Todesnacht in Stammheim

35 Jahre sind vergangen, kritische Fragen bleiben
Am 18. Oktober jährt sich zum 35. Mal der Tag, an dem die RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Raspe tot und Irmgard Möller schwerverletzt in ihren Zellen in der Etage des Hochsicherheitsgefängnisses Stuttgart-Stammheim aufgefunden wurden. Jahrelang gab es in der Linken starke Zweifel an der offiziellen Selbstmordversion.
Für Helge Lehmann sind sie bis heute nicht ausgeräumt. Er hatte vor einigen Monaten das Buch »Die Todesnacht in Stammheim – Eine Untersuchung« herausgebracht. Dazu hat er mehrere, der in der offiziellen Selbstmordversion unhinterfragten Fakten, wissenschaftlich untersucht und kam zu dem Schluss, dass sie nicht stimmen konnten. Diese Untersuchungsergebnisse gingen in den Antrag zur Neuauflage des Todesermittlungsverfahrens der drei RAF-Gefangenen ein, den Lehmann gemeinsam mit Gottfried Ensslin, dem Bruder von Gudrun Ensslin, am 18.Oktober in Berlin auf einer Pressekonferenz vorstelle.

Einen zentralen Stellenwert bei den 32 Punkten des Antrags nimmt die Kommunikationsanlage ein, mit denen sich angeblich die Gefangenen zum Selbstmord verabredet haben. Die aber hat nach Untersuchung von Lehmann technisch nicht funktioniert. Auch die Frage des Waffentransports nimmt einen großen Stellenwert ein. Sowohl der Plattenspieler in Baaders Zelle, der angeblich als Waffenversteck gedient haben soll, als auch die Akten, mit denen sie von Anwälten ins Gefängnis geschmuggelt worden sein sollen, scheiden nach seinen Untersuchungen aus. Ein neues Indiz, das Zweifel an der offiziellen Version erhöhte und Lehman erst vor einigen Wochen anonym zugespielt wurde, hat er der Pressekonferenz erstmals öffentlich präsentiert. Es handelt sich um das Vernehmungsprotokoll von Hans Springer, der in der Todesnacht in der siebten Etage von Stuttgart-Stammheim Dienst hatte. Er sagte aus, von einer für ihn nicht identifizierbaren Person zwischen 0 Uhr und 3.30 Uhr telefonisch von seinen Wachposten abberufen worden zu sein. Ihm sei versichert worden, dass die Bewachung der Gefangenen in dieser Zeit gewährleistet sei.

»Wir wissen nicht, was am morgen des 18.Oktober in den Zellen geschah, aber wir sind nach den Untersuchungen überzeugt, dass die offizielle Version so nicht stimmen kann«, wies Gottfried Ensslin Fragen nach eigenen Hypothesen zurück. Auch Lehmann enthielt sich ch jeglicher Spekulationen, beharrt aber auf die Untersuchung der offenen Fragen. »Wenn sich dann ergibt, dass die offizielle Version stimmen sollte, wären zumindest alle Zweifel ausgeräumt«, betonte er. Er wies darauf hin, dass noch ein Großteil der Akten rund um die Todesumstände von Stammheim nicht freigegeben seien, weil das Sicherheitsinteresse der BRD es nicht erlaub, so die offizielle Begründung.

Die innenpolitische Sprecherin der Fraktion der Linken im Bundestag Ulla Jelpke, die die Pressekonferenz moderierte, erinnerte daran, dass es seit der Todesnacht nicht nur bei der radikalen Linken sondern auch bei Menschenrechtsorganisationen im In- und Ausland und den Rechtsanwälten der Gefangenen große Zweifel an der offiziellen Version gegeben habe. Deshalb begrüßte sie es, dass nach mehr als drei Jahrzehnten von einer neuen Generation kritische Fragen gestellt werden.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/801666.todesnacht-in-stammheim.html
Peter Nowak

Neue Ermittlungen über die Todesumstände der RAF-Gefangenen gefordert

Das Vernehmungsprotokoll eines Wachbeamten in Stammheim schürt Zweifel an der offiziellen Version

Am 18. Oktober jährt sich zum 35ten Mal der Tag, an dem die RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Raspe tot und Irmgard Möller schwerverletzt in ihren Zellen in der Etage des Hochsicherheitsgefängnisses Stuttgart-Stammheim aufgefunden wurden. Jahrelang gab es in der Linken starke Zweifel an der offiziellen Selbstmordversion.

Für Helge Lehmann sind sie bis heute nicht ausgeräumt. Er hatte vor einigen Monaten das Buch Die Todesnacht in Stammheim – Eine Untersuchung herausgebracht. Dazu hat er mehrere der in der offiziellen Selbstmordversion unhinterfragten Fakten wissenschaftlich untersucht und kam zu dem Schluss, dass sie nicht stimmen konnten.

Diese Untersuchungsergebnisse gingen in den Antrag zur Neuauflage des Todesermittlungsverfahrens der drei RAF-Gefangenen ein, den Lehmann gemeinsam mit Gottfried Enssslin, dem Bruder von Gudrun Ensslin, am 18.Oktober in Berlin auf einer Pressekonferenz vorstellte.

Einen zentralen Stellenwert bei den 32 Punkten des Antrags nimmt die Kommunikationsanlage ein, mit denen sich angeblich die Gefangenen zum Selbstmord verabredet haben. Die aber hat nach Untersuchung von Lehmann technisch nicht funktioniert. Auch die Frage des Waffentransports nimmt einen großen Stellenwert ein. Sowohl der Plattenspieler in Baaders Zelle, der angeblich als Waffenversteck gedient haben soll, als auch die Akten, mit denen sie von Anwälten ins Gefängnis geschmuggelt worden sein sollen, scheiden nach seinen Untersuchungen aus.

Neues Indiz

Ein neues Indiz, das Zweifel an der offiziellen Version erhöhte und Lehman erst vor einigen Wochen anonym zugespielt wurde, hat er bei der Pressekonferenz erstmals öffentlich präsentiert. Es handelt sich um das Vernehmungsprotokoll von Hans Springer, der in der Todesnacht in der siebten Etage von Stuttgart-Stammheim Dienst hatte. Er sagte aus, von einer für ihn nicht identifizierbaren Person zwischen 0 Uhr und 3.30 Uhr telefonisch von seinen Wachposten abberufen worden zu sein. Ihm sei versichert worden, dass die Bewachung der Gefangenen in dieser Zeit gewährleistet sei.

„Wir wissen nicht, was am Morgen des 18.Oktober in den Zellen geschah, aber wir sind nach den Untersuchungen überzeugt, dass die offizielle Version so nicht stimmen kann“, wies Gottfried Ensslin Fragen nach eigenen Hypothesen zurück. Auch Lehmann enthielt sich jeglicher Spekulationen, beharrt aber auf die Untersuchung der offenen Fragen. „Wenn sich dann ergibt, dass die offizielle Version stimmen sollte, wären zumindest alle Zweifel ausgeräumt“, betonte er. Er wies darauf hin, dass noch ein Großteil der Akten rund um die Todesumstände von Stammheim nicht freigegeben seien, weil das Sicherheitsinteresse der BRD es nicht erlaube, so die offizielle Begründung.

Material von Insidern?

Die innenpolitische Sprecherin der Fraktion der Linken im Bundestag Ulla Jelpke, die die Pressekonferenz moderierte, erinnerte daran, dass es seit der Todesnacht nicht nur bei der radikalen Linken, sondern auch bei Menschenrechtsorganisationen im In- und Ausland und den Rechtsanwälten der Gefangenen große Zweifel an der offiziellen Version gegeben habe. Deshalb begrüßte sie es, dass nach mehr als drei Jahrzehnten von einer neuen Generation kritische Fragen gestellt werden. Tatsächlich haben sich paradoxerweise die Chancen zu einer Aufklärung der offenen Fragen erhöht, weil die meisten Beteiligten aus dem Justizapparat mittlerweile in Rente sind. Sie könnten ihr Wissen doch noch öffentlich machen und sei es anonym, wie das Lehmann zugespielte Verhörprotokoll.

Peter Nowak

Nicht krank machen lassen

Die Diskriminierung von Transmenschen ist in Deutschland alltäglich. Dagegen richtet sich ein am Wochenende stattfindender Aktionstag.

Im Februar 2006 wurde die brasilianische Transsexuelle Gisberta Salce Junior in Portugal von einer Gruppe junger Männer gefoltert, vergewaltigt und schwer verletzt in einen Brunnen geworfen, wo sie starb. Auf den Fall von Brandon Teena und die Gewalt gegen Transmenschen machte der Film »Boys Don’t Cry« im Jahr 1999 international aufmerksam: Brandon, der körperlich weiblich war, aber als Mann leben wollte, wurde 1993 im Alter von 21 Jahren in Nebraska ermordet.

Auch in Deutschland sind Transmenschen Diskriminierungen und Verfolgungen ausgesetzt, die tödlich enden können. Bekannt wurde der Selbstmord der Berliner Kriminalhauptkommissarin Bianca Müller im Jahr 2005. Die als Sprecherin des Arbeitskreises Kritischer Polizisten bekannt gewordene Beamtin war nach einer Geschlechtsumwandlung dem brutalen Mobbing ihrer Kollegen ausgesetzt, das sie in ihrem Abschiedsbrief schilderte. Einen PDS-Bürgermeister aus Quellendorf in Sachsen-Anhalt kostete sein Outing als Transmensch vor 14 Jahren nicht das Leben, aber sein Amt und sein soziales Umfeld. Nachdem der als Norbert Lindner gewählte Politiker zu Michaela Lindner geworden war, brachten Einwohner ein erfolgreiches Abwahlverfahren in Gang. Die Transfrau verließ den Ort. In verschiedenen Zeitungen äußerten sich damals Einwohner von Quellendorf über die »Krankheit« Lindners.

Die Pathologisierung von Menschen, die das ihnen zugeordnete Geschlecht nicht akzeptieren wollen, wird auch von Psychologen und Ärzten vorangetrieben. So ist in internationalen Krankheitskatalogen Transsexualität noch immer als »Geschlechtsidentitätsstörung« aufgeführt. Die Trans*-Initiativen, so die Eigenbezeichnung, befürchten, dass diese Diagnose demnächst noch ausgeweitet werden könnte. Denn zurzeit wird das Diagnostische und Statistische Handbuch psychischer Störungen (DMS) überarbeitet. Zu den 13 Arbeitsgruppen, die damit befasst sind, gehört auch die »sexual and gender identity disorder work group«, der 13 Psychiater und Psychologen angehören.

Doch weltweit setzen sich Transmenschen für die vollständige Streichung der Kategorie »Geschlechtsidentitätsstörung« aus dem Handbuch ein. Der 20. Oktober wurde zum internationalen Aktionstag für die Entpathologisierung von Transmenschen ausgerufen. In über 20 Ländern sind die unterschiedlichsten Aktionen geplant, von Infoständen bis zu Demonstrationen. Das Berliner Bündnis »Stopp Trans*-Pathologisierung« hat für kommenden Samstag um 15 Uhr eine Kundgebung vor dem Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin des Universitätsklinikums Charité in der Luisenstraße 15 unter dem Slogan »Trans ist keine Krankheit, sondern ein Menschenrecht« angekündigt.

Besondere Kritik übt das Bündnis an Professor Klaus Beier, der an diesem Institut lehrt. Er vermittle in seinen Vorlesungen »ein pathologisierendes und diskriminierendes Bild von Transgendern, Transvestiten und anderen Queers«, behauptet es. Es wirft dem Mediziner zudem vor, die Pathologisierung eines elfjährigen Kindes vorangetrieben zu haben, das das ihm zugewiesene männliche Geschlecht nicht akzeptiert und dabei von der Mutter unterstützt wird. Der Sorgerechtsstreit um Alex, wie das Kind in den Medien genannt wurde, seine mögliche Zwangseinweisung in die Jugendpsychiatrie und eine damit verbundene Therapierung hin zu einem geschlechtskonformen Verhalten als Junge sorgten Ende März für Diskussionen (Jungle World 14/2012). Beier und die Charité hatten damals öffentlich bekundet, eine solche Therapie nicht anzuwenden und nicht dazu bereit zu sein, das Kind gegen seinen erklärten Willen oder den erklärten Willen der Mutter aufzunehmen.

Auch die Berliner Gruppe Transinterqueer kritisiert Beier, der als Sexualmediziner mit der Begutachtung des Kindes beauftragt war. Sie war Teil eines Bündnisses zahlreicher Organisationen, die vor einigen Monaten die Zwangseinweisung von Alex verhindern konnten. Der Fall hat die Diskriminierung und Pathologisierung von Transmenschen in Deutschland einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Die Organisatoren hoffen daher auch auf eine stärkere Beteiligung am Aktionstag als in den Vorjahren.

Rechtzeitig dazu ist nun im Verlag AG Spak ein Büchlein unter dem Titel »Stop Trans*-Pathologisierung« erschienen. Der im Untertitel vertretene Anspruch, »Berliner Beiträge für eine internationale Debatte« zu liefern, wird auf den knapp 100 Seiten eingelöst. In den kurzen Kapiteln, darunter auch Redebeiträge der Protestkundgebungen der vergangenen drei Jahre, wird eine gute Einführung zum Thema geliefert. In einem Glossar werden die Fachbegriffe erläutert, am Ende werden Interessierte mit einer kommentierten Bücherliste und einigen Filmempfehlungen über »Geschlecht und Trans*« zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema ermuntert.

Ein besonderer Akzent wird in dem Buch auf die sozialen Aspekte gelegt, was sicher auch daran liegt, dass sich die Herausgeberin Anne Allex seit vielen Jahren in der Erwerbslosenbewegung engagiert und den »Arbeitskreis Marginalisierte gestern und heute« mitbegründet hat. In ihrem Beitrag zeigt sie die sozialen Folgen von Pathologisierung auf. »Trans*-Menschen gehören zu einer der am meisten diskriminierten Populationen in Europa. Ihre Erwerbslosenquote ist signifikant höher als beim Rest der Gesellschaft. Sie haben keine Aussicht auf eine der Ausbildung entsprechende Arbeit. Sie sind überwiegend arm und sozial ausgegrenzt«, schreibt Allex. Die Zuschreibung einer Geschlechtsidentitätsstörung könne dazu führen, dass Transmenschen bei den Jobcentern und Arbeitsagenturen in die Kategorie »erwerbsunfähig« eingeordnet würden. Das aber bedeute ein Leben am Rande des Existenzminimums. »Landen Erwerbslose nach solchen Feststellungsverfahren in einer kleinen Erwerbsminderungsrente oder in der Sozialhilfe, hat das schwere, dauerhafte Folgen für ihren künftigen Lebensstandard und ihre Lebensqualität«, schreibt die Autorin.

Dies betrifft nicht nur viele Transmenschen. So wurden in den vergangenen Jahren immer häufiger ALG-II-Berechtigte von den Jobcentern zur Erstellung eines psychologischen Gutachtens aufgefordert (Jungle World 22/2011). Zu den Begründungen gehört auch eine häufige Krankschreibung vor oder die Entlassung aus Eingliederungsmaßnahmen. Allex’ Beitrag macht deutlich, dass die Gefahr der Pathologisierung renitenter Erwerbsloser mittels dieser psychologischen Gutachten nicht auszuschließen ist.

Mit der Benennung der sozialen Dimension weisen die Autoren des Buches auf mögliche Bündnisse auch über den Aktionstag hinaus hin, die vom Bündnis gegen Zwangspathologisierung bis zu Erwerbslosengruppen und Sozialbündnissen reichen können. Beispiele gibt es bereits. In dem Buch ist das Foto eines Transparents mit der Parole »Dekadenz in Permanenz, Existenzgeld 1 500 Euro für hetero, homo, bi, lesben, trans, queer« zu sehen, das auf einer Demonstration gegen Sozialabbau im Sommer 2010 getragen wurde.

http://jungle-world.com/artikel/2012/42/46414.html

Peter Nowak

Arbeiterpaläste zu Eigentumswohnungen

Mieter aus der Frankfurter Allee wehren sich gegen drohende Vertreibung

»Ich habe in Sonderschichten geholfen, diese Häuser mit aufzubauen und kann nicht verstehen, dass sie jetzt an Kapitalisten verkauft werden«, erklärte Erika Eberlein unter Applaus am Dienstagabend in der Galiläakirche in der Rigaer Straße in Berlin-Friedrichshain. Der Einladung des Stadtteilladens Friedrichshain und des vor kurzem gegründeten Mieterrates waren zahlreiche Bewohner der noch unsanierten Gebäude Frankfurter Allee 5 bis 27 gefolgt. Das Motto des Abends lautete »Arbeiterpaläste zu Eigentumswohnungen«. Daran hängt für viele die Frage, ob sie in Zukunft noch in den Häusern leben können, die wie bei Erika Eberlein oft seit Jahrzehnten ihr Lebensmittelpunkt sind.

Im ersten Teil des Abends wurde eine Mängelliste erstellt und an den für die aktuellen Baumaßnahmen verantwortlichen Architekten weitergeleitet. Da war von nicht funktionierenden Aufzügen die Rede, die es älteren Mietern unmöglich machten, ihre Wohnungen in den oberen Etagen zu verlassen. Auch Feuchtigkeitsflecken und Schwammbildung wurden genannt. Immer wieder wurde von den Mietern moniert, dass sie diese Mängel erfolglos dem Hausmeister gemeldet hatten.

»Als wir daraufhin nach Beratung mit Mieterverbänden eine Mietminderung durchführten, bekamen wir sofort einen Brief des Eigentümers, in dem uns mit juristischen Folgen gedroht wurde, wenn wir nicht die Abzüge ausgleichen würden«, sagte ein empörter Mieter. Ein anderer Bewohner hat nach einer Mietminderung eine Kündigung erhalten, über die am Donnerstag vor Gericht verhandelt wird. Der Bürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg, Franz Schulz (Grüne), betonte, dass es die aktuelle Gesetzlage schwer mache, Mieterrechte zu verteidigen.

»Durch die Privatisierung der Häuser in den 90er Jahren sind sie den hier geltenden Marktmechanismen ausgeliefert«, so Schulz. Geändert werden könne das im Berliner Abgeordnetenhaus und im Bundestag, doch dort sind die Mehrheiten dafür derzeit nicht vorhanden.

Rainer Wahls vom Stadtteilbüro Friedrichshain brachte optimistischere Töne in die Debatte. »Der Eigentümer stößt dort an die Grenzen, wo sich Mieter organisieren und nicht spalten lassen«, betonte er und verwies auf die großen »Wir bleiben alle« -Demonstrationen, die vor knapp 20 Jahren von Ostberliner Initiativen organisiert wurden. »Auch wir werden bleiben«, betonte Wolfgang Grabowski vom Mieterrat, der vor einigen Wochen in den Häusern gegründet wurde.

Ein Hoffest ist in der Diskussion, eine Webseite wird gerade erstellt. Rico Prauss, der im Büro der Bundestagsabgeordneten der LINKEN Halina Wawzyniak arbeitet, bekam viel Zustimmung als er monierte, dass die Eigentümer der Häuser, die »Home Center Liegenschaften«, bisher jeden Dialog mit den Mietern verweigert hätten.

Auch am Dienstagabend war trotz Einladung kein Vertreter erschienen. Bürgermeister Schulz erklärte, er habe auf ein Schreiben die Zusage zu einem Treffen in nächster Zeit erhalten.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/801660.arbeiterpalaeste-zu-eigentumswohnungen.html
Peter Nowak

Kampf dem Vorurteil

Die Polizei kontrolliert nach Hautfarbe – immer mehr Initiativen wehren sich dagegen
Nach einem umstrittenen Gerichtsurteil, das »ethnische Kontrollen« legitimierte, organisieren Initiativen verstärkt Widerstand. Vorbild sind Kampagnen in anderen Ländern wie Kanada oder Großbritannien.

Laut Bundesregierung ist »eine unterschiedliche Behandlung von Personen in Abhängigkeit von Rasse, Herkunft oder Religion im Bundespolizeigesetz schon deshalb nicht enthalten, weil solche Methoden unvereinbar mit dem Verständnis von Polizeiarbeit in einem demokratischen Rechtsstaat sind«. Initiativen fordern indes ein eindeutiges gesetzliches Verbot, denn die Erfahrungen im Alltag sind andere.

Vor kurzem fuhr Biplab Basu mit seiner Tochter im Zug von Prag nach Berlin und wurde kontrolliert. »Der Polizist konnte mir aber nicht erklären, warum er gerade uns dafür ausgesucht hat und nach welchen Kriterien er vorgegangen ist. Als ich seine Motive als rassistisch bezeichnet habe, hat er mir mit einer Anzeige wegen übler Nachrede gedroht.« Was der Mitbegründer der Organisation Reach Out erlebt hat, können viele Menschen mit dunkler Hautfarbe berichten. Auf Bahnhöfen oder in der Innenstadt, immer wieder sind sie bei einer Polizeikontrolle die ersten. Am Wochenende wurde auf einer gut besuchten internationalen Konferenz in Berlin über Polizeikontrollen nach ethnischen Kriterien diskutiert und Gegenstrategien erörtert.

Vertreter aus Großbritannien und Kanada berichteten, dass solche Diskriminierung durch die Polizei in ihren Ländern Praxis sei, allerdings auch der Widerstand dagegen zugenommen habe. So existiert in Kanada eine unabhängige Polizeikommission, die Vorwürfe von ethnischer Diskriminierung untersucht. Auch in Großbritannien beschäftigten sich mittlerweile Polizeigremien verstärkt mit den Vorwürfen. In Deutschland wird von der Polizei hingegen abgestritten, dass Kontrollen nach ethnischen Kriterien wie Hautfarbe, Religion und Sprache durchgeführt würden. Wo es doch geschehe, handele es sich um bedauerliche Einzelfälle.

Im Februar hat ein Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz das »Racial Profiling« indessen sogar für rechtmäßig erklärt. Die Richter sprachen Angehörigen der Bundespolizei ausdrücklich das Recht zu, bei Stichprobenkontrollen in Zügen die Auswahl der anzusprechenden Personen auch nach dem äußeren Erscheinungsbild vorzunehmen. Sie wiesen damit die Klage eines dunkelhäutigen Deutschen ab, der sich gegen die Kontrolle ohne konkreten Verdacht gewehrt hatte. Das Urteil ist derzeit im Berufungsverfahren.

In dem Prozess bestätigte der Polizist, dass der Mann wegen seiner Hautfarbe kontrolliert wurde. Das Koblenzer Gericht sah darin »eine nur geringfügige Grundrechtsbeeinträchtigung mit einer sehr niedrigen Belastung im Einzelfall«, was bei Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen auf scharfe Kritik stieß. Auch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) warnte vor einer Stigmatisierung der Opfer.

Das Urteil war der Startschuss für einen stärkeren Widerstand gegen die Kontrollen auch in Deutschland. Eine Onlinepetition wurde von über 15 000 Menschen unterstützt. Nach dem Urteil entstand auch die Idee zu der internationalen Konferenz.

Diskutiert wurde bei dem Treffen in der Berliner Werkstatt der Kulturen auch über antirassistische Schulungsprogramme bei der Polizei, die es in Großbritannien bereits gibt. Sebastian Friedrich von der 2002 gegründeten »Kampagne für Opfer rassistisch motivierter Polizeigewalt« (KOP), die die Konferenz initiierte, schließt eine Beteiligung an solchen Programmen für seine Organisation aus. Man diskutiere zwar auch darüber, wie mit konkreten Forderungen an die Polizeiarbeit die Situation diskriminierter Menschen verbessert werden kann. »Wir stehen dabei aber parteiisch auf Seiten der von Rassismus Betroffenen«, erklärt Friedrich gegenüber »nd«. Er setzt auf eine stärkere Beschäftigung mit der Thematik in außerinstitutionellen Zusammenhängen und eine größere Öffentlichkeitsarbeit.

Das Konzept scheint aufzugehen. Nach dem Vorbild von Berlin hat sich in Dresden eine Kampagne gegen rassistische Polizeigewalt gegründet. Auch in anderen Städten besteht Interesse.

Ethnische 
Kontrollen

Racial Profiling wird mit ethnischen Kontrollen übersetzt. Dabei geht es um willkürliche Personenkontrollen an Bahnhöfen, Flughäfen, in Zügen aufgrund von Hautfarbe, Ethnie, Religion oder Sprache, die Sicherheitsbehörden vornehmen. Dies soll »illegale Einwanderung« verhindern. In Berlin, wo verdachtsunabhängige Kontrollen in von der Polizei festgelegten »kriminalitätsbelasteten Orten« ebenfalls möglich sind, folgen diese häufig ethnischen Kriterien. Aus Sicht der »Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz« und vieler antirassistischer Initiativen ist Racial Profiling ein klarer Verstoß gegen die Grund- und Menschenrechte.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/801425.kampf-dem-vorurteil.html
Peter Nowak

Die preisgekrönte EU und die neue Asyldebatte

Während sich die EU nach der Verleihung des Friedensnobelpreises selbst feiert, erhöhen EU-Gremien den Druck auf Minderheiten in der europäischen Peripherie

Nicht überall wurde der Nobelpreis an die EU gefeiert. Neben Antikriegsorganisationen, die darauf hinweisen, dass die EU-Politik zur Aufrüstung verpflichtet, sind es auch Flüchtlings- und Antirassismusgruppen, die die Preisverleihung als Zynismus bezeichnen. So spricht der Verein Aachener Friedenspreis gar von Zynismus. Lea Heuser, die Pressesprecherin des Vereins, kommentiert:

„Die Militarisierung der EU und ihre Abschottung gegenüber Flüchtlingen mit kriegerischen Mitteln ist alles andere als friedlich. Das muss endlich im Bewusstsein der Menschen ankommen.“

Die Grenzen der EU

Auch in Deutschland hat fast zeitgleich mit der Preisverleihung eine neue „Asyldebatte“ begonnen, die von Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert wird. In den vergangenen Tagen haben konservative Politiker, darunter Bundesinnenminister Friedrich, aber auch Mitglieder der SPD, wiederholt gefordert, die Visumpflicht für serbische und mazedonische Staatsbürgern, die im Dezember 2009 gelockert wurde, wieder einzuführen. Sie sprachen von einem „massiven Zustrom von serbischen und mazedonischen Staatsbürgern“, der gestoppt werden müsse.

Dabei geht es in erster Linie um Mitglieder der Romaminderheit, die seit Aufhebung der Visumpflicht für Kurzaufenthalte im Schengenraum vermehrt in der EU und anderen Schengener Vertragsstaaten Asyl beantragen. In einer gemeinsamen Presseerklärung haben sich jetzt zahlreiche Flüchtlings- und Antirassismusorganisationen sowie die Flüchtlingsräte zahlreicher Bundesländer gegen diese Neuauflage einer „Asyldebatte“ ausgesprochen. Sie verweisen auf EU-Berichte, die von einer massiven Diskriminierung der Romaminderheit in ihren Heimatländern ausgehen.

Auch Studien aus Serbien bestätigen diesen Befund. Zudem wurde auf Maßnahmen verwiesen, mit denen Serbien und Mazedonien selber versuchen, einen sogenannten Missbrauch der Visaerleichterungen zu verhindern. In der Praxis bedeutet das zusätzliche Grenzkontrollen und weitere Restriktionen für die schon diskriminierte Romaminderheit.

Die Drohung mit der Rücknahme der Visaerleichterungen könnte zudem den Druck auf diese Menschen noch mehr verstärken. Rechte Gruppierungen in den Ländern, die schon in der Vergangenheit häufig gegen Roma nicht nur verbal mobilisierten, könnten hier einen neuen Anlass für ihre rassistische Gewalt finden. Es ist schon erstaunlich, dass die EU mit ihrer Drohung, die Visaerleichterungen zurück zu nehmen, diese Minderheiten nicht etwa unterstützt, sondern den Druck auf sie noch mehr erhöht.

Hetze gegen Flüchtlinge in Wolgast

Mit welchen Gefahren eine Neuauflage der „Asyldebatte“ auch innenpolitisch verbunden sein kann, zeigt sich in Wolgast. Nachdem dort Flüchtlinge in eigene Wohnungen einzogen und damit ihre abgelegenen Heime verlassen konnten, begannen rechte Kreise unterstützt von einem Teil der Bevölkerung gegen die Menschen zu hetzen und drohten indirekt sogar mit Gewalt wie vor 20 Jahren in Rostock.

Ein antirassistisches Bündnis kritisiert jetzt, dass die Verantwortlichen der Stadt die rechten Kritiker damit beruhigen wollen, in dem sie den niedrigen Lebensstandard der Flüchtlinge in den Mittelpunkt ihrer Argumentation stellen. „Die Perspektive der Flüchtlinge wird in den meisten Fällen vernachlässigt“, monieren die Antirassisten in einer Stellungnahme zu den Reaktionen auf ihren offenen Brief.

Anders als vor 20 Jahren haben die in Deutschland lebenden Flüchtlinge mittlerweile ihre Selbstorganisation erheblich verbessert, was ihr mehrwöchiger Marsch von Würzburg nach Berlin „We Will Rise“ zeigte, mit dem sie im September gegen ihre Heimunterbringung und die Residenzpflicht protestierten, die sie verpflichten soll, die ihnen von den Ausländerämtern zugewiesenen Landkreise nicht ohne Genehmigung zu verlassen.

Nachdem die Polizei lange Zeit kooperativ war, hat sich ihr Verhalten am 15. Oktober geändert. Zahlreiche Flüchtlinge wurden festgenommen und das Protestcamp der Flüchtlinge am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg umstellt, nachdem sie die Botschaft von Nigeria wegen deren logistischer Unterstützung bei den Abschiebungen kurzzeitig besetzt hatten.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152992
Peter Nowak

Eine neue Qualität?

Fragen an Christoph Schulze, Mitarbeiter der Opferperspektive Brandenburg, die rechte Vorfälle
dokumentiert und Opfer rechter Gewalt berät.

Die rechten Drohungen gegen die Lausitzer Rundschau in Spremberg haben vor einigen Wochen bundesweit Aufsehen erregt.
CHRISTOPH SCHULZE: Dass eine gesamte Lokalredaktion im Visier von Neonazis steht, war mir zumindest
bisher nicht bekannt und zeugt vom gestiegenen Selbstbewusstsein der Rechten. Deshalb hat die Aktion in
der Tat eine neue Qualität. Dass Pressevertreter in den Fokus der Rechten geraten, ist allerdings weder neu
noch überraschend. So wurde die Journalistin Andrea Röpke, die seit Jahren über die rechte Szene schreibt, von Neonazis angegriffen und geschlagen. Auch Fotojournalisten geraten immer wieder ins Visier der Rechten, so unter anderem bei einem Neonaziaufmarsch am 1. Mai 2010 in Hamburg.

Sind Ihnen auch aus der Region solche Angriffe gegen Journalisten bekannt?
C.S.: Ja, so wurde der Journalist Peter Huth aus der Uckermark bedroht, der sich in journalistischen Beiträgen
seit Jahren mit der rechten Szene auseinandersetzt. Immer wieder erhalten Journalisten, die sich kritisch
mit den Neonazis beschäftigen, Drohbriefe.

Sind die Angriffe auf die Lausitzer Rundschau Indiz für eine neue rechte Szene, die mit solchen Ak-tionen
von sich reden macht?

C.S.: In der jüngeren Generation der Neonazis ist grundsätzlich eine gesteigerte Gewaltbereitschaft sowie
die Suche nach neuen politischen Ausdrucksformen festzustellen. Dazu gehören auch maskierte Nachtde-monstrationen, wie sie eine Neonazigruppe unter dem Namen »Die Unsterblichen« am Vorabend des 1. Mai
2011 erstmals durchführte und mit PR-Methoden propagierte. Inzwischen wurden diese Aktionen dutzendfach
in anderen Städten wiederholt. In der Lausitz hat sich eine Neonaziformation »Spreelichter« damit hervorgetan. Es gibt starke Indizien, dass aus ihrem Umfeld auch die Angriffe auf die Lausitzer Rundschau ausgehen.

Wo liegt der Grund für diese Art von neuem rechten Aktivismus?
C.S.: Ich sehe das als einen Erfolg der Nazigegner, die mit erfolgreichen Blockadeaktionen wie in Dresden
und anderen Städten rechte Aufmärsche erfolgreich be- oder verhinderten.

Am 12. Mai wurden auch linke Jugendliche in Spremberg angegriffen. Zeigt sich in den Reaktionen
darauf ein Ungleichgewicht an öffentlicher Aufmerksamkeit?

C.S.: Nein, die Aufmerksamkeit, die durch Drohungen gegen die Lausitzer Rundschau auf die rechte Szene
in der Region gelenkt wurde, hat dazu geführt, dass auch Angriffe auf Punks in einer größeren Öffentlichkeit
wahrgenommen wurden. Denn dass es eine aktive Neonaziszene in Spremberg gibt, ist nun wahrlich
nichts Neues. Es ist aber bislang kaum gelungen, darüber breiter zu debattieren. Unabhängig von den letzten Angriffen ist inzwischen in vielen Medien eine größere Sensibilität für Opfer rechter Gewalt entstanden, was
sich beispielsweise bei den Angriffen auf die Jugendlichen in Spremberg zeigte. Immer mehr Redaktionen berichten über rechte Aktivitäten vor Ort. Die Zeiten, als darüber geschwiegen wurde, weil man das »eigene
Nest« nicht mit schlechten Nachrichten in Misskredit bringen wollte, gehören zum Glück weitgehend
der Vergangenheit an.

Aber gibt es nicht noch immer das Argument, dass die Touristen wegbleiben, wenn wir über rechte Vorfälle schreiben?
C.S.: Solche Stimmen gibt es auch heute noch vereinzelt. Doch auch da hat sich quer durch alle Parteien
einiges verändert. Ein gutes Beispiel ist der Umgang der Verantwortlichen in Neuruppin mit der Neonaziszene.
Die rechten Vorfälle werden ausführlich dokumentiert, Menschen, die sich dagegen wehren, werden aktiv
unterstützt. Dieses offene Engagement gegen Rechts führt gerade nicht dazu, dass die Touristen wegbleiben.
Im Gegenteil: Weil sich mittlerweile rumgesprochen hat, dass Rechte in Neuruppin keine Chance
haben, kommen mehr Menschen dorthin.

INTERVIEW: PETER NOWAK
http://medien-kunst-industrie.bb.verdi.de/sprachrohr/#ausgaben-2012


sprachrohr 7 3 | 12

Kampagne gegen ethnisches Profiling

Was bei Menschenrechtlern und EU-Gremien auf Kritik stößt, wurde von der deutschen Justiz nicht beanstandet

„Vor Kurzem bin ich mit meiner Tochter im Zug von Prag nach Berlin gefahren, und wir wurden kontrolliert. Der Polizist konnte mir aber nicht erklären, warum er gerade uns dafür ausgesucht hat und nach welchen Kriterien er vorgegangen ist. Als ich seine Motive als rassistisch bezeichnet habe, hat er mir mit einer Anzeige wegen übler Nachrede gedroht.“

Was der Mitbegründer der Organisation Reach Out, Biplab Basu, erlebt hat, können viele Menschen mit dunkler Hautfarbei berichten. Auf Bahnhöfen oder in der Innenstadt, immer wieder sind sie bei einer Polizeikontrolle die ersten. Dafür gibt es den Fachbegriff „racial profiling“, was auch mit „ethnischem Profiling“ übersetzt wird. Nach diesen Kriterien werden Polizeikontrollen in ganz Europa durchgeführt, dies wird von Menschenrechtsorganisationen und EU-Gremien scharf kritisiert.

Nur eine geringfügige Grundrechtsbeeinträchtigung?

Das Verwaltungsgericht Koblenz hat hingegen vor einigen Monaten das ethnische Profiling für rechtmäßig erklärt und damit die Klage eines Betroffenen abgewiesen. Während einer Kontrolle im Zug hatte er eine heftige verbale Auseinandersetzung mit einem Polizisten, was dem Mann eine Beleidigungsklage einbrachte. In dem Prozess hat der Polizist als Zeuge ausgesagt, dass der Mann wegen seiner Hautfarbe kontrolliert wurde.

Das Gericht sah darin nur „eine nur geringfügige Grundrechtsbeeinträchtigung mit einer sehr niedrigen Belastung im Einzelfall“, was bei Menschenrechtsorganisationen und Flüchtlingsorganisationen nicht nur in Deutschland auf scharfe Kritik stieß. Eine daraufhin organisierte Onlinepetition gegen ethnisches Profiling wurde von über 15.000 Menschen unterstützt. Auch das Projekt einer Internationalen Konferenz, die am vergangenen Freitag und Samstag in Berlin von der Kampagne gegen rassistische Polizeigewalt organisiert wurde, ist eine Reaktion auf das Urteil.

Das Interesse an der Konferenz war groß, wie die gut besuchte Auftaktveranstaltung und die Teilnahme an den 8 Arbeitsgruppen zeigte. Die Geschäftsführerin des Londoner Instituts of Race Relations, Liz Fekete, und die kanadische Rassismusforscherin Frances Henry berichteten über die Diskussionen zum Thema ethnische Diskriminierung durch die Polizei in ihren Ländern, die dort weiter fortgeschritten ist als in Deutschland. Der Befund, dass nach den islamistischen Anschlägen vom 11. September in den USA weltweit Diskriminierungen auch aus ethnischen Gründen zugenommen haben, wäre aber zu einfach.

Schulung der Polizei eine Lösung?

Tatsächlich hat auch die Sensibilität gegenüber solchen Praktiken zugenommen. So existiert in Kanada eine unabhängige Polizeikommission, die regelmäßig Vorwürfe von ethnischer Diskriminierung untersucht. Auch in Großbritannien beschäftigten sich mittlerweile Polizeigremien verstärkt mit solchen Vorwürfen. In Deutschland wird von Polizeisprechern hingegen abgestritten, dass die Polizei nach dem Prinzip von ethnischen Kriterien Kontrollen durchführt.

Werden solche Vorfälle bekannt und können von Zeugen bestätigt werden, wird offiziell von bedauerlichen Einzelfällen gesprochen. Auf der Konferenz wurde auch diskutiert, ob es sinnvoll ist, mit antirassistischen Schulungsprogrammen die Sensibilität bei der Institution Polizei für die Gefahren der ethnischen Kontrolle zu erhöhen. In Großbritannien gibt es bereits solche Programme.

Sebastian Friedrich von der Berliner Initiative gegen rassistische Polizeigewalt schließt für seine Organisation eine solche Arbeit aus: Als Gründe führt er an, dass KOP-Berlin parteiisch auf Seiten der von Rassismus Betroffenen stehe und zum anderen Rassismus bei der Polizei als institutionelles Problem betrachtet wird, dem nicht mit einigen Kursen beizukommen sei.

Allerdings werde bei KOP-Berlin durchaus darüber diskutiert, wie auch mit konkreten Forderungen an die Polizeiarbeit die Situation der von Rassismus Betroffenen verbessert werden kann. Dabei setzt KOP allerdings auf eine stärkere Beschäftigung mit der Thematik in außerinstitutionellen Zusammenhängen und eine größere Öffentlichkeitsarbeit. Dieses Konzept wird mittlerweile auch von anderen Städten übernommen. So hat sich vor kurzem nach dem Berliner Vorbild in Dresden eine Initiative gegen rassistische Polizeigewalt gegründet.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/152985
Peter Nowak

Arm, aber durchleuchtet

Sozialhilfeempfänger im Schweizer Kanton Bern müssen einer Offenlegung ihrer persönlichen Verhältnisse zustimmen.

Die Schweiz ist berühmt für ihr Bankgeheimnis, und viele Schweizer wollen auch, dass das so bleibt. Für alle Bürger gilt es jedoch nicht. Das stellte kürzlich das Schweizer Bundesgericht in einem Urteil klar, als es die Verfassungsmäßigkeit des zu Beginn dieses Jahres in Kraft getretenen Sozialhilfegesetzes des Kantons Bern überprüfte. Geklagt hatten zahlreiche Organisationen, darunter die Demokratischen Juristinnen und Juristen Bern (DJB), die Partei der Arbeit, die Alternative Linke und das Komitee der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen Kabba.

Ihrer Ansicht nach verstößt das Gesetz nicht nur gegen die Verfassungsgrundsätze des Datenschutzes, sondern verletzt außerdem das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Hilfe in Notlagen. Ihr Hauptkritikpunkt ist der Zwang zur Datenabgabe, die im Berner Sozialhilfegesetz festgeschrieben ist. So müssen Bewerber um Sozialhilfe bereits beim Einreichen ihres Antrags eine Vollmacht ausstellen, die den Sozialbehörden Einblick in sensible persönliche Informationen wie Krankenakten oder Bankdaten ermöglichen soll.

Kritiker sprechen von einem Zwang zur Denunziation und von »Spitzeldiensten gegen Hilfsbedürftige«. Schließlich werde nicht nur der Informationsaustausch zwischen Behörden erleichtert. Das Gesetz verpflichtet auch Vermieter, Firmen, Familienangehörige oder WG-Mitbewohner »zur Erteilung mündlicher und schriftlicher Auskünfte, die für den Vollzug erforderlich sind«. Die Behörden können solche Informationen ohne Zustimmung und Wissen der betroffenen Person einholen.

»Die hysterisch geführte Sozialhilfemissbrauchsdebatte führt im Kanton Bern zur systematischen Entrechtung Hilfsbedürftiger«, schreibt die Schweizer Wochenzeitung. Doch die Mehrheit der Richter beim Schweizer Bundesgericht erklärte den Passus für verfassungsgemäß. In der Anfang Oktober veröffentlichten schriftlichen Urteilsbegründung wird allerdings festgestellt, dass die Vollmacht nur als letztes Mittel zur Anwendung kommen solle. Überdies dürfe bei einer Weigerung, sie zu unterzeichnen, die Sozialhilfe nicht unter das Existenzminimum gekürzt werden. Für den Gerichtspräsidenten Rudolf Ursprung sind die Zweifel daran, dass die buchstabengetreue Lesart des Gesetzes verfassungskonform ist, nicht beseitigt. Die Sozialdienste hätten aber kein Interesse an einer verfassungswidrigen Auslegung, begründete das Mitglied der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP) seine Zustimmung zum Gesetz.

Die SVP sorgt mit Kampagnen gegen Migranten und Muslime, aber auch gegen Sozialhilfeempfänger immer wieder für Schlagzeilen. Die Kläger äußerten sich trotz ihrer Niederlage in einer Erklärung zufrieden, weil das Gericht erkannt habe, dass die Vollmacht aus politischen Gründen in das Gesetz geschrieben worden sei. Außerdem hoffen sie, dass mit dem Urteil einer extensiven Auslegung der Vollmacht Grenzen gesetzt worden sind.

Besonders zufrieden zeigt sich allerdings neben der SVP die wirtschaftsliberale FDP. Beide Parteien haben in Bern die Regelung gegen den Widerstand von Sozialdemokraten und Grünen im Parlament durchgesetzt. Nachdem die Verschärfung im Kanton Bern vor Gericht Bestand hatte, gibt es auch in anderen Kantonen Überlegungen, ähnliche Regelungen einzuführen. Die von manchen Demokratietheoretikern auch hierzulande gelobten Volksabstimmungen sind kaum ein Hindernis, weil Initiativen, die die Interessen von Erwerbslosen und Sozialhilfeempfängern stärken wollen, dabei in der Regel keine Mehrheit bekommen.

Diese Erfahrung mussten auch die Gegner des Berner Sozialhilfegesetzes machen. Unter dem Motto »Datenschutz für alle« hatten verschiedene soziale Initiativen und Erwerbslosengruppen im vorigen Jahr Unterschriften für ein Referendum gesammelt. Dies wurde abgebrochen, weil nur knapp die Hälfte der erforderlichen Unterschriften zusammengekommen war. Erst dann versuchte man, den Schnüffelparagraphen auf juristischem Weg zu stoppen.
http://jungle-world.com/artikel/2012/41/46380.html
Peter Nowak

Tod im Jobcenter nicht verharmlosen

Angriff auf Mitarbeiterin in Neuss sorgt für Debatten

Der gewaltsame Tod einer Jobcentermitarbeiterin aus Neuss Ende September sorgt weiter für heftige Diskussionen unter aktiven Erwerbslosen. Die Bundesagentur für Arbeit kündigte in einem Brief an, verharmlosende oder beleidigende Beiträge juristisch verfolgen zu wollen.

Ein Erwerbsloser griff am 26. September eine Jobcentermitarbeiterin aus Neuss mit einem Messer an und verletzte sie tödlich. Zuvor hatte er bei einem anderen Mitarbeiter eine Vereinbarung unterschreiben, die auch seinen Datenschutz tangierte. Der Mann wollte nach einer Bedenkzeit seine Unterschrift unter die Einwilligung zurückziehen, traf aber den zuständigen Mitarbeiter nicht mehr an. Der tödliche Angriff wurde von den Erwerbslosen verurteilt, aber in Foren wurde auch über die Zustände in den Jobcentern diskutiert, die solche Bluttaten erst möglich machen. Diese Diskussionen ebenso wie die Presseberichte zum Thema scheinen beim zuständigen Jobcenter auf Unmut zu stoßen. Das Erwerbslosenforum Deutschland hat eine Mail bekannt gemacht, die von der Vorsitzenden der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen der Bundesanstalt für Arbeit (BA) Christiane Schönefeld an alle Mitarbeiter der Arbeitsagenturen und Jobcenter in NRW geschickt wurde
Darin wird heftige Medienschelte geübt: „Von einem Teil der Medien wird der Tod unserer Kollegin in der Berichterstattung zum Anlass genommen, Missstände und gesellschaftliche Verwerfungen anzuprangern. Zudem wird dort angekündigt, das systematisch Internetforen und Blogs auf mögliche strafbare Äußerungen im Zusammenhang mit dem Tod der Mitarbeiterin kontrolliert werden. Schönefeld moniert in der Mail „verharmlosende, verfälschende und sogar menschenverachtende Beiträgen“ und kündigt juristische Konsequenzen an „Wir werten diese Beiträge bundesweit auf justiziable Äußerungen aus und die Verfasser werden gerichtlich belangt“.
Werner Marquis, der bei der Regionaldirektion der Bundesanstalt für Arbeit für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, bestätigte gegenüber nd die Echtheit des Schreibens.

Martin Behrsing vom Erwerbslosenforum kann die Wut und die Trauer über die Wut und Trauer der Jobcenter- Mitarbeiter nachvollziehen. „ Mit Messern oder anderen gefährlichen Gegenständen geht man nicht in eine Behörde“, lehnt der jedes Verständnis für die Bluttat ab. Im Erwerbslosenforum seien Beiträge, in denen Verständnis für die Bluttat gezeigt wurde und das Opfer zum Täter gemacht wurde, konsequent gelöscht worden, betont er. Auch Postings aus dem rechten Umfeld, in dem die nichtdeutsche Herkunft des Täters zum Anlass für offen rassistische Hetze genutzt wurde, seien sofort gelöscht worden. „Das Erwerbslosen Forum Deutschland gehört eher dem demokratischen linken Spektrum an. Beiträge, die in eine völkische, nationalistische, sexistische und rassistische Richtung, werden konsequent von uns gelöscht und entsprechende Internet-User ausgeschlossen“, stellte Behrsing gegenüber nd die Grundsätze des Forums klar.
Doch er zeigt sich auch die Diktion von Schönefelds Schreiben befremdet. „Es bestehen jetzt berechtigte Sorgen, dass Jobcenter nur all zu leicht zu Hochsicherheitstrakten umgebaut werden, die dann ganz bestimmt kein Ort der Kommunikation sein können.“ Doch gerade diese Kooperation sei das beste Mittel um Bluttaten wie in Neuss zu verhindern.
„Wir wünschen uns dass es ein Nachvollziehen für viele betroffene Erwerbslose gibt, die durch nicht zu rechtfertigende Sanktionen bzw. Zahlungseinstellungen kaum noch Verständnis für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufbringen können“, betont Behrsing.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/801008.tod-im-jobcenter-nicht-verharmlosen.htm

Peter Nowak
https://www.neues-deutschland.de/artikel/801008.tod-im-jobcenter-nicht-verharmlosen.htm
Peter Nowak

Uni ohne Arbeiterkinder?

Andreas Kemper vertritt studierende »Arbeiterkinder« an der Uni Münster

nd: Sie gehören zu den Initiatoren des deutschlandweit bislang einmaligen Referats »Arbeiterkinder« an der Universität Münster. Der AStA der Uni wollte das Referat nach rund zehn Jahren Existenz jetzt rechtlich und sozial absichern. Ein entsprechender Beschluss des Studentenparlaments wurde von der Unileitung aber gekippt. Wie erklären Sie sich diese Ablehnung?

Dass sich das Rektorat kaum Gedanken über die studierenden Arbeiterkinder macht hat historische Gründe. So gab es bis in die späten 1960er Jahre hinein an der Uni-Klinik Münster Dekane, die in der Nazizeit an Zwangssterilisierungen von Arbeiterkindern beteiligt waren. Der bekannteste Fall ist der Doktorvater von Mengele, Otmar von Verschuer, der bereits als Freikorps-Adjutant nach dem Ersten Weltkrieg an standrechtlichen Erschießungen von aufständischen Arbeitern beteiligt war.

Gibt es auch aktuelle Beispiele für die Ignoranz gegenüber Arbeiterkindern?

A.K.: Ja. Die Uni Münster setzt eine Kann-Bestimmung nicht um, die es Kindern aus der Arbeiterschicht erleichtert, ein Deutschland-Stipendium zu erhalten, dass eingeführt wurde, um genau diese Studierenden zu unterstützen. Ein anderer Fall: Vor zehn Jahren beauftragte das Rektorat das HIS, um eine Erhebung über die Bedürfnisse und Probleme der Studierenden der Uni Münster durchzuführen. Bei der Auswertung wurde allerdings darauf verzichtet, die soziale Herkunft auszuwerten.

Welche Schwerpunkte hat das Referat Arbeiterkinder in seiner Arbeit?

A.K.: Das Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende (Fikus), so die offizielle Bezeichnung, soll die Situation von Arbeiterkindern im Bildungssystem und explizit an Hochschulen verbessern. Dies wird in erster Linie als bildungspolitischer Auftrag verstanden. Es findet zwar auch Beratung und direkte Unterstützung statt, aber in erster Linie geht es darum, die Ursachen von Bildungsbarrieren zu ermitteln und zu bekämpfen. Daher haben wir in den letzten zehn Jahren über einhundert Veranstaltungen mit Bildungsforschern und fünf Tagungen mitorganisiert.

Also nicht nur Service sondern auch Politik?

A.K. : Das Referat ist kein Service-Referat. Darin unterscheidet es sich fundamental von Arbeiterkind.de, die explizit unpolitisch sind und nur helfen wollen. Zur Arbeit der Fikus-Referates gehörte die Zusammenarbeit mit Leuten, die gegen das Bibliotheken-Sterben vorgingen, vor allem ging es darum, Stadtteilbibliotheken in ressourcenarmen Stadtteilen zu retten. Wir waren engagiert gegen Studiengebühren und gegen Latein-Voraussetzungen. Und wir sehen unsere Aufgabe darin, Arbeiterkinder im Bildungsbereich zu organisieren und zu vernetzen. Zu dieser Vernetzung gehört, andere Arbeiterkinderzusammenschlüsse zu unterstützen, außerdem arbeiten wir mit entsprechenden Organisation in Wien und den Vereinigten Staaten zusammen. Nicht zuletzt geht es auch um inhaltliche Auseinandersetzungen zu dem Thema. Und uns ist wichtig, dass soziale Herkunft als Diskriminierungsgrund anerkannt wird.

Wie soll es nach der Ablehnung weitergehen?
A.K. Am 16.10. wird auf einer Vollversammlung der studierenden Arbeiterkinder das weitere Vorgehen beschlossen. Das Rektorat musste zudem bereits dem NRW-Bildungsministerium und der Gleichstellungsbeauftragten erläutern, warum die Satzungsänderung abgelehnt wurde.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/801000.uni-ohne-arbeiterkinder.htm

Interview: Peter Nowak

Recht auf die Stadt

Zu Semesteranfang berichten viele Medien wieder über Studierende, die in Zeltstädten, Turnhallen oder in Hörsälen übernachten müssen, weil sie keine Wohnung finden. Politisch bleiben solche Berichte folgenlos. Dagegen versuchen Studierendenverbände deutlich zu machen, dass die studentische Wohnungsnot eine politische und soziale Dimension hat. Ein Grund sind die sinkenden Zuschüsse für Wohnraumplätze, wie der

Die studentische Wohnraumnot ist allerdings auch eine Konsequenz der bundesweiten Mietsteigerungen, die es Menschen mit geringen Einkommen vor allem in vielen Großstädten immer schwerer machen, günstigen Wohnraum zu finden. Dagegen haben sich in vielen Städten soziale Protestbündnisse gegründet, die ein Recht auf Stadt einfordern. Diese Bündnisse können studentische Unterstützung gebrauchen. So würde auch verhindert, dass die Betroffenengruppen sich auf dem Wohnungsmarkt gegeneinander ausspielen lassen. Dem in manchen Presseberichten zu lesenden Lamento, der akademische Nachwuchs habe eine Übernachtung in Notunterkünften nicht verdient, muss gekontert werden, dass alle Menschen ein Recht auf eine Unterkunft haben.

Mit einer Petition gegen die Anwendung des Mietspiegels hat der AStA der Goethe-Universität in Frankfurt am Main die studentische Wohnungsnot jetzt in einen größeren Kontext gestellt. Doch Petitionen und Erklärungen reichen nicht. Warum werden nicht Listen von leerstehenden Häusern veröffentlicht, die Wohnungslose mit oder ohne Studentenausweis nutzen könnten? Dann würde die Wohnungsnot in den politischen Zusammenhang gestellt, in den sie gehört.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/801064.recht-auf-die-stadt.html
Peter Nowak

Sind Arbeiterkinder an der Hochschule nicht förderungswürdig?

Rektorat der Universität Münster lehnt eine soziale und rechtliche Besserstellung eines Referats ab

Vor nun mehr 12 Jahren wurde am Asta der Universität Münster ein Referat gegründet, das sich in Deutschland einmalig der Förderung von Arbeiterkindern an der Hochschule widmete. Vor einigen Wochen hatte die Studierendenvertretung eine rechtliche und finanzielle Aufwertung zum autonomen Referat beschlossen. Es hätte bedeutet, dass das Referat nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Studierendenparlament wieder abgeschafft werden kann.

Doch dagegen legte das Rektorat der Münsteraner Universität, die als Rechtsaufsicht dem Beschluss zustimmen muss, ihr Veto ein. Nach Ansicht des Rektorats ist nicht hinreichend bestimmbar, „wer als ‚finanziell und kulturell benachteiligter‘ Studierender anzusehen ist“, lautete die Begründung.

Kein Interesse an der Förderung von Arbeiterkindern?

Der Soziologe Andreas Kemper, der das Referat vor 12 Jahren mitbegründet hat und sich auch theoretisch mit dem Klassismus beschäftigt, wie die Diskriminierung aufgrund der Klassenlage genannt wird, sieht in der Ablehnung ein Desinteresse der Unileitung an den Arbeiterkindern. Im Gespräch mit Telepolis nennt er dafür historische aber auch aktuelle Beispiele. So habe es bis in die späten 1960er Jahre hinein an der Uni-Klinik Münster Dekane gegeben, die in der Nazizeit an Zwangssterilisierungen von Arbeiterkindern beteiligt waren. Der bekannteste Fall sei der Doktorvater von Mengele, Otmar von Verschuer, gewesen, der bereits als Freikorps-Adjutant nach dem Ersten Weltkrieg an standrechtlichen Erschießungen von aufständischen Arbeitern beteiligt war.

Auch aktuell würden schon vorhandene Möglichkeiten zur Förderung von Arbeiterkindern an der Hochschule nicht wahrgenommen. So habe die Uni Münster eine Kann-Bestimmung nicht umgesetzt, die es Kindern aus der Arbeiterschicht erleichtert, ein Deutschland-Stipendium zu erhalten, das eingeführt wurde, um genau diese Studierenden zu unterstützen. Ein weiterer Fall für eine klassische Blindheit der Unileitung führt Kemper an: „Vor zehn Jahren beauftragte das Rektorat das HochschuIinformationssystem , um eine Erhebung über die Bedürfnisse und Probleme der Studierenden der Uni Münster durchzuführen. Bei der Auswertung wurde allerdings darauf verzichtet, die soziale Herkunft auszuwerten.“

Kein Service-Referat

Kemper betont die politische Dimension hinter den von Studierenden durchgesetzten Referats. „Es ist kein Service-Referat und unterscheidet sich damit fundamental von dem Projekt Arbeiterkind, das explizit unpolitisch ist und nur helfen will.“ Das Münsteraner Referat engagierte sich gegen unter Anderem gegen Studiengebühren und gegen Latein-Voraussetzungen. „Wir sehen unsere Aufgabe darin, Arbeiterkinder im Bildungsbereich zu organisieren und zu vernetzen. Zu dieser Vernetzung gehört, andere Arbeiterkinderzusammenschlüsse zu unterstützen, außerdem arbeiten wir mit entsprechenden Organisation in Wien und den Vereinigten Staaten zusammen. Nicht zuletzt geht es auch um inhaltliche Auseinandersetzungen zu dem Thema. Und uns ist wichtig, dass soziale Herkunft als Diskriminierungsgrund anerkannt wird“, betonte Kemper.

Dieses Ziel könnte durch die ablehnende Haltung des Rektorats eher gefördert werden, so seine Hoffnung. Das Rektorat musste bereits dem NRW-Bildungsministerium und der Gleichstellungsbeauftragten der Uni Münster erläutern, warum die Satzungsänderung abgelehnt wurde. Zudem soll auf einer Vollversammlung der studierenden Arbeiterkinder am 16.10. das weitere Vorgehen besprochen werden. Derweil diskutierten aktive Studierende, ob der Trend zur Eliteuniversität und die zunehmende Spaltung der Gesellschaft nicht die andere Medaille der Ablehnung einer Förderung von Arbeiterkindern an der Hochschule ist.

http://www.heise.de/tp/blogs/10/152956
Peter Nowak

Proteste in Griechenland – Ruhe in Deutschland

Merkel zeigte sich solidarisch mit griechischer Regierung, aber wo blieb die Solidarität der sozialen Bewegungen mit der griechischen Bevölkerung?

Tausende gehen auf die Straße, ganze Industriezweige sind in den Streik getreten, um heute gegen die Sparpolitik von Angela Merkel zu protestieren. Diese Nachrichten stammen aus Griechenland, wo die Kanzlerin eine eintägige Stippvisite unter Freunden angetreten ist. Weder Gewerkschaften, soziale Bewegungen oder die stärkste Oppositionspartei, die linkssozialdemokratische Syriza, standen auf ihrem Besuchsprogramm. Daher ist auch die Vorstellung absurd, Merkel sei nach Griechenland gereist, um zu erfahren, wie große Teile der Bevölkerung unter dem Krisenprogramm leiden. Vielmehr diente ihre Kurzvisite der Rückenstärkung des konservativen Ministerpräsidenten, dessen Dreiparteienkoalition sich schwertut, die von der EU immer vehementer eingeforderte Umsetzung des Spardiktats durchzusetzen. Für viele Menschen in Griechenland gehört Merkel zu den wichtigsten Protagonisten des Spardiktats. Daher galt in der Zeit ihres Besuches in Athen Sicherheitsstufe 1.

Doch wie reagierten die sozialen Bewegungen in Deutschland, die in den letzten Monaten immer betonten, sie seien solidarisch mit der griechischen Bevölkerung? Selbst die üblichen Solidaritätskundgebungen scheinen ausgefallen zu sein. Lediglich das globalisierungskritische Netzwerk zückte seine stärkste Waffe, die Presseerklärung, und erklärt sich solidarisch mit den „Demonstrierenden in Griechenland“.

Vom Sommerloch in den Winterschlaf?

„Nein zum Kürzungsdiktat der Troika: Besetzen, Blockieren, Demonstrieren“, heißt es auch auf der Homepage des bundesweiten Krisenprotestbündnisses. Wer darin eine zumindest verbale Unterstützung der griechischen Demonstranten erkennen will, irrt. Denn es handelt es sich um den Aufruf zu den Blockuppy-Aktionstagen vom Mai dieses Jahres. Seitdem scheint die Homepage nicht mehr aktualisiert worden zu sein.

Auch das M31-Bündnis, das am 31. März dieses Jahres mit einem europaweiten antikapitalistischen Aktionstag auf sich aufmerksam machte, scheint sich vom Sommerloch in den Winterschlaf begeben zu haben. Zumindest ist auf der Homepage die Zeit am 31. März stehen geblieben. Wer den Terminkalender für den September anklickt, findet nur leere Felder. Dabei hatte der Aktionstag, der von den Protesten gegen die Privatisierung eines Wasserwerks in Thessaloniki beeinflusst war, den Anspruch, der Beginn eines europaweiten Protestzyklus auf antikapitalistischer Grundlage zu sein.

Selbst von den Griechenland-Solidaritätskomitees, die vor allem von Gruppen aus dem trotzkistischen Spektrum gegründet wurden, hört man dieser Tage nichts . Da drängt sich der Verdacht auf, dass sie vor allem gegründet wurden, um bei einem Syriza-Wahlsieg Präsenz zu zeigen. Da es dazu nicht gekommen ist, halten sich die Aktivitäten in engen Grenzen.

Vielleicht wird diese Inaktivität der gesamten Protestbewegung in Deutschland bald Thema der Blockuppy-Tage im Zelt sein, zu dem für übernächstes Wochenende nach Frankfurt geladen wird. Dort soll ein Teil der Vorträge im Zelt nachgeholt werden, die im Mai wegen des Verbots nicht durchgeführt werden konnte. Auf einen Bewegungs- und Aktionsratschlag soll auch über weitere Aktionen diskutiert werden. Eine Art Blockuppy 2013 ist in der Diskussion.

Dabei müsste einmal die Frage diskutiert werden, warum solche Proteste nur als kräftezehrendes Großevent möglich sind, nach dem immer große Pausen folgen, in denen sich die Aktivisten psychisch und finanziell regenerieren müssen. Gerade der fehlende Alltagswiderstand ist der Grund, warum der Griechenlandbesuch Merkels hierzulande ohne Resonanz blieb. Deutschland als fast protestfreie Zone, dieses Szenario haben bereits vor 20 Jahren auf Konferenzen Aktivisten wie Thomas Ebermann heraufziehen sehen. Sie begründeten das Szenario mit der politisch und ökonomisch gestärkten Rolle Deutschlands, in dem die Protestbewegung eine ähnlich marginale Rolle wie in den USA spielen würde. Dieser Vergleich würde auch erklären, warum zumindest in Griechenland, aber sicher auch in anderen Ländern der europäischen Peripherie ein Besuch deutscher Spitzenpolitiker eine ähnliche Protesthaltung hervorruft wie in Lateinamerika der Besuch des US-Präsidenten.

Einige Aktivisten aus Deutschland haben sich doch an Protesten beteiligt. So heißt es auf der Attac-Homepage: „Eine soziale Bewältigung der Krise ist nur durch massiven Widerstand gegen die Kürzungsdiktate, die Verarmungspolitik und den Privatisierungswahn durchsetzbar“, ergänzte Tine Steininger, die am Montag für Attac Deutschland nach Athen gereist ist, um sich den Demonstrierenden anzuschließen. Zudem hat Attac einen Weblog eingerichtet, der aktuell über die aktuellen Proteste in Griechenland informiert.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/152951
Peter Nowak

Ist Kritik an Situation in Jobcenter gleich ein Fall für die Justiz?

Die Mail einer Regionaldirektorin der BA wirft Fragen auf

Der gewaltsame Tod einer Jobcentermitarbeiterin aus Neuss vor einer Woche sorgt weiter für heftige Diskussionen unter aktiven Erwerbslosen. Ein Erwerbsloser hatte die Mitarbeitern mit einem Messer angegriffen und tödlich verletzt, nachdem er bei einem anderen Mitarbeiter gegen seinen Willen eine Vereinbarung unterschreiben musste, die auch seinen Datenschutz tangierte. Der Mann wollte nach einer Bedenkzeit seine Unterschrift unter die Einwilligung zurückziehen, traf aber den zuständigen Mitarbeiter nicht mehr an.

Der tödliche Angriff wurde von den Erwerbslosen verurteilt, aber in Foren wurde auch über die Zustände in den Jobcentern diskutiert, die solche Bluttaten erst möglich machen. Diese Diskussionen ebenso wie die Presseberichte zum Thema scheinen beim zuständigen Jobcenter auf Unmut zu stoßen. Das Erwerbslosenforum Deutschland hat nun eine Mail bekannt gemacht, die von der Vorsitzenden der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen der Bundesanstalt für Arbeit, Christiane Schönefeld, an alle Mitarbeiter der Arbeitsagenturen und Jobcenter in NRW geschickt wurde. Gleich zu Beginn wird Medienschelte geübt: „Der traurige Anlass hat bundesweit Bedeutung. Von einem Teil der Medien wird der Tod unserer Kollegin in der Berichterstattung zum Anlass genommen, Missstände und gesellschaftliche Verwerfungen anzuprangern.“

Zudem scheint die BA systematisch Internetforen und Blogs auf mögliche strafbare Äußerungen im Zusammenhang mit dem Tod der Mitarbeiterinnen zu kontrollieren. Schönefeld schreibt in der Mail von „verharmlosenden, verfälschenden und sogar menschenverachtenden Beiträgen“ und kündigt an: „Wir werten diese Beiträge bundesweit auf justiziable Äußerungen aus und die Verfasser werden gerichtlich belangt.“

Werner Marquis, der bei der Regionaldirektion der Bundesanstalt für Arbeit für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, bestätigte gegenüber Telepolis die Echtheit des Schreibens. Die vom Erwerbslosenforum veröffentlichte Version sei allerdings nur ein Ausschnitt des Schreibens, das Schönefeld bereits am 1. Oktober verfasste. Mit der Veröffentlichung habe man keine Probleme, weil die BA davon ausgehe, dass von ihr verschickte Mails gestreut würden, betonte Marquis. Zur Art der Kontrolle der Internetbeiträge konnte er sich nicht äußern. Es werde aber alles dokumentiert, und es seien auch erste Anzeigen in Fällen gestellt worden, in denen die Äußerungen strafrechtlich relevant waren.

Kooperation angemahnt

Im Erwerbslosenforum seien Beiträge, in denen Verständnis für die Bluttat gezeigt wurde und das Opfer zum Täter gemacht wurde, konsequent gelöscht worden, betont Martin Behrsing gegenüber Telepolis. Auch Postings aus dem rechten Umfeld, in dem die nichtdeutsche Herkunft des Täters zum Anlass für offen rassistische Hetze genutzt wurde, seien ebenfalls sofort entfernt worden. Doch auch über die Diktion von Schönefelds Schreiben zeigt er sich befremdet. Schließlich könnten auch Berichte von Betroffenen, die über ihre Erfahrungen am Jobcenter berichten, in die Nähe von Straftaten gerückt werden. Schließlich hat das ELO bereits Erfahrungen mit juristischen Ermittlungen, nachdem Erwerbslose eine Entführung in einem Aachener Jobcenter diskutiert und kommentiert hatten.

„Wir wünschen uns, dass es ein Nachvollziehen für viele betroffene Erwerbslose gibt, die durch nicht zu rechtfertigende Sanktionen bzw. Zahlungseinstellungen kaum noch Verständnis für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufbringen können“, betont Behrsing und sprach sich für mehr Kooperation zwischen Erwerbslosen und Jobcentermitarbeitern aus .

Vor allem die gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter der Jobcenter müssten ein Interesse daran haben, dass eine Diskussion über die Zustände und den Druck in den Jobcentern beginnt. Schließlich klagen auch Jobcenter-Mitarbeiter in persönlichen Gesprächen, dass sie selber Druck von ihren Vorgesetzen ausgesetzt sind, den sie wiederum an die Erwerbslosen weitergeben sollen oder müssen. In Frankreich hatte sich vor einigen Jahren die Mitarbeiterin eines Arbeitsamtes persönlich verpflichtet, keinen Druck auf Erwerbslose auszuüben. Erwerbslose haben in Deutschland unter dem Motto „Fabienne gesucht“ Unterstützung von Jobcenter-Mitarbeitern angemahnt. Das Schreiben von Schönfeld vermittelt hingegen ein ganz anderes Signal.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/152945
Peter Nowak