfer der bundesdeutschen Linkenverfolgung erheben. Sie haben nie eine Entschuldigung gehört, nie auch nur einen Cent Wiedergutmachung erhalten. Anders als übrigens NS-Verbrecher Carl Theodor Schütz, der seit seiner Jugend erst im Freikorps, dann ab 1931 in der SS sein Mordhandwerk ausübte. Bis zur Niederlage des NS zog Schütz seine Blutspur durch Europa. 1933 überfiel er mit seiner SS-Gang Wohnungen und mißhandelte wehrlose Frauen und Männer. Dafür wurde er sogar noch 1933 von einer noch nicht komplett gleichgeschalteten Justiz zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, bald aber begnadigt. Noch kurz vor dem Ende des Tausendjährigen Reiches legte Schütz selber mit Hand an bei der Erschießung von Geiseln in den Ardeatinischen Höhlen von Italien. Doch auf einen so erfahrenen Linkenjäger wollte die junge BRD nicht verzichten. Schütz kam beim BND unter und als seine Mordvergangenheit bekannt wurde und er entlassen wurde, klagte er mit Hilfe deutscher Gerichte 70.000 DM Entschädigung ein. Denn ein NS-Kamerad lässt den anderen eben nicht im Regen stehen. Wenn man über solche und ähnliche deutsche Karrieren erfährt, ist es gut, einen Film zu sehen, der den Menschen Raum gibt, die die Opfer dieser Verfolgung waren. Ihre Forderung nach Rehabilitierung ist sicher verständlich. Doch es ist die Frage erlaubt, brauchen sie die denn von einem Staat, in dessen Parlament Abgeordnete der Regierungskoalition noch heute dummdreist davon schwätzen, dass die bundesdeutsche Demokratie ein Erfolg wurde, trotz Nazis in allen Institutionen. Im Film kommen auch Menschenrechtler wie Rolf Gössner zu Wort, die in nüchternen Zahlen die Dimension der bundesdeutschen Verfolgungen skizziert. Solche Verfolgungen gehören eben dazu, wenn deutsche Politiker über den Erfolg der Demokratie reden. Wer den Film sieht, wird schnell merken, diese Menschen brauchen eigentlich keine staatliche Rehabilitierung. In sozialen Organisationen, teilweise auch in Gewerkschaften sind sie als Aktivisten anerkannt. Einer der Protagonisten des Films war lange Zeit Betriebsrat eines Großbetriebs. Es ist zu hoffen, dass der Film nicht nur in vielen Kinos sondern auch im Fernsehen zu sehen ist. Aber ob das unsere Demokratie erlaubt?
http://www.freitag.de/autoren/peter-nowak/verfolgt-unter-hltler-und-adenauer
Peter Nowak

„Berlin spürt die Folgen der Krise“

Doro Zinke ist Vorsitzende des DGB, Bezirk Berlin-Brandenburg. Der Gewerktschaftsbund ruft am 14. November um 14 Uhr auf dem Pariser Platz unter dem Motto „Nein zur sozialen Spaltung Europas“ zu einer Solidaritätskundgebung mit den Generalstreik auf, zu dem an diesen Tag Gewerkschaften in Italien, Spanien, Portugal, Malta, Zypern und Griechenland gegen die europäische Krisenpolitik aufrufen. Auf dieser Kundgebung spricht auch eine Vertreterin des Griechenlandsolidaritätskomitees, in dem zahlreiche linke Gruppen vertreten sind. Das Bündnis organisiert eine Demonstration, die im Anschluss an die DGB-Kundgebung um 16:30 auf dem Pariser Platz unter dem Motto „Gemeinsam gegen die Krise kämpfen“ beginnt.

Der DGB ruft am heutige Mittwoch zu einer Solidaritätskundgebung für die von der Eurokrise gebeutelten EU-Länder auf. Warum?

taz: Frau Zinke, was sind die konkreten Forderungen des DGB-Berlin-Brandenburg?
Doro Zinke: Die EU konzentriert sich einseitig auf die Ökonomie, die Europäische Union braucht aber auch ein soziales Gesicht: dazu gehören Beschäftigungsprogramme für Jugendliche genauso wie eine intensive Bekämpfung des Lohndumping europaweit und die Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Damit können auch öffentliche Dienstleistungen bezahlt werden, die ein Stück Lebensqualität sichern helfen.

In dem Aufruf wird auch vor der Einschränkung von Gewerkschaftsrechten gewarnt. Gibt es dafür Beispiele und gibt es die auch in Deutschland?
In Spanien und Griechenland werden die Gewerkschaftsrechte eingeschränkt und in Großbritannien der Gang zum Arbeitsgericht für Beschäftigte erschwert. Die Einführung des Niedriglohnsektors in Deutschland drückt auf die Löhne und damit auf die Tarifpolitik der Gewerkschaften. Das ist eine subtile Form von Einschränkung, die sich natürlich auch in Berlin auswirkt.

Hat der sich in den letzten Jahren in Deutschland massiv entwickelnde Niedriglohnsektor nicht mit zur Krise in Europa beigetragen?
Der Niedriglohnsektor führt zur Lohndrückerei. Wer jahrzehntelang für wenig Geld schuften musste, kann kaum etwas zusätzlich für die Rente ansparen. So wird Altersarmut programmiert. Leben am Rande des Existenzminimums verletzt die Menschenwürde! Wenn ich die Aufstockung meines Lohnes durch Steuergeld benötige, zeigt das das Dilemma auf: wir Steuerzahler subventionieren Jobs und Geringverdienern wird das Gefühl vermittelt, ihre Arbeitskraft sei nichts oder nur wenig wert.


Wie stark ist bei den DGB-Mitgliedern das Bewusstsein einer Notwendigkeit der Solidarität mit Streiks in anderen EU-Ländern?

Der DGB hat acht Mitglieder: die Einzelgewerkschaften. Deren Mitglieder haben in vielen Fragen fast genau so unterschiedliche Bewusstseinslagen wie der Rest der Bevölkerung. Die meisten Menschen in Deutschland können sich gar nicht vorstellen, was die Politik der Troika in Griechenland bedeutet: dass Tarifverträge außer Kraft gesetzt werden, der Arbeitgeber einseitig Lohnkürzungen vornehmen darf, kein Geld mehr da ist für Milch für die Kinder, Renten halbiert wurden. Und dass alle diese Schweinereien an der Verschuldung des Landes nichts ändern, sondern das Land immer stärker an den Rand des Abgrunds treibt.

Im Anschluss an die DGB-Kundgebung plant ein linkes Bündnis eine Solidaritätsdemonstration. Gibt es Kontakte zu beiden Aktionen?
Ein Vertreter des Griechenland-Solidaritäts-Komitees wird auf der DGB-Kundgebung sprechen und eine Gewerkschaftskollegin auf der Abschlusskundgebung der Solidaritäts-Demonstration.

Soll die Kundgebung der Beginn weiterer Solidaritätsaktionen mit den KollegInnen in anderen europäischen Ländern sein?
Das können wir jetzt noch nicht sagen. Es hängt davon ab, was unsere internationalen Organisationen von uns erwarten und die deutschen Gewerkschaften für realistisch halten.
Interview: Peter Nowak

Vaterlandslose Gesellen

Peter Nowak über Repressionsmaßnahmen in der Krise

„Linke Chef marschiert mit Anti-Merkel-Mob“, titelte eine Berliner Boulevardzeitung unter einem Foto, dass Bernd Riexinger während des Merkelbesuchs auf einer Kundgebung in Athen zeigt. Damit machte es deutlich, was es von denen hält, die es wagen, im deutschen Hinterhof gegen den von Merkel und Co. diktierten Verarmungskurs auf die Straße zu gehen. Die alte Bezeichnung für deren deutschen Kollaborateure holt der Chef vom Dienst bei der Stuttgarter Zeitung mit dem Namen Joachim Volk aus der deutschnationalen Mottenkiste. „Mit dem links-linkischen Riexinger tritt erstmals der Chef einer deutschen Oppositionspartei als vaterlandsloser Geselle im Ausland auf.“ Dabei hatte der nicht einmal Gelegenheit, seinen Landesverrat zu vollenden und mittels einer Ansprache „Vorurteile und Ressentiments gegen die deutschen Sparforderungen zu schüren“.
Da bis auf die Kundgebung sämtliche Demonstrationen während des Merkel-Besuchs in der Athener Innenstadt verboten waren und 6000 schwerbewaffneten Polizisten zur Durchsetzung bereit standen, mussten alle eingeplanten Redebeiträge ausfallen. Viele Teilnehmer konnten sich an den letzten Herbst erinnern, als der Massenprotest der Bewegung der Empörten in Griechenland enorm angewachsen war. „Als diese Bewegung dann durch die Unterdrückung des Staates zerschlagen wurde, herrschte fast schon Krieg. Es kamen viele Tonnen Chemikalien zum Einsatz“, erinnert sich der griechische Linkspolitiker Alexis Tsipras. Damit liegt Griechenland voll im europäischen Trend. Die politische Repression gehört in allen europäischen Ländern zu den Begleiterscheinungen politischer Bewegungen. Aktuell sind vor allem die unterschiedlichen Krisenproteste davon betroffen.
In Spanien nehmen Polizei und Justiz Gewerkschaften und Oppositionsbewegungen seit Monaten in den Zangengriff. So wurden Demonstranten, die sich am 25. September an den Krisenprotesten in Madrid beteiligen wollten, bei der Anreise im Bahnhof Atocha von Polizisten schwerverletzt. Bereits nach dem landesweiten Generalstreik am 29. März wurden in ganz Spanien gewerkschaftliche Aktivisten unter dem Vorwurf festgenommen, sich an Akten des „öffentlichen Vandalismus“ beteiligt zu haben. Unter diesen Gummibegriff fällt die Teilnahme an einer Demonstration ebenso wie die aktive Durchsetzung eines Streiks.
Passiert so etwas in Moskau, gilt es hiesigen Medien und Politikern als Beweis, dass die europäischen Werte unter Putin nicht gedeihen können. In Frankfurt, Madrid und Athen werden die Maßnahmen realitätsgerechter von der Justiz und vielen Medien als notwendig für das reibungslose Funktionieren von EZB und Geschäftswelt verteidigt. Nur der Anti-Merkel Mob und einige vaterlandslose Gesellen erheben dagegen Einspruch.
http://www.konkret-magazin.de/hefte/aktuelles-heft/articles/das-neue-heft-946.html

aus Konkret, 11/2012
Peter Nowak

Moscheen gehören zu Hamburg

Hamburg unterzeichnete ersten Staatsvertrag mit Vertretern von Moslems und Aleviten

„Wir nehmen darin die Anwesenheit des Islam und des Alevitentums als in unserer Gesellschaft gelebte Religionen bewusst wahr. Wir bestätigen die Rechte, die den muslimischen und alevitischen Bürgerinnen und Bürgern zustehen, wozu die Unterhaltung von Kultureinrichtungen der Bau von Moscheen, die Anstaltsseelsorge und auch Bestattungen nach islamischem bzw. alevitischem Ritus gehören“, erklärte der Regierende Bürgermeister von Hamburg Olaf Scholz heute im Rathaus der Hansestadt.

Gerade hatte er einen Vertrag mit islamischen und alevitischen Religionsgemeinschaften unterzeichnet und damit bundesdeutsche Geschichte geschrieben. Hamburg ist das erste Bundesland, das eine solche Vereinbarung unterzeichnet hat. Neben der alevitischen Gemeinde gehört die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion, der Schura Hamburg und der Verband der Islamischen Kulturzentren zu den Vertragspartnern.

Den Verträgen zufolge sollen die islamischen Feiertage den christlichen gleichgestellt werden. Lohnabhängige dürfen sich an diesen Tagen freinehmen, müssen die Zeit allerdings nacharbeiten. Muslimische Schüler brauchen an ihren Feiertagen nicht in die Schule zu kommen. Auch der Religionsunterricht an staatlichen Schulen wird durch den Vertrag geregelt. Die evangelische Kirche soll sich die Verantwortung für diese Stunden künftig gleichberechtigt mit den muslimischen Gemeinden teilen. Auch Muslime dürfen das Fach dann unterrichten, wenn sie das zweite Staatsexamen besitzen. Die Verbände bekennen sich zur Achtung und Toleranz gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen.

Niederlage für die säkulare Gesellschaft?

An großen Worten fehlte es während der Vertragsunterzeichnung nicht. Scholz würdigte die Unterzeichnung als „Meilenstein“ und als Zeichen des Respekts gegenüber den Muslimen. Der Hamburger DITIB-Vorstandchef Zekeriya Altug sprach von „einem historischen Tag für Hamburg, aber auch für Deutschland“ und drückte die Hoffnung aus, dass auch andere Bundesländer solche Verträge abschließen.

Angesichts der Anschläge gegen Moscheen auch in Hamburg kann man das Pathos verstehen. Allerdings stellt sich auch die Frage, warum wegen dieser Angriffe nicht etwa die Individualrechte, sondern die Religionsgemeinschaften gestärkt werden müssen. Kritik an dem Vertrag kommt denn auch von der Hamburger FDP-Fraktion. Nach Ansicht der Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Anna von Treuenfels handelt es sich um einem „unnötigen und unpräzisen Staatsvertrag, inakzeptabel an der Bürgerschaft vorbei ausgehandelt“.

Die Vereinbarungen seien „vielfach so unpräzise, dass sie zu unterschiedlicher Auslegung oder zu juristischen Auseinandersetzungen geradezu einladen“, monierte die liberale Politikerin gegenüber dem Hamburger Abendblatt. Als Ausweis eines Bekenntnisses zu einer säkularen Gesellschaft kann eine solche Kritik allerdings nur dann gelten, wenn sie auch gegen die bestehenden Privilegien der christlichen Mehrheitsreligionen vorgebracht wird, wie es beispielsweise die strikt einer säkularen Gesellschaft verpflichtete Aktion 3.Welt Saar praktiziert.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153182
Peter Nowak
Peter Nowak

Rot(h)grün abgewählt

Mit dem neuen grünen Spitzenduo beginnen sofort wieder schwarz-grüne Koalitionsfantasien, die Wiedervereinigung der bürgerlichen Familie könnte beginnen

„Damit ist Rot-Grün der Ablösung von Schwarz-Gelb einen großen Schritt näher gekommen“, kommentierte der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion Oppermann das Ergebnis der Urabstimmung für die Spitzenkandidatur der Grünen. Dabei ist es keineswegs ein Wunschergebnis der SPD.

Denn Claudia Roth, die vom Habitus und ihrer politischen Geschichte am vehementesten für die rotgrüne Option eingetreten ist, landete mit knapp 26 % nur auf dem dritten Platz. Selbst Renate Künast, die lange Zeit ebenfalls eher dieser Option zuneigte, bei ihrem vergeblichen Versuch, in Berlin Regierende Bürgermeisterin zu werden, aber eine Öffnung zur CDU propagierte und nach Protesten der Basis wieder zurückruderte, konnte mehr Stimmen auf sich vereinigen.

Die Gewinnerin ist aber Kathrin Göring-Eckardt, die seit Jahren bürgerliche Bündnisse propagiert. Dabei versteht sie darunter zunächst eine Kooperation mit den konservativen Teilen der Gesellschaft, die unter Umweltschutz Erhaltung der Schöpfung und nicht ein ökosozialen Umbau verstehen.

„Wenn sie eine bessere Integration fordert, muss niemand Angst haben, dass sie damit das christliche Abendland verraten will. Wenn sie mehr Klimaschutz verlangt, ist sie ganz nah an der Bewahrung der Schöpfung und damit anschlussfähig an ein konservatives Milieu“, kommentierte die grünennahe Taz Göring-Eckhardts Wahl. Die wird dort auch schon gleich mit Gauck und Merkel verglichen, was auch in der Taz durchaus positiv gemeint ist. Dass die neue Spitzenfrau eine Vergangenheit in der evangelischen Kirche hatte, stellt für die Grünen keine Zäsur da. Mit der heute nicht grundlos weitgehend vergessenen Antje Vollmar spielte eine Protestantin mehr als ein Jahrzehnt lang eine Protestantin eine wichtige Rolle bei den Grünen.

Weniger bekannt war Christa Nickels, die ebenfalls ihr politisches Agieren religiös begründete. In dieser Hinsicht stellt Göring-Eckardts Wahl eher eine grüne Normalität her. Interessanter ist, dass sie mehr als die anderen auch mit der politischen Formation gut kann, die zumindest im Namen noch das christliche Kürzel trägt.

Bei den Grünen gibt es keinen relevanten linken Flügel mehr

Daher wurde auch prompt nach ihrer Wahl das Pro und Contra eines schwarz-grünen Bündnisses in der grünennahen Taz diskutiert. Dabei wird vor den Wahlen offiziell natürlich nicht daran gerüttelt, dass Schwarz-Gelb abgelöst werden muss. Dafür steht vor allem der männliche Spitzenkandidat Jürgen Trittin, der in der grüneninternen Terminologie als Vertreter des linken Flügels gilt, was mit seiner politischen Vergangenheit zu tun hat, denn die K-Gruppe, die ihn politisch geprägt hatte, war nicht die Kirche, sondern der Kommunistische Bund, den zahlreiche Politiker durchlaufen haben, die bei Grünen und Linken Karriere machten.

Heute nimmt Trittin die Position des klassischen Realos ein, gegen den Parteilinke immer agiert hatten. Trittin, der sich inhaltlich kaum vom Joseph Fischer der frühen 1990er Jahre unterscheidet, kann heute nur als Parteilinker durchgehen, weil es bei den Grünen keinen relevanten linken Flügel mehr gibt. Die meisten Linken sind seit Ende der 1990er Jahre ausgetreten und die Realos haben deren Platz eingenommen, während die Wertkonservativen jetzt den Realopart spielen.

Diese Entwicklung bildet sich jetzt auch im Spitzenduo für den Wahlkampf ab. Insofern kann die Wahl von Göring-Eckardt nur für die eine Überraschung sein, die noch immer die Links-Rechts-Schablonen der 1990er Jahre auf die Grünen anlegen. Trotzdem wird sich auch die neue Spitzenfrau hüten, in der nächsten Zeit offen für ein Bündnis mit der Union einzutreten. Das könnte neuen Streit in der Partei auslösen und manche überzeugte Anhänger von rotgrün zur SPD treiben.

„Bis zum Wahltag werden auch alle Grünen verbissen jeden Gedanken an eine Koalition mit Merkel ausschließen. Schließlich inszeniert man ja einen Lagerwahlkampf Rot-Grün gegen Schwarz-Gelb. Nach der Wahl müsste die grüne Parteiführung dann für eine schwarz-grüne Koalition in einem Reißschwenk das vorher Undenkbare zum Normalen erklären“, beschreibt Taz-Kommentator Stefan Reinecke ein realistisches Szenario. Für eine solche Aufgabe ist Göring Eckhardt gut geeignet.

Modell Baden-Württemberg?

Die Debatte um ein schwarz-grünes Bündnis ist alt, nur haben deren Befürworter mit der Wahl von Kretschmann als erstem grünen Ministerpräsidenten und zuletzt mit Fritz Kuhn zum Stuttgarter Oberbürgermeister Oberwasser bekommen. Sie sind vor der Wahl alle so aufgetreten, dass sie auch hätten für die CDU kandieren können und genau deswegen wurden sie gewählt.

Schon warnten einige Kommentatoren, dass die Grünen einem Trugschluss erliegen, wenn sie das Erfolgsmodell aus dem Südwesten der Republik auf ganz Deutschland übertragen wollen. Deswegen war den führenden Grünen aller Flügel auch sehr daran gelegen, dass Claudia Roth wieder als Parteivorsitzende antritt. Nach einigen Tagen Bedenkzeit verkündete sie am Montagmorgen ihre Bereitschaft. Dabei vergaß sie auch nicht, die Floskel zu strapazieren, dass sie zu der Erkenntnis gelangt sei, es gehe nicht um ihre Person, sondern um die Partei.

Dass ihr allerdings am Wochenende von der Parteibasis signalisiert wurde, sie solle wieder antreten, darf man ihr glauben. Eine neue Personaldebatte vor den Wahlen kann die Partei nicht gebrauchen. Zudem ist es auch nicht so einfach, eine Frau zu finden, die der Öffentlichkeit suggerieren kann, sie stehe für den linken Flügel, den es gar nicht mehr gibt.

Roth wird wohl mit einen guten Ergebnis beim Parteitag dafür belohnt, dass sie sich trotz ihrer Niederlage bei der Abstimmung noch mal zur Verfügung stellt. Doch schon in den 1980er Jahren, als es im Parteiapparat tatsächlich noch eine linke Mehrheit gab, zeigte sich, dass die Politik woanders gemacht wird. Während Jutta Ditfurth sich gegen die Realos durchsetzen konnte, lag das Machtzentrum der Partei schon längst bei Fischer und seinen Freunden.

Politische Wiedervereinigung der bürgerlichen Familie?

Jetzt könnte mit Kretschmann, Kuhn, Göring-Eckardt und Co. ein neues Machtzentrum entstehen, das endlich umsetzen will, wovon viele Grüne schon länger träumen. Die Wiedervereinigung des bürgerlichen Lagers, die im Privaten schon längst völlig unspektakulär vollzogen wurde. Die Bürgerkinder, die die Grünen einst als Akt der Rebellion auch gegen die Vorgängergeneration stark machten, haben spätestens dann den Frieden mit ihr gemacht, als sie das Erbe ihrer Eltern antraten.

Dass die politische Wiedervereinigung des bürgerlichen Lagers sich so langwierig gestaltet und wie in Hamburg, wo die schwarz-grüne Koalition schnell platzte, immer wieder Rückschläge mit sich bringt, liegt weniger an den unterschiedlichen Inhalten, sondern an Stilfragen, auf die in bürgerlichen Familien aber sehr großer Wert gelegt wird.

Und da sind noch die Bürgerkinder, die von Jugend an Streber und Klassenbeste waren und nie auf Rebellion gemacht haben. Sie haben sich in der FDP organisiert, mussten sich dafür zeitweise an den Unis von ihren rebellischen Brüdern und Schwestern verspotten lassen und sind bis heute nicht bereit, mit ihnen nun wieder friedlich am Familientisch zu sitzen. Daher ist der Zwist zwischen Grünen und FDP groß und der Graben zwischen den feindlichen Brüdern und Schwestern besonders tief.

Eine Schwächung der FDP würde schwarz-grüne Planspiele begünstigen. Wenn es auch längst nicht so weit ist, und alles vom Wahlausgang abhängt, zeigt das Ergebnis der Urabstimmung und die Abwahl von Grün-Rot(h), dass die Grünen mehrheitlich reif für die große bürgerliche Versöhnung sind.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153170
Peter Nowak

Sind Zwei Grad ade?

Einer der wenigen Punkte, über die sich die Staaten der Erde in den letzten Jahren zum Thema Klima noch einigen konnten, war das Ziel, die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen. Allerdings erheben sich zunehmend Zweifel, ob dieses Ziel überhaupt noch erreichbar ist. Die Wirtschaftsprüferfirma PricewaterhouseCoopers (PWC) hat im Vorfeld des UN-Klimagipfels von Doha Ende November eine Studie veröffentlicht, die das Zwei-Grad-Ziel für unrealistisch hält. PWC geht von einer Erderwärmung von vier bis sechs Grad aus. Auch der Umweltexperte Oliver Geden der Stiftung für Wissenschaft und Politik will das Zwei-Grad-Ziel aufgeben. Überhaupt solle man auf die Nennung einer Zahl verzichten. Es sei politisch falsch, an einem Ziel festzuhalten, das als unrealistisch erkannt wurde, begründet Geden seine Forderung. Wie eine Beruhigungspille hört es sich an, wenn er hinzufügt, es sei wissenschaftlich überhaupt nicht erwiesen, dass eine Klimaerwärmung über die Zwei-Grad-Grenze hinaus katastrophale Folgen habe. Dabei vergisst er aber zu sagen, für welchen Teil der Menschheit die Folgen einer stärkeren Erwärmung beherrschbar sein dürften.
Schließlich gehen Klimaforscher davon aus, dass Menschen vor allem im globalen Süden, die am wenigsten zu den Klimaveränderungen beigetragen haben, am meisten von den Folgen betroffen sein werden. Wer konkrete Klimaziele mit der Begründung aufgibt, es werde schon alles nicht so schlimm, kapituliert vor der Lobby jener Industriebranchen, die weiter mit klimaschädlichen Produkte ihre Profite machen wollen.
Aber vielleicht wäre die offene Aufgabe des so lange als unverzichtbar bezeichneten Zwei-Grad-Klimaziels auch ein Weckruf für eine neue Klimabewegung. Um die ist es nach einem kurzen medialen Hype anlässlich des Klimagipfels in Kopenhagen vor drei Jahren doch wieder sehr ruhig geworden. Damals wurde auch die Frage diskutiert, ob es einen ökologischen Kapitalismus geben kann. Wer diese Frage verneint hat und ökosozialistische Transformationsprozesse sucht, kann sich von der aktuellen Debatte bestätigt sehen.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/803942.sind-zwei-grad-ade.html
Peter Nowak

Erster europaweiter Generalstreik geplant

In Deutschland rufen jetzt auch DGB-Gewerkschaften zu Kundgebungen auf.

Am 14. November gibt es eine Premiere in der europäischen Protestagenda. In Italien, Spanien, Portugal, Zypern und Malta organisieren die Gewerkschaften erstmals koordiniert einen Generalstreik gegen die Krisenpolitik. Zu dem vom Europäischen Dachverband initiierten Streik rufen auch zahlreiche Basisgewerkschaften auf.

Schien sich der Ausstand zunächst auf Südeuropa zu beschränken, wollen sich nun auch belgische Gewerkschaften daran beteiligen. Dazu dürfte auch beigetragen haben, dass das Ford-Werk in Genk geschlossen werden soll. In einer Spontanaktion beteiligten sich daraufhin 200 Arbeiter am 7. November an einer Protestaktion vor den Fordwerken in Köln, was einen Großeinsatz der Polizei auslöste. Für den 14. November planen die belgischen Ford-Arbeiter erneute Streiks und Proteste.

Weckruf an die Kollegen in Deutschland

„Wir wollten unsere Kölner Kollegen warnen. Jeden Tag kann es passieren, dass die da oben weitere Stellenstreichungen und ganze Werksschließungen verabschieden“, begründete ein belgischer Arbeiter seinen Protest in Köln. Diese Worte könnten durchaus auch bei einigen Kollegen im Bochumer Opelwerk auf offene Ohren stoßen. Schließlich ist das Werk von Schließung bedroht und noch 2004 hatten die Beschäftigten einen einwöchigen wilden Streik organisiert. Doch nach der Einschätzung von Wolfgang Schaumberg, der lange Zeit in der linksgewerkschaftlichen Gruppe Gegenwehr ohne Grenzen aktiv war, ist dort aktiver Widerstand zurzeit nicht zu erwarten. „Alle rechnen sich aus, ob sie mit Abfinden aus dem Betrieb ausscheiden sollen“, beschreibt Schaumberg die aktuelle Situation.

So kommt unter den Kollegen kein Widerstandswille auf und die Unterstützer aus der näheren und weiteren Umgebung, die noch 2004 den Streik mitgetragen haben, werden nicht zu Aktionen bereit sein, wenn es keine Signale aus dem Werk gibt, so die Einschätzung. Wenn sich selbst bei Opel-Bochum trotz Schließungsdrohung und kämpferischen Traditionen wenig regt, kann man in anderen Teilen der Metallbranche auf noch weniger Bereitschaft zählen, sich am Streik zu beteiligen. Die IG-Metall hat in einem auch gewerkschaftsintern umstrittenen Aufruf mit dem Titel „Für ein krisenfestes Deutschland und ein soziales Europa“ ein Loblied auf die „Wirtschaftslokomotive Deutschland“ angestimmt, die kräftig Dampf ausstoße. Damit sie das auch in Zukunft tut, soll nach den Vorstellungen der IG-Metall der Lohn erhöht und einige Steuerreformen umgesetzt werden. Von den Streiks in vielen europäischen Ländern ist in dem Aufruf nichts zu lesen.

Diese Linie der Sozialpartnerschaft hat sich in der IG-Metall während der aktuellen Wirtschaftskrise verstärkt. Die staatliche Politik mit Kurzarbeiterregelung und Abwrackprämie wurde von der IG-Metall unterstützt. Hintergrund dieser Politik ist nach Meinung des Sozialwissenschaftlers Peter Birke, der zum aktuellen Krisenbewusstsein geforscht hat, die Fragmentierung in der Lohnarbeiterschaft in Deutschland. Ein Krisenbewusstsein sei bereits seit mehreren Jahren vorhanden, was einen Gewöhnungsprozess befördert. Zudem erschwere die Spaltung der Arbeiterschaft in Kernbelegschaften und Leiharbeiter einen gemeinsamen Widerstand. Daher wird es in Deutschland am Mittwoch wohl nicht zu Streiks, wohl aber zu Kundgebungen und Demonstrationen kommen, zu denen auch der DGB und zahlreiche linke Gruppen aufrufen.

Wie in Berlin ist auch in zahlreichen anderen Städten am kommenden Mittwoch ein gemeinsamen Vorgehen von Gewerkschaften und Solidaritätsinitiativen geplant. Letztere sehen die Teilnahme der Gewerkschaften als Erfolg und erhoffen sich eine stärkere Beteiligung an den Aktionen. Die europäische Revolution, wie sie Ex-Kanzler Helmut Schmidt kürzlich prophezeite, wird am 14. November sicher nicht auf der Tagesordnung stehen. Aber ein erfolgreicher Streik in mehreren Ländern könnte dafür sorgen, dass länderübergreifende Ausstände und andere Proteste im EU-Raum zukünftig zunehmen. Dazu wird es aber nur kommen, wenn wie Arno Klönne mit Recht anführt, die „vaterländischen Illusionen“ unter den Lohnabhängigen sich auflösen. Darüber wird bisher aber nur am linken Flügel der Bewegung diskutiert. Das Berliner M31-Bündnis, das zum europaweiten Aktionstag am 31. März mobilisierte, will mit sich in seinem Aufruf zum Aktionstag gegen jede Standortlogik aussprechen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153163
Peter Nowak

Kämpferisch für Bildung

Nicole Andersson ist Mitglied der französischen Gewerkschaft SUD-Éducation

nd: Im französischen Wahlkampf spielte Bildungspolitik eine große Rolle. Was hat sich nach dem Regierungswechsel verändert?
Es hat sich durch den Regierungswechsel nichts Wesentliches verändert, lediglich die prekären Beschäftigungsverhältnisse nehmen auch im Bildungsbereich zu. Die Sozialisten hatten im Wahlkampf versprochen, die 60000 unter Sarkozy gestrichenen Stellen im Bildungsbereich wieder zu besetzen. Doch es sind keine neuen Vollzeitkräfte geschaffen worden. Dafür nehmen die Zeitarbeitsverträge zu. Vor allem ältere Menschen aber auch schlecht ausgebildete junge Arbeitskräfte werden hier zu niedrigen Löhnen eingestellt. Dadurch wird der Lehrerberuf insgesamt entwertet.

2.) Gibt es Widerstand wegen der nicht eingehaltenen Wahlversprechen?

Nein, es ist zurzeit schwer Widerstand zu mobilisieren. Die meisten Menschen warten ab und wollen der Regierung Gelegenheit geben, ihre Politik umzusetzen. Es ist zudem generell schwerer, gegen die Politik der Sozialisten als der Konservativen Widerstand zu mobilisieren. Manche, die gegen die Politik von Sarkozy auf die Straße gegangen sind, argumentieren nun, dass die öffentlichen Kassen wohl wirklich leer sein müssen, wenn auch die Sozialisten diesen Diskurs ebenfalls übernehmen.

3.) Wie positionieren sich die Gewerkschaften zur neuen Regierung?

Die großen Gewerkschaften verhalten sich abwartend und mobilisieren ihre Basis nicht. Lediglich die Basisgewerkschaft SUD und die anarchosyndikalistischen Gewerkschaften rufen auch gegen die Politik der neuen Regierung zum Widerstand auf. Dass die Streikbereitschaft in Frankreich in der letzten Zeit nachließ, liegt auch daran, dass die Streiktage nicht bezahlt werden und daher jeder Ausstand für die Beschäftigten mit Einkommensverlusten verbunden ist. Oft haben sie die Streiktage auf ihren Urlaub anrechnen lassen.

4.) Beschäftigt sich die SUD-Education auch mit der Frage einer emanzipativen Bildung?

Das ist ein wichtiges Thema. Uns geht es auch darum, die soziale Spaltung im französischen Schulsystem zu bekämpfen. Während die Privatschulen boomen, fehlt für die Ausstattung der Schulen in Stadtteilen mit der einkommensschwachen Bevölkerung oft das Geld.

5.) Welche Widerstandsmöglichkeiten haben sie?

N.C.: Die SUD-Education hat zur Verweigerung der Dossiers aufgerufen, mit denen Schülern schon von der Grundschule an bewertet werden soll. Dort sollen auch Angaben über das Elternhaus der Schüler einfließen. Lehrer, die sich dieser Datensammlung verweigert haben, wurde der Lohn gekürzt. Die neue Regierung lehnt die Rückzahlung des einbehaltenen Betrags mit der Begründung ab, dass damit die Lehrer belohnt würden, die gegen ein Gesetz verstoßen haben. Dabei wurde es mittlerweile von der Regierung zurückgenommen.

6.) Die SUD hat auch in Deutschland viel Beachtung gefunden. Wie ist ihr aktuelle Entwicklung?

N.C.: Gegründet wurde die SUD nach den großen Streik von 1995 von Basisgewerkschaftern, die mit den großen Gewerkschaften unzufrieden waren. Lange galt sie als ultralinks. Der heutige Präsident Hollande beschimpfte die SUD noch beim großen Streik 2009 als unverantwortliche Gewerkschaft, die bekämpft werden muss. Doch heute ist der Reiz des Neuen vorbei und die SUD hat sich als kämpferische Basisgewerkschaft stabilisiert.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/803634.kaempferisch-fuer-bildung.html
Interview. Peter Nowak

Superviren und die Gefahren von Forschung im Biotechsektor

Gesellschaftliche Debatte zur Biotechnologieforschung gefordert

Am Mittwoch fand im Bundestag ein Fachgespräch zum Umgang mit sicherheitsrelevanten Forschungsergebnissen statt. Das Thema hat in der letzten Zeit im Zusammenhang mit der Forschung an Vogelgrippeviren an Relevanz gewonnen. Wissenschaftlern des niederländischen Erasmus Medical Centers Rotterdam und der Universität von Wisconsin in Madison war es gelungen, eine Variante des Vogelgrippevirus herzustellen, die für Menschen und Tiere vermutlich gefährlicher ist als die bereits bekannten Varianten.

Darauf wies in einem Offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel das in Berlin ansässige gen-ethische Netzwerk und die Organisation Testbiotech hin. Dort wurde die Bundeskanzlerin aufgefordert, sich für einen Stopp der Herstellung von neuen Varianten des Vogelgrippevirus (H5N1) und eine Beschränkung des Zugangs zu den Genom-Daten einzusetzen. Beide Organisationen kritisierten, dass das Bundeskanzleramt eine Stellungnahme ablehnte. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob nicht der Bundestag der richtige Ort für die Debatte war, und ob es immer sinnvoll ist, wenn solche Frage zur Chefsache erklärt werden. Warum die vom gen-ethischen Netzwerk und Testbiotech geforderte gesellschaftliche Diskussion um die Forschung im biotechnischen Bereich befördert werden soll, wenn das Kanzleramt eine Stellungnahme abgibt, ist nicht so recht verständlich.

Dagegen sind die Forderungen der beiden Organisationen sehr begründet. Dazu gehört eine staatliche Überwachung von Laboren, die in der Lage sind, Erbgut künstlich zu synthetisieren. Zudem sollte ein demokratisch legitimierter und transparenter Entscheidungsprozess festgelegt werden, wer über die Durchführung derartiger Forschungsprojekte entscheidet und wer Zugang zu den Daten haben soll.

Eine weitere wichtige Forderung benennt Christof Potthof vom gen-ethischen Netzwerk gegenüber Telepolis. Die Studierenden der biotechnischen Fachbereiche sollten bereits im Grundstudium mit den Missbrauchsmöglichkeiten ihrer Forschung vertraut gemacht werden. Bisher ist es üblich, solche Debatten erst in späteren Semestern zu führen. Potthof befürchtet, dass die Kommilitonen dann schon so tief der naturwissenschaftlichen Logik verhaftet sind, dass sie die Missbrauchsgefahren kaum noch wahrnehmen. Dass drücke sich schon darin aus, dass viele Biologen ihre Forschungen immer damit rechtfertigen, dass sie medizinisch sinnvoll sind. Die Gefahren werden dabei ausgeblendet.

Verfahrensfragen in den Mittelpunkt stellen

Christof Potthof, der auf Einladung der Linke-Bundestagsabgeordnete Petra Sitte an dem Fachgespräch teilnahm, betonte in seiner Stellungnahme, dass es nicht ausreiche, über die Ergebnisse von biotechnologischer Forschung zu reden. Es müsse schon die Formulierung der Forschungsergebnisse in den Focus gerückt werden. Nur dann kann im Vorfeld eine Risikoabwägung zwischen Nutzen und Gefahren von Forschungsergebnissen abgewogen werden.

Solche Forderungen wurden bereits 2006 erhoben, als es um die Forschung zu der Spanischen Grippe ging. In seinen weiteren Ausführungen ging Potthof dann genauer auf die Debatten im Bereich der Grippevirenforschung ein. Gerade auf diesem Gebiet wird auch die Notwendigkeit von mehr Transparenz im Forschungsbereich deutlich. Denn parallel zu einer Forschungsgemeinde, die sich vor öffentlichen Debatten möglichst abschottet, gibt es Gruppen und Netzwerke von Impfgegnern, die mit Halb- und Viertelwissen gemixt mit Spekulationen und Verschwörungstheorien gegen jegliche Impfungen mobil machen.

Eine sich abschottende Wissenschaft bestärkt solche teilweise irrationalen Haltungen sicher noch. Insofern könnte die geforderte gesellschaftliche Debatte über den Nutzen und die Gefahren einer Biotechnologieforschung auch dazu beitragen, eine rationale Debatte über diese Problematik zu fördern. Die Bundestagsdebatte vom 7.11., die in Text und als Video im Internet vorliegt, kann vielleicht einen Beitrag zu dieser geforderten gesellschaftlichen Debatte leisten.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153146
Peter Nowak

Nein zu Spardiktaten und Nationalismus

Besuch in Griechenland: Soziale Projekte aus der Not heraus und Selbstorganisation
Gewerkschafter lernten bei einer Griechenland-Reise ein Land zwischen sozialen Experimenten und faschistischer Gefahr kennen

»Unser Ziel ist es, zu gewährleisten, dass niemand im nächsten Winter an Hunger stirbt.« Diesen Satz sagte ein Abgeordneter der linkssozialistischen Syriza in Griechenland zu einer Gruppe von europäischen Gewerkschaftern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. »Wir wollen uns ein eigenes Bild von dem krisengebeutelten Land machen und unsere Solidarität bekunden«, beschreibt der Berliner Metall-Gewerkschafter Hans Köbrich die Motivation der einwöchigen Solidaritätstour.
Die Gewerkschafter besuchten zahlreiche Solidaritätsprojekte, in denen die Menschen versuchen, die Folgen der Krise zumindest abzumildern. Gleich am zweiten Tag der Delegation besichtigten sie ein im Aufbau befindliches soziales Zentrum in Athen. Es wird in einer ehemaligen Privatschule auf Spendenbasis eingerichtet. Ein Gesundheitszentrum stand ebenso auf der Agenda der Delegation wie ein besetzter ehemaliger Campingplatz, der 20 Jahre nicht mehr genutzt wurde. Anwohner haben die »Bürgerinitiative Alternative Aktion« gegründet und das Areal besetzt, damit sie kostenlos den Strand nutzen können.

Die Solidaritätsreisenden haben verschiedene dieser selbstorganisierten Projekte sowie verschiedene Basisgewerkschaften besucht. Sie haben dabei ihre parteipolitische Neutralität deutlich gemacht. Allerdings wird auf dem auf der Internetplattform Labournet veröffentlichten Reisetagebuch deutlich, dass Aktivisten von Syriza öfter bei den Treffen anwesend waren, während ein Besuch bei der der Kommunistischen Partei nahestehenden Gewerkschaftsverband Pame nicht geplant war. Dabei wäre es sicher auch interessant gewesen, was aus den Beschäftigten geworden ist, die mehrere Monate ein Stahlwerk bei Athen besetzt hatten. Die maßgeblich von der Pame getragene Aktion war von Gewerkschaften in verschiedenen Ländern als Protest gegen die EU-Politik unterstützt worden.

Rechte Gewalt steigt an

Besonders entsetzt waren die Gewerkschafter über das Ausmaß rechter Gewalt, von der in den letzten Monaten besonders Flüchtlinge in Griechenland betroffen sind. Dabei sei die neonazistische Partei der Morgenröte mit ihren gewalttätigen Angriffen nur die Spitze des Eisbergs, berichten die Gewerkschaftler. So hätten die Polizeirazzien in von Flüchtlingen bewohnten Stadtteilen massiv zugenommen. Gleichzeitig seien Antifaschisten, die sich mit den bedrohten Menschen solidarisieren, von staatlicher Repression betroffen.

Die Gewerkschafter sind nach der einwöchigen Delegation also mit sehr gemischten Eindrücken zurückgekehrt. Das Anwachsen der rassistischen und faschistischen Bewegung gehört zweifellos den negativsten Erfahrungen. Prägend war für viele Teilnehmer auch der Alltagswiderstand in Griechenland, der hierzulande kaum bekannt ist. Selbst in linken Medien werde oft nur die Opferhaltung, kritisiert ein Delegationsteilnehmer. »Griechenland wird oft als Experimentierfeld bezeichnet, das zeigen soll, wie weit die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten vorangetrieben werden kann. Wir haben aber auch ein Land kennengelernt, das ein Laboratorium für neue Formen des sozialen Lebens geworden ist.« Ihre so völlig unterschiedlichen Eindrücke wollen die Gewerkschafter auf Veranstaltungen in Deutschland weiter vermitteln. In Berlin berichtet die Reisegruppe am 13.November um 18 Uhr im Haus der IG Metall in der Alten-Jakob-Straße 149. Dort sollen auch Spenden für die soziale und antifaschistische Projekte gesammelt werden.

Das Tagebuch finden Sie unter: www.labournet.de/diskussion/arbeit/aktionen/2012/griechenreisetagebuch.html
http://www.neues-deutschland.de/artikel/803711.nein-zu-spardiktaten-und-nationalismus.html
Peter Nowak

Die halbe Miete

In Hamburg, Berlin und auch im beschaulichen Freiburg formiert sich der Protest gegen steigende Mieten und Verdrängung.

Vor 25 Jahren wurde ein kleines Areal am Hamburger Hafengelände zum Schauplatz aufsehenerregender Proteste. Mit Barrikaden wehrten sich damals die Bewohner der Hafenstraße, unterstützt von Tausenden Linken aus ganz Europa, gegen die von Politik und Justiz beschlossene Räumung ihrer Häuser. Mit Erfolg, selbst das Hamburger Bürgertum wollte sich das Weihnachts­geschäft nicht durch Bambule nach einer Häuserräumung verderben lassen.

Am Wochenende werden die Hamburger Barrikadentage von 1987 Anlass für eine Veranstaltungsreihe in den Häusern der Hafenstraße sein. Vor den Filmvorführungen, Lesungen und Diskussionen wollen die Protestveteranen am 10. November an einer Demonstration gegen steigende Mieten und Verdrängung teilnehmen, zu der zahlreiche Mieterinitiativen und das Bündnis »Recht auf Stadt« aufrufen. Auch in Berlin und Freiburg wollen am Samstag Mieter für bezahlbare Wohnungen auf die Straße gehen. In Freiburg wird mit dem Slogan »Bezahlbarer Wohnraum ist die halbe Miete« eine konkrete Forderung gestellt. In Berlin wird hingegen mit der allgemein gehaltenen Parole »Die Stadt von morgen beginnt heute« mobilisiert.

Mit diesem bundesweit koordinierten Aktiontag wollen Mieterinitiativen die Proteste der vergangenen Monate zuspitzen. Die Auswahl der Protest­orte macht deutlich, dass steigende Mieten und die Verdrängung von Menschen mit geringen Einkommen in Freiburg, der Hochburg der grünen Bionadebourgeoisie, ebenso ein Problem darstellen wie im SPD-regierten Hamburg oder dem seit einem Jahr von einer Großen Koalition verwalteten Berlin. Joachim Oellerich von der Berliner Mietergemeinschaft macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die Abwicklung des sozialen Wohnungsbaus in Berlin von der mehr als ein Jahrzehnt regierenden rot-roten Koalition eingeleitet wurde. Deshalb betont die sich in Berlin for­mierende Mieterbewegung ihre Distanz zu allen Parteien.

Ein erster Höhepunkt des Protests war eine Demonstration mit etwa 6 000 Teilnehmern im September 2011, bei der die Teilnahme von Politikern ausdrücklich nicht erwünscht war. Die Mieterdemonstrationen, die in den folgenden Monaten stattfanden, erreichten nicht mehr diese Größe. Dennoch haben die Mieterproteste einen politischen häufig erhobenen Anspruch tatsächlich erfüllt: In den vergangenen Monaten gab es einen alltäglichen Widerstand von Menschen, die man nicht unbedingt auf linken Demonstrationen antrifft. Dazu gehören die Senioren, die im Frühsommer eine von der Schließung bedrohte Seniorenbegegnungsstätte in der Stillen Straße im Berliner Stadtteil Pankow besetzten. Sie hatten Erfolg, ihre Einrichtung soll nun unter dem Dach des Wohlfahrtsverbands Volkssolidarität weitergeführt werden. Im Bezirk Friedrichshain konstituierten sich vor einigen Monaten die Palisadenpanther, die sich nach der Straße benannten, in der sich ihre Seniorenwohnanlage befindet. Nach der Ankündigung einer drastischen Mieterhöhung probten die Senioren den Widerstand.

Wie die Rentner aus Pankow sehen sich auch die Palisadenpanther als Teil einer berlinweiten Mieterbewegung. Zum Bezugspunkt dieses neuen Mieteraktivismus wurde ein seit Ende Mai von Kreuzberger Mietern getragenes Protestcamp am Kottbuser Tor (Jungle World 24/2012). Daran beteiligen sich neben jungen Linken aus dem autonomen Spektrum vor allem Menschen, die vor mehreren Jahrzehnten aus der Türkei nach Berlin gekommen sind. Eine wesentliche Forderung, die auch bei einer am 13. November im Berliner Abgeordnetenhaus stattfindenden Konferenz zum sozialen Wohnungsbau thematisiert werden soll, ist das Absenken der Kaltmieten auf vier Euro pro Quadratmeter.

Damit soll verhindert werden, dass Menschen, die ALG II beziehen, aus den Innenstadtquartieren vertrieben werden. Dass deren Zahl steigt, belegt eine Antwort des Berliner Senats auf eine parlamentarische Anfrage der beiden Linksparteiabgeordneten Elke Breitenbach und Katrin Lompscher im Februar dieses Jahres. Demnach wurden in Berlin im vorigen Jahr 65 511 ALG-II-Bezieher vom Jobcenter zur Senkung der Kosten für Unterkunft und Heizung aufgefordert. Die Zahl der daraus resultierenden Umzüge sei von 428 im Jahr 2009 auf 1 313 im vergangenen Jahr gestiegen.

»Der Druck auf die Mieter nimmt zu«, sagt Petra Wojciechowski vom Stadtteilladen Lausitzer Straße, in dem sich Mieter juristisch beraten lassen können. Dieses Angebot wird vor allem von ALG-II-Empfängern genutzt, deren Jobcenter nach einer Mieterhöhung einen Teil der Kosten nicht mehr übernehmen. »Doch politischer Widerstand gegen Räumungen ist selten, weil die die Menschen sich schämen und die Schuld bei sich suchen«, sagt Wojciechowski. Ähnliche Erfahrungen hat man auch bei der Berliner »Kampagne gegen Zwangsumzüge« gemacht, die sich nach der Einführung von Hartz IV gegründet hat. Doch etwas scheint sich langsam zu ändern, seit einigen Wochen kann man an Laternen oder Hauswänden in Kreuzberg Aufkleber mit dem Slogan »Zwangsräumungen stoppen« entdecken.

Gegen die drohende Zwangsräumung ihrer Wohnung wehren sich im Bezirk gleich zwei Mieter unabhängig voneinander. So machte die verrentete Gewerkschafterin Nuriye Cengiz mit Plakaten in den Fenstern ihrer Parterrewohnung auf ihre Wohnungskündigung aufmerksam (Jungle World 32/2012). Mieteraktivisten nahmen Kontakt auf und organisierten Kundgebungen vor dem Büro der Eigentümer. Und Ende Oktober musste eine Gerichtsvollzieherin eine Zwangsräumung bei einer Familie in Kreuzberg abbrechen, etwa 150 Unterstützer versperrten ihr den Einlass (Jungle World 43/2012). In beiden Fällen sind die Kündigungen allerdings noch nicht vom Tisch. Ob sich dieser Alltagswiderstand nach dem spanischen Vorbild auf ganz Berlin und womöglich andere Städte ausweitet, ist offen. Denn er ist von einer solidarischen Infrastruktur abhängig. Dazu zählt das Kotti-Camp ebenso wie Stadtteil- und Mieterläden in einigen Stadtteilen Berlins und in anderen Städten.

Doch noch ist eine solche Infrastruktur für sozialen Widerstand die Ausnahme in Deutschland. In diese Lücke stößt derzeit eine Initiative unter dem Namen »Wir gehen mit«, die die Begleitung beim Jobcenterbesuch als unpolitische Serviceleistung anbietet und die Verbesserung des Verhältnisses zwischen Erwerbslosen und Jobcenter zu ihrem Ziel erklärt. Einer solchen Entpolitisierung könnte durch eine Verbindung von Kämpfen von Mietern, Lohnabhängigen und Erwerbslosen entgegengewirkt werden.

Der Zusammenhang zwischen schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen und der drohenden Vertreibung von Mietern mit geringem Einkommen wird bei der Hamburger Bewegung »Recht auf Stadt« diskutiert. Wie schwierig die Verbindung von sozialem Aktivismus und radikaler Gesellschaftskritik ist, wird auch deutlich, wenn auf der Homepage von »Kotti und Co.« von »nachhaltigen Lösungen für den sozialen Wohnungsbau« und dem Ringen »um ein soziales Berlin von morgen« die Rede ist, ohne die kapitalistische Verfasstheit der Gesellschaft zu erwähnen, die solchen Forderungen entgegensteht.

http://jungle-world.com/artikel/2012/45/46550.html
Peter Nowak