Flüchtlingsrechte statt Titten

Flüchtlinge, die seit dem 24. Oktober am Pariser Platz in Berlin den winterlichen Witterungsverhältnissen schutzlos ausliefert sind, sind in Hungerstreik getreten

„Menschenrechte statt Titten“ stand auf den T-Shirts, mit dem sich weibliche Mitglieder der Berliner Piratenpartei in der Nähe des Brandenburger Tors in Berlin-Mitte fotografieren ließen.

Die Aktion sollte, so die Erklärung der Initiatorinnen, die Aufmerksamkeit auf den Hungerstreik von Flüchtlingen lenken, die seit dem 24. Oktober am Pariser Platz den winterlichen Witterungsverhältnissen schutzlos ausliefert sind. Sie fordern mit ihrer Nahrungsverweigerung die Abschaffung von Heimen und Residenzpflicht, jenen gesetzlichen Instrumenten, mit denen in Deutschland die Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge in Deutschland massiv eingeschränkt wird. Viele haben diese Rechte in einem Akt des zivilen Ungehorsams verletzt, indem sie in einem mehrwöchigen Marsch von Würzburg nach Berlin die Rechte von Flüchtlingen wieder auf die Tagesordnung setzen.

Der seit Jahren größte Flüchtlingsaufbruch in Deutschland hat seine Ursache in der Neuzusammensetzung der Migranten. In der letzten Zeit kamen zahlreiche Iraner nach Deutschland, die in ihrem Land gegen das islamistische Regime kämpften, verfolgt wurden und das Land verlassen mussten. Sie sind nicht bereit, in Deutschland als Menschen zweiter Klasse zu leben und fordern auch hier ihre Rechte ein. Unterstützt werden sie dabei von schon länger existierenden Flüchtlingsstrukturen, wie die Initiative The Voice.

Sorgte der Flüchtlingsmarsch noch für ein Medieninteresse, so hat die Berichterstattung schnell nachgelassen, nachdem sich die Menschen in einem von den Behörden tolerierten Zeltdorf in Berlin-Kreuzberg niedergelassen haben. Die Flüchtlinge wollen aber nicht überwintern, sondern ihre Rechte einfordern. Daher hat sich eine 20-köpfige Gruppe mit dem Hungerstreik in der Nähe des Brandenburger Tors zu einer offensiven Strategie entschlossen.

Keine Zelte – keine Schlafsäcke – keine Isomatten

Dort waren sie sofort mit den Tücken des deutschen Versammlungsrecht und Polizisten, die es penibel durchsetzten, konfrontiert. Da die Aktion lediglich als Mahnwache angemeldet werden konnte, waren trotz der winterlichen Temperaturen Zelte, Schlafsäcke und Isomatten, ja selbst Pappe als notdürftiger Schutz vor der Winterkälte verboten. Immer wieder kontrollierten Polizisten mit Taschenlampen, ob nicht doch die inkriminierten Gegenstände eingeschmuggelt wurden. Zu allen Tageszeiten, auch mitten in der Nacht wurden den Flüchtlingen Schlafsäcke und Kartons entrissen. Wenn sich die aus dem Schlaf geschreckten Menschen dagegen wehrten, wurden sie festgenommen. So war es nicht verwunderlich, dass es schon wenige Tage nach dem Hungerstreik bei einem Beteiligten zu einem Kollaps gekommen ist.

Die Aussetzung der durch den Hungerstreik schon geschwächten Menschen den Unbilden des Winterwetter fand mitten im touristischen Zentrum Berlins statt und führte zu keiner größeren Reaktion der immer wieder beschworenen Zivilgesellschaft. Selbst an der Teilnahme an der Eröffnung des Mahnmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti in der Nähe des Brandenburger Tor wurden die hungerstreikenden Flüchtlinge gehindert. Während die Politiker ein Denkmal lobten, das sie größtenteils lange verhindern wollten, sollte wohl nicht daran erinnert werden, dass populistische Kampagnen und Einreiseverschärfungen gegen osteuropäische Roma geplant sind und nur wenige Meter entfernt eine Gruppe von Menschen ihrer Rechte beraubt werden.

„Die Unterdrückung und Missachtung der Rechte von einzelnen Gruppen ist nur dann möglich, wenn die Mehrheitsgesellschaft ihre Augen verschließt“, heißt es in einer Erklärung der Flüchtlinge.

PR-Aktion der Piraten?

Das ZDF hat die Diskussion über die Frage, ob der Protest von 20 Menschen vor dem Brandenburger Tor berichtenswert ist, öffentlich gemacht und dabei auch verdeutlicht, dass auch bei öffentlich rechtlichen Sendern kritische Berichterstattung immer mehr zum Fremdwort wird. „Sind Journalisten dazu da, auf Missstände aufmerksam zu machen?“ lautet eine Frage, die dann verneint wird.

Der Unterschied zwischen einer engagierten kritischen Berichterstattung und einer blinden Solidarisierung mit Protestbewegungen scheint nicht bekannt zu sein. In diesem Sinne war die Aktion „Menschenrechte statt Titten“ ein Erfolg, wie die Medienresonanz zeigte. Allerdings bleibt doch auch die Frage, ob es sich auch um eine PR-Aktion der in die Krise geratenen Partei handelte. Schließlich stand natürlich auch hier die PR-Aktion der Piratinnen im Vordergrund und die hungerstreikenden Flüchtlinge blieben oft nur Staffage.

Die Frage, wie der Kampf der Flüchtlinge angesichts der widrigen Bedingungen weitergehen soll, bleibt weiter offen. Wahrscheinlich wäre es dafür erforderlich, dass sich zivilgesellschaftliche Initiativen eigenständisch in die Auseinandersetzungen einschalten wie vor 21 Jahren. Als damals in der Folge der rassistischen Angriffe auf Unterkünfte für nichtdeutsche Vertragsarbeiter und Flüchtlinge in zahlreichen meist ostdeutschen Städten zahlreiche Flüchtlinge in Berlin Schutz suchten, besetzten sie gemeinsam mit antirassistischen und zivilgesellschaftlichen Gruppen einige Räume an der Mathematikfakultät der Technischen Universität Berlin, wo sie nicht den unmittelbaren Witterungsbedingungen ausgeliefert waren und neben der Unterkunft für einige Wochen auch einen politischen Gegenpool bilden konnten.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153088
Peter Nowak

Anti-AKW-Bewegung sieht Mission nicht erfüllt

ATOM AktivistInnen wollen weiter protestieren – gegen deutsche Beteiligungen am Nukleargeschäft

BERLIN taz Die bundesweite Antiatomkraftbewegung will künftig ihren Blick auf Organisationen, Firmen und Institutionen richten, die unabhängig von deutschen Ausstiegsbeschlüssen weiterhin auf Atomkraft setzen. Das ist das Ergebnis der Herbstkonferenz am Wochenende, auf der sich jährlich AktivistInnen aus ganz Deutschland austauschen. Außerdem soll die Kooperation mit ausländischen Gruppen verstärkt werden.

Die Naturfreunde Deutschland nannten Euratom als Beispiel, die Europäische Gemeinschaft zur Förderung der Atomenergie. „Deutschland ist dort Mitglied und finanziert dadurch weiterhin die Atomforschung, den Weiterbetrieb und unter Umständen auch den Neubau von Atomkraftwerken in der EU“, sagte Uwe Hiksch, Mitglied im Bundesvorstand von Naturfreunde. Regine Richter von der Gruppe Urgewald kritisierte, dass die deutsche Industrie und Politik weiterhin den Bau von AKWs unterstützen. Als Beispiel nannte sie eine mögliche Hermesbürgschaft für das Atomkraftwerk Angra 3 in Brasilien oder Kredite der Hypovereinsbank für einen Zulieferer eines AKWs im russischen Kaliningrad – was die Bank bis heute weder dementiert noch bestätigt hat. Der Fall war unter anderem durch einen Protestbrief russischer UmweltschützerInnen an den Vorstand der Hypovereinsbank in Deutschland zum Thema geworden. In Zukunft sollen solche Aktionen länderübergreifend koordiniert werden.

AKW-Pläne im Osten

Einfach scheint das aber nicht zu sein. Zwar berichteten Gruppen aus Russland und Weißrussland, dass der Widerstand gegen Atomkraft in ihren Ländern zunehme – Russland baut mehrere neue Atomkraftwerke, in Weißrussland finanziert Moskau den geplanten Bau eines AKWs. Auch Polen will in die Kernkraft einsteigen, von dort waren drei Anti-AKW-Initiativen angereist. Sie wollen im nächsten Jahr stärker mit den Deutschen zusammenarbeiten. Doch ein polnisches Wendland ist nicht das Ziel: Die polnischen AKW-GegnerInnen fürchten, dass eine zu starke Beteiligung deutscher UmweltschützerInnen den polnischen NationalistInnen mit ihren ständigen Warnungen vor ausländischen Einmischungen in die Hände spielen könnte.
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=wu&dig
=2012%2F10%2F30%2Fa0075&cHash=d678e7a16b242d733c936f1a1278b7a3
Peter Nowak

Film zu »Occupy«

Vor einen Jahr schien die Occupy-Bewegung ständig zu wachsen. In vielen Ländern hatten Menschen zentrale Plätze besetzt, um gegen die Wirtschaft- und Finanzpolitik zu protestieren. Mittlerweile sind fast alle Plätze geräumt und um Occupy ist es ruhig geworden. Trotzdem ist »Take the Square«, die neueste Arbeit des österreichischen Filmemachers Oliver Ressler, keineswegs inaktuell. Wie schon in seinem früheren Filmen über andere soziale Bewegungen verbindet Ressler in »Take the Square« eine solidarische Bezugnahme mit einem kritischen Blick hinter die Kulissen. In dem 80-minütigen Film kommen Aktivisten aus Spanien, Griechenland und den USA zu Wort. Die Interviewsequenzen werden unterlegt mit Ausschnitten von Demonstrationen und Kundgebungen. Nicht immer passen sie zusammen.

Während die jungen prekären Intellektuellen aus Spanien über ihre Distanz zu Großorganisationen wie den Gewerkschaften reden, sind im Hintergrund Ausschnitte einer Occupy-Demonstrationen mit zahlreichen Gewerkschaftsfahnen zu sehen. Leider wird dieser Widerspruch im Film nicht thematisiert. Interessant wäre es auch gewesen, gewerkschaftliche Aktivisten in die Gespräche einzubeziehen, zumal auch in Spanien die Occupy-Bewegung, nachdem sie von der Polizei von den Plätzen vertrieben wurde, neben der Bewegung gegen Wohnungsräumungen zunehmend gewerkschaftliche Kämpfe unterstützt hat.

Resslers griechischen Gesprächspartner kommen aus linken Zusammenhängen und haben sich mit ihren politischen Erfahrungen in die Athener Bewegung der Empörten eingeklinkt. Sie ziehen eine wesentlich kritischere Bilanz über den politischen Erfolg als die spanischen Aktivisten. Offen werden die Probleme angesprochen, Menschen aus der Nachbarschaft, die sich über die Bewegung politisiert haben, längerfristig zu halten.

Die Ausschnitte aus den USA zeigen den Beginn der Occupy-Bewegung. »Ihr habt die Macht, wenn ihr nur zusammenhaltet«, versucht ein rhetorisch begabter Redner den Menschen Mut zu machen.« Auch hier hätte man sich eine größere Vielfalt in der Wahl der Gesprächspartner gewünscht. Trotz dieser Einwände muss man Ressler bescheinigen, einen guten Einblick in das Innenleben der Occupy-Bewegung gegeben zu haben. Deutschland spielt im Film keine Rolle, weil hier die Occupy-Bewegung nie die Bedeutung wie in den vorgestellten Ländern erreicht hatte.

»Take The Square«, 80 Minuten: Oliver Ressler, Di. 30.10. um 17:30 und Mi. 31.10. um 19 Uhr im Lichtblickkino, Kastanienallee 77

http://www.neues-deutschland.de/artikel/802777.film-zu-occupy.html
Peter Nowak

Ungeklärte Umstände

Bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart wurde ein Antrag zur Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens zur sogenannten Todesnacht von Stammheim gestellt.

Am 18. Oktober jährte sich zum 35. Mal der Tag, an dem die RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe tot und Irmgard Möller schwer verletzt in ihren Zellen im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim auf­gefunden wurden. Jahrelang gab es in der Linken starke Zweifel an der offiziellen Version vom Selbstmord, auf Kongressen und bei Demonstrationen wurden diese Zweifel öffentlich gemacht. Allerdings ist der Kreis derjenigen, die sich für die Todesumstände der RAF-Gefangenen interessieren, in den vergangenen Jahren kleiner geworden. Das liegt auch daran, dass nach mehr als drei Jahrzehnten zumindest viele Jüngere Stammheim eher mit einer Diskothek in Nordhessen als mit einem Hochsicherheitsgefängnis am Rand von Stuttgart assoziieren. Das könnte sich ändern. Denn in diesem Jahr waren es keine Vertreter der radikalen Linken, sondern der Buchautor Helge Lehmann und Gottfried Ensslin, der Bruder von Gudrun Ensslin, die für Medienöffentlichkeit zum Jahrestag sorgten.

Pünktlich zum 18. Oktober beantragten sie bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart die Neuaufnahme des Ermittlungsverfahrens zum Tod der drei RAF-Gefangenen. In ihrem Antrag werden insgesamt 32 Punkte aufgelistet, die auf Recherchen beruhen, die Lehmann für sein 2011 erschienenes Buch »Die Todesnacht in Stammheim – eine Untersuchung« unternommen hat. Lehmann unterzog zahlreiche der in der offiziellen Selbstmordversion unhinterfragten Annahmen einer Analyse, mit dem Ergebnis, viele seien unzutreffend. Eine wichtiger Rolle spielt dabei die Kommunikationsanlage, mit der sich die Gefangenen nach Ansicht der staatlichen Ermittler über den Suizid verständigt haben. Lehmann hat die Anlage nachgebaut und dabei festgestellt, dass sie nicht habe funktionieren können. Auch die Frage des Waffentransports sei weiterhin ungeklärt. Sowohl der Plattenspieler in Baaders Zelle, der als Waffenversteck gedient haben soll, als auch die Akten, mit denen sie von Anwälten ins Gefängnis geschmuggelt worden sein sollen, scheiden nach Lehmanns Untersuchungen aus. Weitere Punkte des Antrags beziehen sich auf die Tatsache, dass keiner der in Stammheim Inhaftierten in der Todesnacht einen Schuss gehört hat. Lehmann zufolge müsste die Lautstärke eines ohne Schalldämpfer abgefeuerten Schusses jedoch erheblich gewesen sein. Ein Schalldämpfer wurde aber nicht gefunden.

Mit einem Großteil dieser Punkte knüpfen die beiden Antragsteller an Fragen an, die nach dem Tod der Gefangenen bereits von Anwälten und Solidaritäts- und Menschenrechtsorganisationen gestellt wurden. Sie sind auch in der Sonderausgabe der Hamburger Zeitschrift Arbeiterkampf von 1987 aufgeführt, die zum zehnten Jahrestag der Tode mit der Schlagzeile aufmachte: »Wir glauben noch immer nicht an Selbstmord.«

Damals gab es eine Demonstration in Stuttgart, die von schwerbewaffneter Polizei aufgelöst wurde. In diesen Jahren wurden wegen zahlreicher Publikationen aus der radikalen Linken, die die Selbstmordthese in Frage stellten, Ermittlungsverfahren und Strafprozesse angestrengt. Nach der Auflösung der RAF und eines großen Teils ihres politischen Umfelds ist der Verfolgungsdruck geringer geworden. Seither hat sich ein Großteil der Linken, die Ende der achtziger Jahre weiterhin nicht an Selbstmord glaubten, zumindest damit abgefunden, dass die Todesumstände ungeklärt bleiben. Man ging davon aus, dass es kaum noch zu neuen Erkenntnissen kommen werde. Doch das könnte sich als Irrtum erweisen. Lehmann hat in den Antrag auch ein neues Indiz aufgenommen, das die Zweifel an der offiziellen Version bekräftigt. Es handelt sich um ein ihm zugespieltes Vernehmungsprotokoll des Wachbeamten Hans Springer, der in jener Nacht im siebten Stock von Stuttgart-Stammheim, wo die RAF-Gefangenen untergebracht waren, Dienst hatte. Er sagte aus, er sei von einer für ihn nicht genau identifizierbaren Person gegen 0.30 Uhr telefonisch von seinem Wachposten abberufen worden, um bis 3.30 Uhr in einer anderen Abteilung des Gefängnisses auszuhelfen. Ihm sei ver­sichert worden, dass die Bewachung der Gefangenen in dieser Zeit gewährleistet sei. Sollten sich die Angaben bestätigen, dann wären in dem Zeitraum, in dem die Gefangenen ums Leben kamen, unbekannte Personen für die Bewachung zuständig gewesen. Das Protokoll gehörte zu jenen Akten, die mit der Begründung, sie tangierten die Sicherheit der Bundesrepublik, immer noch geheim sind.

Mit Helge Lehmann beschäftigt sich nun jemand mit dem Tod von Baader, Ensslin und Raspe, der sich nicht an dem innerlinken Streit um die Todesumstände der RAF-Gefangenen beteiligt hat. Dort ging es am Ende nicht mehr um neue Fakten, sondern lediglich um Bekenntnisse.

Auf die Frage, welche Hypothese er selber zur sogenannten Todesnacht habe, antwortete Lehmann beim Pressegespräch anlässlich des Antrags zur Wiederaufnahme des Verfahrens: »Nur eine, dass die offizielle Version in zentralen Punkten nicht stimmen kann.« Damit vermeidet er Spekulationen, im Unterschied zu anderen Autoren, die sich vor ihm kritisch mit den Todesumständen beschäftigt haben. Dazu gehört der inzwischen verstorbene Rechtsanwalt Karl-Heinz Weidenhammer, der das 1988 erschienene Buch »Selbstmord oder Mord. Das Todesermittlungsverfahren: Baader, Ensslin, Raspe« verfasst hat. Neben vielen Fakten, die er als am Verfahren beteiligter Rechtsanwalt präsentierte, erging er sich auch in eigenen, nicht belegbaren Speku­lationen über die Rolle ausländischer Geheimdienste.

Lehmann hingegen kann hoffen, dass mittlerweile verrentete Beteiligte aus dem Sicherheitsapparat ihr Wissen über die sogenannte Todesnacht nicht mit ins Grab nehmen wollen. Das ihm zugespielte Vernehmungsprotokoll ist ein Indiz dafür. Doch ob die Justiz den Fall noch einmal aufgreift, ist fraglich. Schließlich hat Helmut Schmidt, der zu dieser Zeit Bundeskanzler war, bereits 1979 in einem Interview gesagt: »Ich kann nur nachträglich den deutschen Juristen danken, dass sie das alles nicht verfassungsrechtlich untersucht haben. Man kann nicht alles ­regeln.«
http://jungle-world.com/artikel/2012/43/46463.html
Peter Nowak

Breivik als Theaterstoff?

Die Lesung einer Erklärung Breiviks im Rahmen eines Kulturfestivals führt erwartungsgemäß zu einem Kunstskandal. Dabei wird die Frage ignoriert, was an dessen Erklärung überhaupt diskutiert werden soll

Im Schatten des Roten Rathauses in unmittelbarer Nähe des Berliner Alexanderplatzes hat man den Eindruck, am Stadtrand zu sein. Wer sich am Abend in die Klosterstraße verirrt, muss schon ein bestimmtes Ziel haben. Zur Zeit wird es vielleicht häufiger das Monologfestival sein, das noch bis zum kommenden Sonntag im Theaterdiscounter in der Klosterstraße stattfindet.

Insgesamt 11 Künstler und Kunstkollektive sind eingeladen, ihre Vorstellungen von dem Thema „Jenseits von Gut und Böse“ darzustellen. Das Festival ist durch eine Veranstaltung auch bundesweit in die Diskussion geraten. Am Samstag hat Milo Rau die Erklärung, die der norwegische Rechtsterrorist Breivik bei seinem Prozess vortrug, von einer Künstlerin verlesen lassen.

„Der 77fache Mörder erläutert seine Taten, bekundet seine Verbundenheit zu Al Qaida, zum schweizerischen Minarettverbot und zur deutschen NSU und skizziert seine Theorie des Untergangs Europas durch Einwanderung und Multikulturalismus. Die Aussagen wurden nicht im Fernsehen übertragen und für die Öffentlichkeit gesperrt. Als Anders B. Breivik spricht Sascha Ö. Soydan“, wird die schon lange vorher ausverkaufte Veranstaltung angekündigt.

Zu der großen Aufmerksamkeit für das Stück kam es, nachdem sich in der letzten Woche das Nationaltheater Weimar kurzfristig von der dort im Rahmen eines Kulturfestivals geplanten Lesung der Breivik-Erklärung distanzierte, die daraufhin in ein Kino verlegt werden musste.

Fertig war der Kunstskandal – manche Medien sprachen gleich von Zensur. Nun ist das Vorgehen der Weimarer Theaterleitung tatsächlich merkwürdig. Schließlich wird das Programm Wochen im Voraus fertiggestellt und sollte nicht nach einigen Schlagzeilen in den Boulevardmedien wieder umgeworfen werden.

Was soll an Breiviks Text diskutiert werden?

Allerdings ist die Debatte eigentlich völlig überflüssig. Weder macht sich eine Kunsteinrichtung, die einen solchen Text verlesen lässt, mit dem Verfasser gemein, noch ist es eine Deckelung oder gar Zensur, wenn eine Kulturinstitution oder auch ein einzelner Künstler sich an einer solchen Lesung nicht beteiligen will. Breiviks Text, der von der norwegischen Justiz unbegreiflicherweise gesperrt wurde und daher erst recht Aufmerksamkeit bekam, ist schon längst weltweit im Netz zu lesen.

Daher stellt sich auch die Frage, ob er im Theater noch einmal verlesen werden muss. Bestünde nicht gerade eine gute künstlerische Intervention darin, den Text zur Grundlage einer eigenen Arbeit zu nehmen. Zudem stellt sich die Frage, welche Debatte durch das Verlesen angeregt werden soll? Wird da nicht gerade in Zeiten des Internet die Rolle eines Theaters maßlos überschätzt?

Und selbst vor den Internetzeiten dürfte es sich um eine Überschätzung handeln, wenn es um den Einfluss solcher Darbietungen geht. Oder wäre die Geschichte wirklich anders verlaufen, wenn Hitlers „Mein Kampf“ in den 1920er Jahren in deutschen Theatersälen verlesen worden wäre? Zudem ist der Begriff Diskussion im Zusammenhang mit Breiviks Text fragwürdig. Glaubt ernsthaft jemand, dort finden sich Argumente, die abgewogen werden sollen?

Kann es bei seiner Lesung nicht eigentlich nur darum gehen, die Mechanismen und Strukturen zu erkennen, die zwischen Breiviks Ideologie und Denkformen bestehen, die in der bürgerlichen Gesellschaft anerkannt sind? Einen sinnvollen Effekt hatte die Diskussion um Breiviks Text immerhin, das Monologfestival hat verdientermaßen mehr Publicity bekommen. Das hätte es allerdings auch durch die vielen anderen dort vorgestellten künstlerischen Positionen verdient, die nicht mit Breiviks Namen verbunden werden können.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/153073
Peter Nowak

Unimaut vor dem Aus

Auch in der CSU wächst die Zahl jener, die die Studiengebühren abschaffen wollen. Noch vor einem Jahr wollte die eigene Partei ihrem Parteivorsitzenden Horst Seehofer nicht folgen, als der laut über die Abschaffung der Unimaut nachdachte. Der Stimmungswandel ist einem Urteil des bayerischen Verfassungsgerichtshofs geschuldet, das einem von den Freien Wählern initiierten Volksbegehren zur Abschaffung der Studiengebühren grünes Licht gab. Dabei waren nicht nur die CSU, sondern auch die Grünen und die SPD davon ausgegangen, dass das Gericht das Volksbegehren wegen möglicher Eingriffe in das Haushaltsrecht stoppen wird.

Bevor die Initiatoren des Volksbegehrens mit dem Sammeln der knapp 900 000 notwendigen Unterschriften begonnen haben, will nun auch die CSU auf die Gebühren verzichten. Auch bei der mitregierenden FDP beginnt die Diskussion. Das schnelle Einlenken macht deutlich, dass die Regierungspartei das Thema für so relevant hält, dass sie es aus dem beginnenden Wahlkampf raushalten will. Studiengebühren sind also auch für die Konservativen keine Wahlwerbung. Diesen Erfolg können sich die studentischen Gegner der Unimaut auf die Fahne schreiben. Nur hört man über sie in den Medien wenig. Dafür kann die bürgerliche CSU-Konkurrenz von den Freien Wählern jetzt den Erfolg für sich verbuchen. Dabei wurde dort, wie jetzt auch bei der CSU, hauptsächlich damit argumentiert, dass fast alle anderen Länder auf Kosten Bayerns auf die Unimaut verzichten und es daher ein Akt der Gerechtigkeit ist, wenn der Freistaat nachzieht. Dann bliebe nur die schwarzgelbe Landesregierung von Niedersachsen als Verteidiger der Studiengebühren übrig. Auch dort beginnt demnächst der Wahlkampf.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/802410.unimaut-vor-dem-aus.html
Peter Nowak

Rückkehr zur ethnischen Berichterstattung in den Medien?

Wie wichtig ist, dass der Täter „südländisch aussieht“? Ein Kommentar in der Taz löst eine Kontroverse aus

Ein Todesfall hat in den letzten Tagen in Berlin für ein großes mediales Interesse gesorgt. Ein junger Mann war in alkoholisierten Zustand in der Nähe des Roten Rathauses von einer Gruppe junger Partygänger so schwer geprügelt worden, dass er kurz darauf starb. Was diesen Fall so besonders ins Blickfeld rückte, war wohl der Tatort mitten in der Berliner Innenstadt.

Dieser Todesfall gäbe sicher genügend Anlass, nach der Ursachen der Zunahme von Gewaltdelikten zu fragen, bei denen es nicht um Geld, das Handy oder Eifersucht geht, sondern um den puren Spaß am Quälen von in der konkreten Situation Wehrlosen. Erst vor wenigen Tagen war ein Rollstuhlfahrer nach einem Fußballspiel zusammengeschlagen und mit seinen Schal fast erdrosselt worden. Auch hier war es eine Gewalttat aus reinem Spaß. Ist das ein Indiz für eine Gesellschaft, in der der Mitmensch generell nur noch als Gegner oder sogar Feind wahrgenommen wird und sich dieses Verhältnis in die Eventkultur ausweitet?

In Gruppen und nach einem entsprechenden Drogenkonsum werden die im Alltag noch unterdrückten Gewaltphantasien gegen Mitmenschen hemmungslos ausgelebt. Hier könnte eine Erklärung für diese Gewalt in der Eventkultur liegen. Doch die Diskussionen drehten sich schnell um die ethnischen und religiösen Hintergründe der Täter.

Antirassismus auf Knigge-Niveau?

Der Tagesspiegel vermeldete in seinem Bericht über die Gewalttat, dass die Täter nach Polizeiangaben „südländisch aussehen“. Die Taz verzichtete in ihrer Berichterstattung auf solche Zuschreibungen, was Taz-Redakteur Deniz Yücel in einer Kolumne als „Du-darfst-nicht-Antirassismus“ kritisierte.

In seiner Polemik bezog er auch die Richtlinien des Deutschen Presserats ein, nach denen die nationalen, ethnischen und religiösen Hintergründe von mutmaßlichen Tätern nur dann in Zeitungsberichten erwähnt werden sollten, „wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht“. Yücel hält diese Regelung für überholt; er moniert:

„Was einst eine vernünftige Reaktion darauf war, dass Eduard Zimmermann in ‚Aktenzeichen XY‘ vorzugsweise nach jugoslawischen und türkischen Staatsbürgern fahndete (‚Der Täter spricht gebrochen Deutsch und ist bewaffnet‘) und deutsche Lokalzeitungen und Boulevardblätter über keinen Ladendiebstahl berichten konnten, ohne auf die Herkunft der Täter zu verweisen (‚Ausländer beim Klauen erwischt‘), hat sich zu einem Verschleierungsinstrument verselbstständigt; zu einer Ansammlung von ‚Du-darfst-nicht‘-Sätzen, die die Glaubwürdigkeit von Medien erschüttern, aber jede Erkenntnis verhindern.“

Jahrelang haben Menschenrechtsorganisationen dafür gestritten, dass die Nennung der vermeintlichen Herkunft von angeblichen Straftätern in Zeitungsberichten verschwindet, gerade um solche Diskriminierungen zu verhindern. Es gibt auch keinen Grund von diesem Grundsatz abzuweichen. Das wurde nicht zuletzt durch Yücels Kommentar deutlich.

Seine Polemik veranlasste eine Schar von Kommentatoren die multikulturelle Gesellschaft noch einmal rhetorisch zu beerdigen. Zuvor hatten schon rechte Gruppen die Gewalttat aufgegriffen und zu Mahnwachen aufgerufen. Die Taz hatte berichtet, dass im Kondolenzbuch rassistische Parolen auftauchten.

Über soziale Realitäten statt über ethnische Zuschreibungen berichten

Diese Reaktion macht noch einmal deutlich, dass Yücel wohl eine zu positive Einschätzung über die Zivilisiertheit der Gesellschaft in Deutschland hat. Während Menschenrechts- und Flüchtlingsgruppen gegen ethnische Ermittlungen kämpfen, wird hier dafür plädiert, dass ethnische Berichterstattung, die in den meisten, vor allem den auflagenstärksten, Zeitungen immer Praxis war, auch auf Medien wie die Taz wieder ausgeweitet wird.

Yücel kann auch nicht erklären, was mit der ethnischen Duftmarke erreicht würde, außer der Zunahme von Ressentiments. Denn weder kann er spezifizieren, was ein südländisches Aussehen ist, noch was es aussagen soll. Was mit dieser Diskussion aber verdrängt wird, ist die Frage, warum in Berlin lebende junge Menschen andere aus reinem Fun quälen und sogar töten. Um das zu klären, wäre nicht das Aussehen der Täter relevant, sondern die Lebensverhältnisse, denen sie in ihrem Alltag ausgesetzt sind.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/153058
Peter Nowak

Bischof Richard Williamson von Pius-Bruderschaft ausgeschlossen

Offiziell wird dies mit Gehorsamsverweigerung begründet, ein Zusammenhang mit dem anstehenden Gerichtsverfahren gegen Williamson wegen Holocaustleugnung ist aber nicht zu übersehen

„S.E.Bischof Richard Williamson hat sich seit mehreren Jahren von der Führung und Leitung der Priesterbruderschaft entfernt und sich geweigert, den Respekt und den Gehorsam zu bezeigen, den er seinen rechtmäßigen Oberen schuldet. Deshalb wurde er durch eine Entscheidung des Generaloberen und seines Rates am 4. Oktober 2012 als von der Bruderschaft ausgeschlossen erklärt.“

Mit diesen dürren Sätzen wurde auf der Webseite der rechtskonservativen Piusbruderschaft eine Personalentscheidung bekanntgegeben, die über das rechtskatholische Milieu hinaus von Interesse ist. Denn Richard Williamson hat dafür gesorgt, dass sich die christdemokratische Bundeskanzlerin kritisch zu einer Entscheidung des Papstes äußerte und dafür bei ihrer Parteibasis auf Unverständnis stieß.

Schließlich hat Williamson in einem TV-Interview den massenhaften Mord der Nazis an den Juden bestritten. Wörtlich sagte er damals (aus dem Englischen übersetzt):

„Ich glaube, dass die historischen Beweise gewaltig dagegen sprechen, dass sechs Millionen Juden vorsätzlich in Gaskammern vergast wurden als vorsätzliche Strategie Adolf Hitlers. (…) Ich glaube, es gab keine Gaskammern.“

Da der Papst erst kurz vor Bekanntwerden dieses Interviews die kircheninterne Aufhebung der Exkommunion des Bischofs verfügt hat, geriet auch er schnell in die Kritik – auch von Merkel. Zumal Williamson schon vor dem Interview aus seinem Holocaustrevisionismus kein Hehl gemacht hatte.

Ein neuer Gerichtstermin

Aber erst das Interview hatte für ihn Konsequenzen. Er musste Argentinien im Ende Februar 2009 verlassen, um einer Ausweisung zuvorzukommen (Argentinien wirft Bischof Williamson raus). Wegen Volksverhetzung muss er sich im kommenden Jahr erneut vor dem Regensburger Amtsgericht verantworten.

Eine erste Verurteilung des Bischofs hatte das Oberlandesgericht Nürnberg im Februar wegen Verfahrensmängeln aufgehoben. Daraufhin hatte die Staatsanwaltschaft einen überarbeiteten Strafbefehl von maximal 6.500 Euro erlassen.

Williamson hat sich störrisch gezeigt und wollte selbst aus taktischen Gründen keine Fehler zugeben. Das dürfte auch der Grund sein, dass sich die Piusbruderschaft jetzt von ihrem langjährigen Mitglied trennt. Schließlich würde sie bei dem neu aufgerollten Verfahren erneut im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen. Ihr Bemühen, im rechtskonservativen Milieu wieder aktiv mitzuwirken, würde damit untergraben.

Katholischer Antisemitismus

In diesem Kreisen wird durchaus weiter ein katholischer Antisemitismus praktiziert, in dem die Juden als Jesusmörder diffamiert werden – bei der Beurteilung der Shoah hält man sich aber öffentlich lieber zurück. Weil Williamson sich nicht daran gehalten hat, wird er nun genau wegen Gehorsamsverweigerung ausgeschlossen.

So umschifft man auch den für die Piusbruderschaft heiklen Punkt, zur Holocaustleugnung Stellung nehmen zu müssen, ohne die teilweise nach rechtsaußen weit offenen Mitglieder zu verprellen. Da in diesen Kreisen Autorität und Gehorsam zentrale Werte sind, wenn es um die eigene Organisation geht – der Papstkirche gegenüber hat man das ja bekanntlich anders praktiziert -, ist die Ausschlussbegründung so verfasst, dass sie in diesen Kreisen konsensfähig ist.

Lebhaft wird auf der rechtskatholischen Webseite Kreuz.net, das wegen seiner homophoben Einstellung erst kürzlich massiv in die Kritik geriet (15.000 Euro für Enttarnung der „Katholiban), über Williamsons Ausschluss debattiert. Zahlreiche Postings verbreiten wiederum antisemitische Klischees. Daher ist es fraglich, ob es der Piuskirche gelingt, mit dem Ausschluss von Williamson einer Debatte über ihre eigene Position zu entgehen.

http://www.heise.de/tp/blogs/6/153050
Peter Nowak

Kein Durchkommen für Gerichtsvollzieherin

Mieteraktivisten verhinderten in Berlin- Kreuzberg eine Wohnungsräumung

„Ob Ali ob Kalle, wir bleiben alle“, hallte es am Montagmorgen durch die Lausitzer Straße in Berlin-Kreuzberg. Dort hatten sich vor dem Eingang der Nummer 8 ca. 150 Menschen versammelt. Sie wollten verhindern, dass die seit Jahren in diesem Haus lebende fünfköpfige Familie G. zwangsgeräumt wird.

Die Familie hatte Einspruch gegen eine Mieterhöhung erhoben und in sämtlichen juristischen Instanzen verloren. Weil die Familie die vom Gericht verfügten Mietnachzahlungen erst zwei Monate nach der gesetzten Frist beglich, wurde ihnen vom Hauseigentümer gekündigt. Der Bundesgerichtshof hielt die Kündigung wegen der verspäteten Nachzahlung für rechtmäßig. Für den 22. Oktober hatte sich die Gerichtsvollzieherin angesagt. Die Familie wandte sich an Nachbarn und Mieterorganisationen, die zum Kiezfrühstück in die Lausitzer Straße 8 mobilisierten. Daher war der Hauseingang blockiert, als die Gerichtsvollzieherin um 9 Uhr aus ihrem Auto stieg.

Sie versuchte gar nicht erst ins Haus zu gelangen sondern fuhr wieder weg. Es ist wahrscheinlich, dass sie das nächste Mal unangekündigt und mit Polizeibegleitung wieder kommt. Trotzdem sehen sowohl die betroffene Familie als auch die Aktion als Erfolg. „Die Verhinderung der Räumung ist ein Zeichen praktischer Solidarität mit von Verdrängung bedrohten Mieter in Berlin“, erklärte David Schuster vom Bündnis „Zwangsräumungen verhindern“ gegenüber Telepolis.

Mieterwiderstand wird Alltag

Die positive Einschätzung wird verständlich, wenn man die Räumungsverhinderung in einen größeren politischen Kontext einordnet. Es sind nicht mehr langjährige politische Aktivisten, sondern Betroffene, die sich gegen eine als ungerecht empfundene Entscheidung wehren, die den Berliner Mieterwiederstand der letzten Monate prägten. Schon vor der Familie G. hat sich die ganz in der Nähe lebende Frau C. entschlossen, sich gegen die Räumung zu wehren.

Sie hatte Schilder mit entsprechenden Aufschriften in die Fenster ihrer Parterrewohnung gehängt, wodurch sympathisierende Nachbarn und Unterstützer auf ihren Fall aufmerksam wurden. Zum Forum für Menschen wie Frau C. und Familie G. wurde in den letzten Monaten das Mietercamp am Kottbuser Tor, das die lockeren Zeltplanen mittlerweile durch einen Container ersetzt hat und damit deutlich machte, dass ihr Protest auch in der kalten Jahreszeit weitergeht.

Mittlerweile haben sich Architekten und Sozialwissenschaftler mit einem Aufruf für eine Wohnungspolitik, die sich an sozialen Belangen richtet, den Forderungen der Mieteraktivisten angeschlossen. Aber nicht nur in Kreuzberg hat sich der Mietenprotest ausgeweitet.

Im Ostberliner Stadtteil Pankow verhinderten Senioren mit einer Besetzung die Schließung ihres Treffpunktes. Jetzt soll die Einrichtung von der Volkssolidarität weitergeführt werden. Zu den Unterstützern aus aller Welt gehörten auch die als „rebellische Großeltern“ bekannt gewordenen Senioren, die in Spanien die Occupy-Bewegung unterstützen.

Auch der Widerstand gegen Zwangsräumungen ist in Spanien in Zeiten der Krise in weiten Teilen der Gesellschaft akzeptiert. In Deutschland steht die Bewegung noch am Anfang. Nicht nur die Erwerbslosenaktivisten, die 2006 die Berliner Kampagne gegen Zwangsumzüge gründeten, sind mit der jüngsten (Protest-)Entwicklung sehr zufrieden.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153041
Peter Nowak

Zwangsräumung ausgesetzt: Gerichtsvollzieherin dreht um

MIETEN Fünfköpfige Familie sollte zwangsgeräumt werden, AktivistInnen verhinderten das

„Ob Ali ob Kalle, wir bleiben alle!“, hallt es am Montag früh durch die Lausitzer Straße in Kreuzberg. Vor dem Eingang des Hauses Nummer 8 haben sich rund 150 Menschen versammelt. Sie wollen verhindern, dass eine seit Jahren in dem Haus lebende fünfköpfige Familie zwangsgeräumt wird.

Die Familie hatte Einspruch gegen eine Mieterhöhung durch den Eigentümer erhoben und in sämtlichen juristischen Instanzen verloren. Weil die Familie die vom Gericht verfügten Nachzahlungen der Miete erst zwei Monate nach der Frist begleichen konnte, wurde ihr von Eigentümer André Franell gekündigt. Der Bundesgerichtshof hielt die Kündigung wegen der verspäteten Zahlung für rechtmäßig.

Für den gestrigen Montag hatte sich nun die Gerichtsvollzieherin angekündigt, die Familie hatte sich an NachbarInnen und MieterInnenorganisationen gewandt, die zum Kiezfrühstück in die Lausitzer Straße 8 mobilisierten. Als die Gerichtsvollzieherin um 9 Uhr aus ihrem Auto stieg, war der Hauseingang blockiert. Die Frau versuchte gar nicht erst, ins Haus zu gelangen, sondern fuhr gleich wieder weg.

„Die heutige Verhinderung der Räumung ist ein Zeichen praktischer Solidarität mit von Verdrängung bedrohten MieterInnen in Berlin“, sagte David Schuster vom Bündnis „Zwangsräumungen verhindern“ der taz. Petra Wojciechowski vom Stadtteilladen Lausitzer Straße, in dem sich MieterInnen juristisch beraten lassen können, sagte, der Druck auf MieterInnen nehme zu. „Doch politischer Widerstand gegen Räumungen ist selten, weil die Menschen sich schämen und die Schuld bei sich suchen“, meinte Wojciechowski. Ähnliche Erfahrungen hat auch die Berliner „Kampagne gegen Zwangsumzüge“ gemacht.

Keine Pause

Die StadtteilaktivistInnen wollen sich nach dem ersten Erfolg vom Montag keine Pause gönnen. Für Donnerstag um 16 Uhr haben sie in der Schlüterstraße 54 eine Kundgebung vor dem Büro von Ziegert Immobilien angemeldet. Sie werfen der Firma vor, sich in Kreuzberg und Neukölln durch Mieterhöhungen und Umwandlung von Wohnraum in Eigentumswohnungen an der Verdrängung von BewohnerInnen mit geringen Einkommen zu beteiligen.

Auch in der Lausitzer Straße 8 wird die Auseinandersetzung weitergehen – das nächste Mal kann die Gerichtsvollzieherin ohne Vorankündigung und in Polizeibegleitung kommen.
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=
ba&dig=2012%2F10%2F23%2Fa0149&cHash=9764e20cde579400b84915e192615a18

Peter Nowak

„Trans ist keine Krankheit, sondern ein Menschenrecht“

Beim weltweiten Aktionstag gegen die Pathologisierung von Transsexuellen wurde auch auf die steigende transphobe Gewalt hingewiesen

Am 20. Oktober fand der Internationale Aktionstag gegen die Pathologisierung von Transmenschen statt. In über 30 Ländern rund um den Globus gab es Aktionen vom Infostand bis zu Demonstrationen.
Das Berliner Bündnis „Stopp Trans-Pathologisierung“ organisierte eine Kundgebung vor dem Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité unter der Parole „Trans ist keine Krankheit, sondern ein Menschenrecht“.
Die Aktivisten wenden sich dagegen, dass Menschen, die das ihnen zugeordnete Geschlecht nicht akzeptieren, in diagnostischen Handbüchern, die Ärzten und Psychologen als Grundlage dienen, in die Kategorie Störungen der Geschlechtsidentität eingeordnet werden. Weltweit setzen sich Transmenschen für die vollständige Streichung der Kategorie aus dem Handbuch ein.

Besondere Kritik übt das Bündnis an Professor Klaus Beier, der an dem Institut für Sexualwissenschaft lehrt. Es wirft dem Mediziner vor, die Pathologisierung eines 11jährigen Kindes vorangetrieben zu haben, das das ihm zugewiesene männliche Geschlecht nicht akzeptiert und dabei von der Mutter unterstützt wird (Geschichte vom „Jungen, der ein Mädchen sein wollte“). Der Sorgerechtsstreit um Alex, wie das Kind in den Medien genannt wurde, seine mögliche Zwangseinweisung in die Jugendpsychiatrie und eine damit verbundene Behandlung hin zu einem geschlechtskonformen Verhalten als Junge sorgten Ende März für Diskussionen. Beier und die Charité hatten damals allerdings bestritten, das Kind gegen seinen erklärten Willen oder den erklärten Willen der Mutter aufzunehmen.

Zunahme von transphober Gewalt

Transgender-Aktivisten sehen auch einen Zusammenhang zwischen der Pathologisierung von Transmenschen und der Zunahmen von Gewalt gegen Transmenschen. So heißt es in einer Pressemeldung von Transinterqueer:

„In den letzten Jahren ist in vielen Ländern ein Anstieg transphober Gewalt zu beobachten. Forschungen zeigen, dass 2009 bereits an jedem zweiten Tag der Mord an einer Trans-Person berichtet wurde. In 2008 liegt für jeden dritten Tag eine Meldung vor.“

Rechtzeitig zum Aktionstag ist im Verlag AG Spaak ein Büchlein unter dem Titel „Stop Trans*-Pathologisierung“ erschienen. Der im Untertitel „Berliner Beiträge für eine internationale Debatte“ vertretene Anspruch wird auf den knapp 100 Seiten eingelöst. In den kurzen Kapiteln, wird ein guter Einstieg in die Thematik geliefert.

Soziale Folgen der Ausgrenzung

Ein besonderer Stellenwert wird in dem Buch auf die sozialen Aspekte gelegt, was sicher auch darin liegt, dass die Herausgeberin Anne Allex seit vielen Jahren in der Erwerbslosenbewegung aktiv ist und den Arbeitskreis „Marginalisierte gestern und heute“ mitbegründet hat. In ihrem Beitrag zeigt sie die sozialen Folgen der Pathologisierung auf:

„Trans*-Menschen gehören zu einer der am meisten diskriminierten Populationen in Europa. Ihre Erwerbslosenquote ist signifikant höher als beim Rest der Gesellschaft. Sie haben keine Aussicht auf eine der Ausbildung entsprechende Arbeit. Sie sind überwiegend arm und sozial ausgegrenzt.“

Die Zuschreibung der Geschlechtsidentitätsstörung führt dazu, dass Transmenschen bei den Jobcentern und Arbeitsagenturen in die Kategorie „erwerbsunfähig“ eingeordnet und ausgesteuert werden. Dass aber bedeutet ein Leben am Rande des Existenzminimums. „Landen Erwerbslose nach solchen Feststellungsverfahren in einer kleinen Erwerbsminderungsrente oder in der Sozialhilfe, hat das schwere, dauerhafte Folgen für ihren künftigen Lebensstandard und ihre Lebensqualität“, beschreibt Allex die soziale Realität, die nicht nur viele Transmenschen tangiert. So werden in den letzten Jahren immer häufiger ALG II-Berechtigte von den Jobcentern zur Erstellung eines psychologischen Gutachtens aufgefordert. Zu den Begründungen gehört auch eine häufige Krankschreibung vor oder Entlassungen aus Eingliederungsmaßnahmen.
http://www.heise.de/tp/blogs/3/153024
Peter Nowak

Widerstand im Sattel?

»Wir sind tatsächlich Kampfradler_innen. Wir verstoßen gegen die Regeln. Wer das Fahrrad als Verkehrsmittel ernst nimmt und es als Ersatz für das Auto benutzen will, hat kaum eine andere Wahl«. So beginnt ein Aufruf, in dem sich Radfahrer zur Missachtung der Verkehrsregeln bekennen. Sie sehen darin einen Akt des zivilen Ungehorsams gegen ihre Benachteiligung gegenüber dem Autoverkehr. In dem unter kampfradler.blogsport.de dokumentierten Aufruf werden plausible Beispiele für Ungleichbehandlung angeführt, darunter fehlende Fahrradwege oder für Radfahrer ungünstige Ampelschaltungen. Die zen-trale Forderung des Manifests ist eine Verkehrspolitik, die Fahrradfahren als gleichrangig mit dem motorisierten Verkehr einstuft. Solange dies nicht der Fall ist und Radfahrer nur als »Randerscheinung« wahrgenommen werden, wollen diejenigen, die sich dem Aufruf anschließen, zivilen Widerstand leisten und sich nicht den »stinkenden Autos und Lkw unterordnen«.
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Die »Kampfradler« sehen sich in der Tradition der vor ca. 15 Jahren in den USA entstandenen »Critical-Mass«-Proteste (s. Lexikon). Bei diesen in viele andere Länder ausstrahlenden FahrradDemonstrationen wird deutlich gemacht, dass die Straße nicht nur den Autos gehört. Hier besteht auch ein Unterschied zum Gestus der »Kampfradler«, die vor allem durch individuelle Aktionen ihren Unmut über die Autos ausdrücken wollen. Zudem ist in dem Manifest der »Kampfradler« nur an wenigen Stellen von der zweiten, größeren Gruppe, die in der Verkehrspolitik benachteiligt wird, die Rede: den Fußgängern. Dabei müssten diese eigentlich Verbündete sein, wenn es darum geht, den motorisierten Verkehr in die Schranken zu weisen. Die Leerstelle ist vielleicht kein Zufall. Denn im Alltag werden von nicht wenigen Radfahrern auch Fußgänger als lästige Konkurrenten behandelt, und das nicht nur, wenn sie nicht schnell genug den Fahrradweg freimachen. Gerade ältere oder in ihrer Beweglichkeit eingeschränkte Menschen drohen dann im wahrsten Sinne des Wortes unter die Räder zu kommen.

Den Namen Critical Mass (Kritische Masse) wählten einige Fahrradfahrer 1992 in San Francisco sicher nicht zufällig für ihre Fahrrad-Demonstration. Denn in der Kernphysik ist die Kritische Masse Voraussetzung einer Kettenreaktion. Und so kam es: Längst gibt es Aktionen mit mehreren Tausend Teilnehmern auch in anderen Städten der USA und in europäischen Großstädten. Die bisher größte dieser Fahrrad-Demos mit 80 000 Teilnehmern gab es 2008 in Budapest.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/801910.html

Peter Nowak

Jenseits von Google und Facebook

Eine Berliner Konferenz machte deutlich, dass es längst Alternativen zu den Internetgiganten gibt. Die Frage ist, ob es für die Internetuser attraktiv ist, sie zu nutzen

Gibt es Alternativen zu einer zentralisierten Internet-Landschaft im Zeichen von Google und Facebook? 50 Experten aus über 15 Ländern haben sich am 18. und 19. Oktober in Berlin auf der Digital Backyards-Konferenz dieser Frage gewidmet. Auf einem Workshop zum Thema "Alternative Social Networking" stellten Netzaktivisten aus Europa verschiedene Projekte vor. Ob sie allerdings konkrete Alternativen zu Google und Facebook sein könnten, muss offen bleiben. Dazu gehört das Berliner Projekt Secushare. Erklärte Absicht ist es, durch einfache Anwendungsmöglichkeiten die Sensibilität für Datenschutz und Internetsicherheit bei den Usern zu erhöhen. Allerdings hält Carlo von Loesch, der Secushare auf der Konferenz vorstellte, den Aufbau einer eigenen Infrastruktur für nicht mehr durchsetzbar, weil immer mehr Gruppen und Unternehmen sich bei den kommerziellen Angeboten von Google oder Amazon bedienen. Solche Befunde zeigen, wie schwer es ist, Alternativen zu den etablierten Giganten aufzubauen, die auch von der großen Masse der Internetnutzer akzeptiert werden.

Sind Suchmaschinen eine Gefahr für die Demokratie?

Dazu muss das Bewusstsein wachsen, dass die großen Suchmaschinen nicht nur eine Gefahr für die Datensicherheit, sondern für die Demokratie insgesamt sind, meint der Websiteentwickler Alexander van Eesteren aus Holland. Mit ix quick hat er eine Suchmaschine vorgestellt, die damit wirbt, „die diskreteste Suchmaschine der Welt“ zu sein. Mittlerweile gibt es täglich über 1, 5 Millionen Suchprozesse, Tendenz steigend.

Noch ziemlich am Anfang steht die Debatte über die Internetsicherheit in Italien. Darüber berichtete Vito Campanelli von der italienischen Piratenpartei, die demnächst erstmals bei Wahlen in dem Land antreten will. Sie muss sich auch gegen die Grillo-Bewegung behaupten, die rhetorisch durchaus ähnliche Ziele zu verfolgen vorgibt, aber nach Angaben von Campanelli sehr stark auf die Person des Gründers und Namensgebers fixiert ist.

Die italienische Piratenpartei will in ihrem Land eine Debatte über Datensicherheit anstoßen, wie sie in Deutschland und anderen europäischen Staaten in den letzten Jahren in einer wahrnehmbaren Öffentlichkeit geführt wurde. Doch obwohl die „Freiheit statt Angst“-Demonstrationen zeitweise auch die Medien auf das Thema Datensicherheit lenkten, müssen die Internetexperten auch konstatieren, dass ein Großteil der jungen Menschen, die von Kindesbeinen mit Google und Facebook aufgewachsen sind, keine großes Problembewusstsein dafür entwickelt haben, wie mit ihren Daten im Internet umgegangen wird. Erst wenn es gelingt, diese Menschen anzusprechen, bekommt die Frage einer Alternative zu den Internetgiganten einen realen Boden. Natürlich ist es immer interessant zu erfahren, wo findige Menschen an mehr oder weniger neuen Projekten arbeiten, die Google und Facebook überflüssig machen könnten.

Coolnessfaktor der alternativen Suchmaschinen

Doch solange der Großteil der User diese Projekte nicht zur Kenntnis nimmt, hört sich das so an wie die jahrzehntealten Versuche, die Bild-Zeitung zu ersetzen. Zu allen Zeiten gab es zahlreiche Zeitungsprojekte, die den Anspruch verfolgten, das Boulevardblatt tatsächlich ersetzen zu können. Dass es bisher nicht gelungen ist, lag nicht daran, dass es keine Alternativen gegeben hätte, sondern dass diese die Herzen und Hirne der Massen nicht erreichen konnten. Genau so ist es heute mit der Diskussion um Alternativen für Google und Facebook.

Hier kommt der Coolnessfaktor ins Spiel, den Krystian Woznicki von der Berliner Gazette und einer der Kongressorganisatoren, im Gespräch mit Telepolis erwähnte. Erst wenn es in Kreisen der jungen Internetnutzer uncool ist, Google und Facebook zu nutzen, kann davon gesprochen werden, dass diese Giganten an Grenzen stoßen. Der Digital Backyards-Konferenz, die wegen angeblicher Europazentriertheit kritisiert wurd, muss man zu Gute halten, dass sie einen Versuch gemacht hat, das Umfeld der Computerfreaks und Nerds zu verlassen. Der letzte Konferenztag war für Public Talks reserviert. Dort hatten die Internetuser die Gelegenheit, sich vom Coolnessfaktor der alternativen Suchmaschine überzeugen zu lassen.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/153018
Peter Nowak

Hausprojekt Linienstraße 206 unter Druck

Kündigungsdrohungen: Bewohner wollen Haus kaufen

Das bunte Gebäude in der Linienstraße 206 in Berlin-Mitte fällt in der sterilen Umgebung der Lofts und Bungalows auf. Das Haus war 1990 besetzt worden. Anfang der 90er Jahe wurde es legalisiert. Die Mietverträge garantieren den Bewohnern das Leben in einem alternativen Wohnprojekt, in dem die Küchen gemeinsam benutzt werden und nicht alle Türen verschlossen werden. Doch jetzt geraten die Bewohner unter Druck. Mit juristischen Drohungen erzwang der neue Eigentümer Bernd-Ullrich Lippert von den Mietern die Herausgabe eines Haustürschlüssels. Damit aber hätte er sofort Zutritt zu dem Privatbereich der Bewohner, die bisher ihre Wohnungstüren offen ließen. Sie sehen daher in der erzwungenen Schlüsselherausgabe eine Bedrohung ihres Projekts. „Wenn ich morgens aus meinem Zimmer in die Küche oder ins Bad will, möchte ich doch nicht den unangemeldeten Vermietern oder irgendwelchen Bauarbeitern über den Weg laufen.“ sagte Linienstraßenbewohnerin Anne Bonhoff. Zumal die Bewohner auch befürchten, dass der Streit mit dem Eigentümer weitergehen wird. Schon gab es Kündigungsdrohungen. Die bisher gültigen Mietverträge werden in Frage gestellt. „So begann auch der Konflikt in der Liebigstraße 14. Zuerst wurde die Herausgabe des Haustürschlüssels verlangt. Am Ende stand die Räumung“, meinte Bonhoff mit Verweis auf das im Februar 2011 mit einem großen Polizeiaufgebot geräumte Wohnprojekt in Friedrichshain. So weit wollen es die Mieter der Linienstraße nicht kommen lassen. Sie wollen das Haus kaufen und haben dabei die Unterstützung von Initiativen, die sich in Mitte gegen die weitere Vertreibung alternativer Wohn- und Kulturprojekt engagieren.
Erst vor wenigen Monaten musste der Linienhof, der sich direkt neben dem Haus befindet, einen Neubau von Eigentumswohnungen weichen. Auf dem Platz hatte jahrelang ein selbstverwaltetes Handwerkerkollektiv gearbeitet. Ihr Haus soll nicht so schnell verschwinden, betont Bonhoff. „Wir wollen die Linienstrasse 206 dauerhaft als selbstverwaltetes Projekt dem Immobilienmarkt entziehen und sichern. Wir sind bereit dafür für das Haus einen fairen Preis zu bezahlen“, betont die Bewohnerin. Dafür haben wollen sie sich auch mit anderen Mieterprojekten in Berlin vernetzen. Der Eigentümer ist weder gegenüber der Presse noch den Hausbewohnern zu einer Stellungnahme bereit.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/801900.hausprojekt-linienstrasse-206-unter-druck.html
Peter Nowak

»Volkes Stimme« ungefiltert

Der 60. Geburtstags von Deutschlands bekanntestem und berüchtigstem Boulevard-Blatt »Bild« ist schon eine Weile her, doch die Kritik am Springer-«Zentralorgan« ist nach wie vor aktuell. Zum Springer-Geburtstag haben die Soziologen Britta Steinwachs und Christian Baron unter dem Titel »Faul, frech, dreist« eine Untersuchung veröffentlicht, die sich anders als viele andere »Bild«-Kritiken nicht mit der Zeitung, sondern mit den Lesern des Blattes beschäftigt. Grundlage ist dabei die Berichterstattung über den vor einigen Jahren von »Bild« zu »Deutschlands frechsten Arbeitslosen« stilisierten Arno Dübel. Erstmals wurden auch die Postings auf bild-online ausgewertet. Auf mehr als 20 Seiten sind sie zum Teil im Anhang abgedruckt. Auch wenn dieser Anhang etwas lang geraten ist, ist die Lektüre doch erhellend, weil man hier einen ungefilterten Eindruck von »Volkes Stimme« bekommt. Denn die Internetpostings drücken deutlicher als die gedruckten Leserzuschriften aus, was relevante Teile der Bevölkerung über Menschen denken, die dem Arbeitsmarkt aus welchen Gründen auch immer nicht zur Verfügung stehen. Den Online-Kommentatoren gilt es geradezu als Unverschämtheit, nicht jede Arbeit anzunehmen. Selbst Krankheit und Alter sind dabei kein Milderungsgrund.

Mindestens zur »Pappe aufheben im Park« oder »Einkaufswägen zusammenstellen« müsse man Dübel verurteilen. Selbst bei der Minderheit, die Dübel gegen besonders harte Anwürfe in Schutz nimmt, empfängt Dübel kein Mitleid. Nur ganz wenige erinnern an internationale Bestimmungen, die es verbieten, einen offensichtlich kranken Mittfünfziger einfach dahinvegetieren zu lassen.

Aus diesen Zitaten folgern Steinwachs und Baron, dass »Bild« weniger ein Manipulationsmedium ist und vielmehr reaktionäre Stimmungen aufnimmt, die bereits in Teilen der Bevölkerung vorhanden sind. »Bild« gießt diese Stimmungen in Schlagzeilen und macht sie kampagnenfähig, so das Fazit der beiden Autoren.

Dass dabei unterschiedliche Minderheiten zur Zielscheibe werden können, gehört ebenfalls zur 60-jährigen Geschichte der »Bild«. Die langhaarigen Studenten während der Studentenunruhen in den späten 1960ern werden heute abgelöst vom »frechen Arbeitslosen«. Damals schuf die »Bild«-Hetze ein Klima, in dessen Folge die Schüsse auf den Studentenführer Rudi Dutschke fielen. Ähnliches, wenngleich mit glimpflicherem Ausgang, widerfuhr Arno Dübel. In Mallorca wurde er von einer Rentnerin angegriffen, die der Meinung war, er verprasse ihre Steuergelder.

Das Buch liefert Argumente für alle, die noch immer keinen Frieden mit »Bild«gemacht haben.

Christian Baron, Britta Steinwachs: Faul, frech, dreist. Die Diskriminierung von Erwerbslosigkeit durch BILD-Leser*innen, Edition Assemblage, Münster 2012, 143 Seiten, 14,80 Euro.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/801801.volkes-stimme-ungefiltert.html
Peter Nowak