Faire Krisenproteste in Deutschland

Der Aktionstag Umfairteilen machte auch noch einmal die große Spannbreite der Protestbewegung in der Eurozone deutlich

Im Rahmen des Aktionstages Umfairteilen haben sich in über 40 Städten in Deutschland nach Veranstalterangaben ca. 40.000 Menschen beteiligt. Die Forderungen des Aktionsages beschränkten sich im Wesentlichen darauf, dass Vermögende sich wieder mehr am Steueraufkommen beteiligen sollen. Für die Organisatoren wäre das eine faire Lösung. Konkret geht es um eine einmalige Vermögensabgabe und die Einführung einer Reichensteuer. Im Vorfeld haben Aktivisten schon symbolisch „Goldbarren“, „Münzen“ und „Geldsäcke“ zugunsten wichtiger gesellschaftlicher Bereiche wie Bildung, Pflege und Energiewende umgeschichtet.

Durchbruch in der Gerechtigkeitsdebatte?

Die Veranstalter sehen den Aktionstag erwartungsgemäß als vollen Erfolg, wie es in einer Pressemitteilung von Attac heißt. Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband spricht von einem Durchbruch in der Gerechtigkeitsdebatte.

Nun scheinen solche optimistischen Beurteilungen nicht unangebracht, wenn Menschen in fünfstelliger Zahl in Deutschland für mehr soziale Gerechtigkeit auf die Straße gehen. Wenn man aber bedenkt, dass an dem Bündnis zahlreiche große Gewerkschaften und Sozialverbände beteiligt waren und dass wegen des dezentralen Charakters des Aktionstages eine Beteiligung erheblich erleichtert wurde, relativiert sich der „Erfolg“ beträchtlich.

Man kann daher auch sagen, dass nur 40.000 Menschen für mehr Gerechtigkeit auf die Straße gehen, obwohl der erst vor wenigen Tagen bekannt gewordene neue Armuts- und Reichtumsbericht die besten Argumente für das Bündnis geliefert hat. Zudem hat die Bundesregierung noch zusätzlich eine Steilvorlage geliefert, weil sie sich darüber gestritten hat, ob der Bericht überhaupt veröffentlicht werden soll, weil er doch Argumente für eine Debatte um Steuererhöhungen für Vermögende biete. Für die FDP aber auch große Teile der Union aber ist das fast schon Sozialismus.

Zudem wurde in den Forderungen zum Aktionstag kein kritisches Wort zur Schuldenbremse verloren, weil man damit schließlich den Mehrheitsflügel von SPD und Grünen verärgert hätte. Doch so viel Entgegenkommen wurde von den Hamburger Sozialdemokraten und Grünen nicht belohnt. Sie störten sich daran, dass in der Hansestadt auch der Vorsitzende der größten griechischen Oppositionspartei Syriza, Alexis Tsipras, redete. Sie beließen es dabei nicht mit einer Presserklärung sondern verließen die Kundgebung vor seiner Rede.

Der Auftritt eines Redners, der mit der Idee eines Euroaustritts Wahlkampf macht, sei „ein schwieriges Signal“, wird ein führender Hamburger Grüner von der taz zitiert. Leser haben sofort darauf hingewiesen, dass der Grüne entweder keine Ahnung hat oder bewusst falsche Behauptungen verbreitet. Denn Tsipras und die Mehrheit der Syriza haben sich im Wahlkampf vehement für ein Verbleiben in der Eurozone, aber für eine Neuverhandlung der Schuldenvereinbarungen ausgesprochen. Es waren vielmehr Politiker der Union und der FDP, die sofort erklärten, dann müsse Griechenland den Euro verlassen, einige haben diese Forderung auch an die aktuelle griechische Regierung gestellt. Mit diesem Streit haben zumindest SPD und Grüne deutlich gemacht, dass für sie Solidarität mit der von der wesentlich von Deutschland initiieren EU-Sparpolitik nicht infrage kommt.

Fairteilen oder fairsenken?

Erst in der letzten Woche sind sowohl in Griechenland, aber auch in Italien, Spanien und Portugal Zigtausende gegen die EU-Sparpolitik auf die Straße gegangen. Darauf haben sich innerhalb des Aktionstages vor allem linke Bündnisse bezogen, die zu den Protesten aufriefen, aber die Diktion des Aktionstages kritisierten. Dazu gehört vor allem ein Zusammenschluss, der unter dem Motto Kapitalismus fairsenken den Anspruch formuliert hat, „mit kreativen Aktionen auf vereinfachte und verkürzte Forderungen“ des Umfairteilenbündnisses hinzuweisen. Es wendet sich vor allem gegen die Vorstellung eines fairen Kapitalismus. „Gerechtere Lebensbedingungen sind nicht durch Umverteilung zu erreichen, sondern durch Demokratisierung der Produktionsmittel und somit Vergesellschaftung der Gewinne“, heißt es dort.

In dem Bündnis Kapitalismus Fairsenken sind auch Gruppen aus dem Umfeld der Interventionistischen Linken vertreten, die sich im Mai an den Blockupy-Aktionstagen in Frankfurt/Main und auch vorher an verschiedenen Krisenprotestaktionen beteiligt haben. Der bundesweite Aktionstag hat auch noch einmal deutlich gemacht, wie weit die Protestbewegungen im europäischen Rahmen voneinander entfernt sind. In Spanien, Griechenland und Portugal sind Grundsätze, wie sie Kapitalismus Fairsenken formuliert, in weiten Teilen der Protestbewegung Konsens, in Deutschland ist es der linke Flügel beim Aktionstag.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/152883
Peter Nowak

Proeuropäische Marktnische

EUROPAmedien: Internetmagazin »The European« jetzt auch als Printzeitung

»Warum gibt’s eigentlich keine europäische Tageszeitung?« Mit dieser Frage begann 2007 in einem Pariser Park die Idee einer Zeitung, die nicht mehr aus nationaler, sondern aus europäischer Perspektive berichtet.« So zumindest schildert der Journalist Tobias Sauer die Entstehungsgeschichte eines Medienprojekts, das seit drei Jahren als Internetmagazin firmiert und seit wenigen Tagen auch am Kiosk als Printausgabe erworben werden kann. Auf der Titelseite der ersten Ausgabe des »European« weist die Überschrift »Utopia – Unsere Welt in 100 Jahren« weit in die Zukunft. Die Themen der Ausgabe orientieren sich hingegen auf die nähere Zukunft. Da wird eine Vorausschau auf die USA im Jahr 2016 gewagt und für eine mögliche Koalition zwischen Union und Piraten mit der »Halloween-Koalition« schon ein neuer Begriff kreiert.

Die Zeitungsmacher betonen ihre parteipolitische Unabhängigkeit. »Von Sahra Wagenknecht, Gregor Gysi über Cem Özdemir, Christian Wulff und Erika Steinbach sind Vertreter aller im Bundestag vertretenen Parteien in dem Debattenmagazin zu finden«, heißt es in einer Redaktionsnotiz. »Den argumentativen Diskurs gewinnt der, der wahrhaftig und wohlbegründet seinen Standpunkt vertritt. Diese Diskursivität ist ein wichtiges Kennzeichen der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte«, begründet dies die Redaktion.

Doch bei aller Diskursfreudigkeit hat das Projekt klare politische Grundsätze vor allem auf sozialpolitischem Gebiet. So hat der »European«-Chefredakteur Alexander Görlach in einem Positionspapier klargestellt, dass in der Zeitung nicht über die Höhe der Hartz-IV-Sätze, wohl aber über den Wert der Arbeit diskutiert werde. Dort bekannt er sich auch zu einem europäischen Elitenprojekt. »Bei The European sollen Entscheider zu Wort kommen, deren Stimmen wirklich wichtig sind«, skizzierte er die Zielgruppe.

Dass sich die Zeitung nicht an Europas Prekäre und Erwerbslose wendet, wird auch im Preis deutlich. Die Printausgabe kostet acht Euro. Geplant ist eine viermonatige Erscheinungswiese in einer Auflage von 50 000 Exemplaren. »Wir glauben, dass das Projekt kommerziell überlebensfähig sein muss. Leute müssen bereit sein, dafür Geld zu bezahlen«, begründet Daniel Freund den hohen Preis.

Ob es die zahlkräftigen Leser für das europäische Elitenprojekt findet, ist offen. Davon aber wird abhängen, ob Görlachs Wunsch in Erfüllung geht, der »The European« zwischen den Magazinen »Cicero« und »Brand Eins« verorten möchte.

http://www.neues-deutschland.de/rubrik/medienkolumne/

Peter Nowak

Häftlinge als Arbeitskräfte?

Axel Köhler-Schnura ist Konzernkritiker und Vorstand der ethecon-Stiftung


nd: Warum startete ethecon eine Kampagne gegen die Ausbeutung Strafgefangener?

Köhler-Schnura: 2011 wurde die US-Menschenrechtsaktivistin Angela Davis u. a. für ihren unermüdlichen Kampf gegen den gefängnisindustriellen Komplex mit dem ethecon Blue Planet Award geehrt. Großkonzerne lassen zu Minimalkosten in Haftanstalten produzieren. Die Häftlinge erhalten in der Regel nur einen geringen, manchmal gar keinen Lohn. Nebenkosten wie die Gesundheitsvorsorge oder besondere Sicherungen des Arbeitsplatzes entfallen. Stattdessen genießen die Konzerne zusätzliche Steuervorteile für die Beschäftigung von Gefängnisinsassen. Auch in Deutschland gibt es Bestrebungen, das Gefängniswesen in dieser Weise zu »reformieren«. Da wollen wir Öffentlichkeit herstellen.

BP setzte nach der Ölkatastrophe am Golf von Mexiko Gefangene ein. Eine übliche Praxis?
Der Einsatz Strafgefangener außerhalb von Haftanstalten hat in den USA eine jahrhundertelange Tradition. Aktuell sitzen in den USA 2,3 Millionen Menschen im Gefängnis. Das ist etwa ein Viertel aller Gefängnisinsassen weltweit. Davon arbeiten in den USA bis zu eine Million in Vollzeit. Auch die Tatsache, dass der Einsatz von Häftlingen für BP organisatorisch keine Herausforderung für die Gefängnisbetreiber war, zeigt, dass die »Nutzung« dieser Arbeitskräfte jenseits der Gefängnismauern nichts Außergewöhnliches ist. Besonders zynisch allerdings war, dass BP die Gefangenen umsonst für sich arbeiten ließ, während die ortsansässige Bevölkerung durch die Ölkatastrophe in die Arbeitslosigkeit getrieben wurde und vor dem Ruin stand.

Wie sieht die Situation in Deutschland aus?
In Deutschland gibt es leider kaum Öffentlichkeit für das Thema. Dabei lud bereits 1995 die Berliner Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit zum ersten Spatenstich für ein privat finanziertes Gefängnis. 2004 wurde gemeldet, dass in Hessen erstmals die Führung einer Haftanstalt komplett in private Hände gelegt wurde. Die Justizvollzugsanstalt Burg in Sachsen-Anhalt wird vom Baukonzern Bilfinger Berger betrieben. Dass Konzerne auch hierzulande keine Hemmungen haben, von Zwangsarbeit zu profitieren, zeigen die Beispiele von IKEA, Quelle und Neckermann, die schon in den 1970ern und 1980ern Insassen von DDR-Gefängnissen für sich produzieren ließen.

Welche Schritte sind im Rahmen der ethecon-Kampagne geplant?

Wir sind keine Aktionsgruppe, sondern eine Stiftung. Wir wollen mit unserer Kampagne einen grundlegenden Anstoß geben, das Thema ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen, informieren mit einem Flugblatt und sammeln Unterschriften. Wir wenden uns mit einem Protestbrief an die US-Regierung und mit einem Offenen Brief an den Bundestag. Wir bitten um Aufklärung, wie weit fortgeschritten die Entwicklung in Deutschland bereits ist und was geplant ist, sowohl in Bezug auf die Arbeit von Strafgefangenen für Konzerne als auch auf die Privatisierung von Gefängnissen.

Wer unterstützt die Kampagne?
Bisher unterstützt uns vor allem die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt bei unserer Arbeit. Wir hoffen darauf, dass andere das Thema aufgreifen und vorantreiben. Wir freuen uns über jeden, der Interesse daran hat, diese verhängnisvolle Entwicklung zu stoppen.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/239868.haeftlinge-als-arbeitskraefte.html

Interview: Peter Nowak

„Heinz Buschkowsky schlägt Alarm“

Entfacht Buschkowsky erneut die von Sarrazin ausgelöste Debatte?

Der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky gehört zu den bekanntesten Berliner SPD-Politikern. Die Hauptstadt-SPD weiß diese Beliebtheit zu schätzen und stellt sich immer wieder vor Wahlen sehr öffentlichkeitswirksam hinter Buschkowsky, auch wenn der aus seiner politischen und persönlichen Freundschaft mit dem umstrittenen ehemaligen Berliner Senator Sarrazin nie einen Hehl gemacht hat. Lediglich dessen Rückgriff auf die Eugenik hatte Buschkowsky schon auf den Höhepunkt der Sarrazin-Debatte kritisiert. Nun hat Buschkowsky mit „Neukölln ist überall“ selber ein Buch veröffentlicht, das durchaus zu einer Debatte „Sarrazin Light“ führen könnte.

Im Stil von Sarrazin

Die Werbekampagne des Ullstein-Verlags ist durchaus darauf angelegt. Wird doch Buschkowsky ganz im Sarrazin-Stil als Autor vorgestellt, der sagt, was viele denken, aber angeblich nur wenige sagen. So heißt es dort:

„Heinz Buschkowsky schlägt Alarm: Zoff auf den Straßen, hohe Arbeitslosigkeit, Überfremdungsängste bei der einheimischen Bevölkerung das ist die Realität in Berlins Problembezirk Nr. 1. Doch Neukölln ist überall. Buschkowsky sagt, was sich in Deutschland dringend ändern muss.“

Als hätte es nicht bereits 2006 den Film Knallhart gegeben, der mit dem gleichen Gestus beworben wurde. Auch damals ging es um „Migrantengewalt in Neukölln“ und Buschkowsky hatte es verstanden, den Film zu einer Breitseite gegen naive Multikulti-Anhänger zu machen. Tatsächlich hat das Multikulti-Konzept Kritik verdient, weil es Menschen an die Herkunft und ihre daran verknüpfte Kulturen festnageln will. Doch in diesem Sinne ist Buschkowsky wie viele seiner Anhänger selber Kulturalist. Das macht sich schon daran fest, dass er Menschen, die teilweise in Deutschland geboren wurden und auch oft die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, als Migranten beschreibt, denen er, wenn sie sich nicht in Deutschland integrieren wollen, gerne beim Kofferpacken helfen würde.

Das ist nur ein Beispiel für den Buschkowskyschen Populismus, der sein Buch auch in den verschiedenen Ultrarechtsgruppen und Medien attraktiv macht. So hat sich der ehemalige NPD-Vorsitzende Voigt in einem aktuellen Gerichtsverfahren wegen Volksverhetzung in seiner Verteidigungsstrategie auf Buschkowskys Buch berufen.

Mittlerweile wird in verschiedenen Medien wie dem Freitag und der Taz über darüber diskutiert, wie viel Rassismus in Buschkowskys neuen Buch steckt. Freitag-Redakteurin Verena Schmitt-Roschmann sieht in dem Buch die Fortsetzung des „Stummsinns“, den Sarrazin vorgemacht hat. Alke Wirth sieht hingegen in Buschkowskys Buch den Rassismus des Kleinbürgers am Werk, gesteht ihm allerdings zu, als Politiker pragmatischer zu agieren denn als Buchautor und will in ihm keinen zweiten Sarrazin erkennen. Tatsächlich kalkuliert das Buch den Skandal ein und der Autor kann sich sofort als verfolgte Unschuld inszenieren, wenn der Vorwurf des Rassismus und Rechtspopulismus kommt. Genau darin aber besteht die Strategie vieler Rechtspopulisten.

Soziale Probleme kulturalisiert

Bisher gibt es bei den Buschkowsky-Kritikern eine wenig beachtete Gemeinsamkeit mit den Gegnern von Sarrazin. Sie verweisen auf rassistische Textstellen und vergessen die soziale Dimension. Wie Sarrazin hat sich auch der Neuköllner Bürgermeister schon öfter über freche Erwerbslose ausgelassen, deren einziges Ziel nicht Arbeit um jeden Preis sei

Wenn er jetzt schreibt, dass Integration eine Bringschuld sei, dass die „einheimische“ Bevölkerung ihr Land im Großen und Ganzen eigentlich ganz gut finde und von Zugewanderten, auch denen der 2. und 3. Generation, eine Anpassung an die hiesigen Lebensweisen erwarte, dann grenzt er auch alle die Menschen mit aus, die die Zustände hier überhaupt nicht gut finden. Gerade in Neukölln boomt der Niedriglohnsektor und die Zahl der Hartz IV-Empfänger mit und ohne Lohnarbeit steigt. Davon sind Menschen betroffen, deren Eltern nach Deutschland eingewandert sind, aber auch alte Neuköllner und zunehmend auch die sogenannten jungen Kreativen, die nach Nordneukölln ziehen.

In diesem Sinne bekommt der Slogan „Neukölln ist überall“ eine ganz neue Bedeutung. Es ist ein Labor für schlechte Arbeitsbedingungen, Niedriglohn und Hartz IV. Doch Buschkowsky versteht es genau wie Sarrazin, diese sozialen Zustände mit den sich daraus ergebenden Problemen zu kulturalisieren, indem er den Jugendlichen, deren Vater eingewandert ist, zum Problem erklärt und nicht die sozialen Verhältnisse, die auch die Menschen tangieren, die schon seit Generationen hier leben. Diese Aufteilung wird von dem Großteil der Betroffenen nachvollzogen. Das ist der Grund von Buschkowskys Beliebtheit über Neukölln hinaus. In der Ignorierung dieser sozialen Dimension besteht auch der blinde Fleck vieler Buschkowsky- und Sarrazin-Kritiker.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152853
Peter Nowak

Monate auf Visa warten?

Sevim Dagdelen moniert lange Wartezeiten für die Visa nach Deutschland

nd: Sie monieren lange Wartezeiten für die Visa nach Deutschland. In welchen Ländern dauert es besonders lange – und wie lang muss man sich dort gedulden?
Dagdelen: Besonders betroffen sind beispielsweise Russland und China, aber auch die Ukraine oder Ägypten. Die Wartezeit etwa in Shanghai und Kairo beträgt neun, in Moskau, Nowosibirsk oder Peking inzwischen fünf und sechs Wochen. In Kiew sind es sogar 11 Wochen bei normalen Besuchsreisen. Dazu muss man wissen, dass allein Moskau, Nowosibirsk, Shanghai und Peking mit weit über 500 000 Anträgen mehr als ein Viertel aller Visaanträge ausmachen. In Russland ist die Zahl der zu bearbeitenden Visaanträge pro Mitarbeiter/in zuletzt um 15 Prozent gestiegen.

Was ist der Grund? Abschreckung – oder Ineffektivität nach der teilweisen Privatisierung der Visaerteilung?
Lange Wartezeiten schrecken ab, zumal wenn ein großer finanzieller und zeitlicher Aufwand mit fraglichem Ausgang betrieben werden muss. Die Erteilungspraxis ist überaus streng. Bei den Hauptherkunftsländern von Asylsuchenden und afrikanischen Staaten gibt es Ablehnungsquoten von einem Drittel bis über 50 Prozent. Familienbesuche und der wichtige zivilgesellschaftliche Austausch werden durch diese restriktive Visapraxis behindert. Aber auch die wirtschaftlichen Beziehungen werden erschwert. Die Teil-Privatisierung des Visumverfahrens ist für die Betroffenen mit erheblichen Mehrkosten verbunden. »Externe Dienstleister« sollen nach EU-Vorgaben eigentlich nur als »letztes Mittel« zum Zuge kommen. Hiervon kann aber keine Rede sein, wenn die Bundesregierung nicht einmal genügend Personal in den Botschaften einsetzt wie etwa in Russland.

Sie sehen durch die Verzögerungen bei der Visavergabe das EU-Recht verletzt.
Es geht um Artikel 9 Absatz 2 des Visakodex. Dabei handelt es sich um eine verbindliche Verordnung der EU aus dem Jahre 2009. Danach müssen Auslandsvertretungen Antragstellenden innerhalb von zwei Wochen einen Termin zur Beantragung eines Schengen-Visums geben. Diese Frist kann nur in Ausnahmefällen überschritten werden. Bei der deutschen Visapraxis kann von einer Ausnahme aber keine Rede sein, wie die deutlichen Fristüberschreitungen, zum Teil über Monate hinweg, zeigen. Die Bundesregierung versucht, sich mit Verweisen auf saisonale Schwankungen und Reisestoßzeiten zu rechtfertigen. Ein Handbuch zum Visakodex sieht allerdings vor, dass die Personalkapazitäten so anzupassen sind, dass die Frist auch in Stoßzeiten eingehalten werden kann. Da die Bundesregierung das nicht tut, habe ich Beschwerde bei der EU-Kommission eingelegt und Zahlenmaterial über die untragbaren Zustände in wichtigen deutschen Botschaften übermittelt.

Könnten die Visa nicht einfach abgeschafft werden?
Tatsächlich ist für die LINKE die Beseitigung der Visumspflicht noch immer die beste Erleichterung. Damit stehen wir parlamentarisch allerdings allein. Deshalb fordern wir die Bundesregierung zumindest zu einer grundlegenden Korrektur und Liberalisierung der Visapolitik auf. Die Visaregeln und Anforderungen im Verfahren müssen so weit wie möglich gelockert, das Personal aufgestockt und das Verfahren insgesamt erleichtert werden.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/239705.monate-auf-visa-warten.html
Interview: Peter Nowak

»Unser Weg ist nicht der einzig wahre«

Kaum eine Erwerbslosengruppe hält so lange durch wie die ALSO in Oldenburg – ein Gespräch über die Gründe
Die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) feiert ihr 30-jähriges Bestehen, was in der Erwerbslosenbewegung eine Rarität ist. PETER NOWAK sprach für »nd« mit dem ALSO-Aktivisten MICHAEL BÄTTIG, was sie anders machen, als andere Gruppen. Bättig ist seit Jahren bei der Gruppe aktiv.

nd: Wieso gibt es die ALSO seit 30 Jahren, während viele andere Erwerbslosengruppen immer wieder zerfallen? Was machen Sie anders?
Bättig: Das liegt an unserer Organisationsform: Wir kämpfen für kommunale Zuschüsse, organisieren Spenden und nutzen das Geld für eine unabhängige Sozialberatung in einem eigenen sozialen Zentrum mit moderner Infrastruktur. Wir sind undogmatisch und offen und behaupten nicht, unser Weg sei der einzig wahre. Deshalb stecken wir unsere Kraft auch mehr in unsere Organisation, Aktionen und Vernetzung als in die Kritik an Anderen. Wir haben uns zu einem Projekt entwickelt, das vielleicht ein kleines Beispiel für Selbstorganisation mit dem Ziel einer gerechten und solidarischen Gesellschaft sein könnte.

Hat sich Ihre Arbeit durch Hartz IV geändert?
Als die Arbeitsmarktreformen eingeführt wurden, sind Erwerbslosigkeit, Armut und Ausgrenzung für einen historischen Moment zur zentralen gesellschaftlichen Auseinandersetzung geworden. Hartz IV fasst alle Erwerbslosen in den Jobcentern zusammen und wirft die Frage auf, unter welchen Bedingungen Menschen in dieser Gesellschaft leben, arbeiten und wohnen sollen. Aber über die Ausdehnung von Arbeit in jeder Form und um jeden Preis bis in die letzten Winkel der Gesellschaft werden sie gleichzeitig stigmatisiert, mobilisiert und wieder auseinandergetrieben. Es ist nicht nur die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die weitere Prekarisierung der Arbeit, sondern die systematisch und flächendeckend betriebene Ausmerzung jeglicher »Nicht-Arbeit« aus unser aller Leben, mit der Hartz IV auch zur Desorganisation solidarischer, antikapitalistischer Projekte beigetragen hat. Selbst bei mehr als fünf Millionen Erwerbslosen hat kein Mensch mehr Zeit.

Ihre Gruppe begleitet Erwerbslose zu Terminen im Jobcenter. Welche Erfahrungen machen Sie dabei?
Begleitaktionen sind Prozesse der Selbstermächtigung und Selbstorganisation. Die Anwesenheit einer weiteren Person hilft, vorenthaltene Leistungen durchzusetzen. Die Aktionen sind praktische Demonstration von Gegenmacht und Aufklärung: Fiese Sachbearbeiter werden in ihre Schranken verwiesen, und die entwürdigende Alltagsmassenverwaltung der Jobcenter wird für einen Moment aufgebrochen. Das stärkt das Selbstbewusstsein, gibt Würde zurück. Im glücklichen Fall führen die Aktionen dazu, dass sich die Leute in Zukunft gegenseitig begleiten. Im unglücklichen Fall werden sie beim nächsten »Alleingang« zusammengefaltet und ziehen daraus die übliche Lehre, »dass man besser die Fresse hält«. Begleitaktionen hätten das Potenzial zu einer breiteren gesellschaftlichen Bewegung über die Jobcenter hinaus. Darüber müsste eigentlich bundesweit nachgedacht werden.

Die ALSO hat vor zwei Jahren maßgeblich die Demonstration »Krach schlagen statt Kohldampf schieben« organisiert und dafür ungewöhnliche Bündnispartner wie die Milchbauern gewonnen, die über niedrige Milchpreise klagen. Was ist Ihr Resümé?
Wir haben uns neu bewegt. Bündnisse von Erwerbslosennetzwerken mit der Ökologiebewegung, mit kämpferischen Bauern und kritischen Verbraucherverbänden hat es vorher so nicht gegeben. Wir haben dadurch politisch die Verbindung von Hartz-IV-Regelsätzen und Niedrigeinkommen mit Fragen ökologischer Lebensmittelproduktion und -verteilung hergestellt. Dass die Form der industriellen Nahrungsmittelproduktion, die Zerstörung der Umwelt und die Ausbeutung der endlichen Ressourcen weltweit zu Schranken bei der vollständigen Aneignung von äußerer Natur und menschlicher Arbeitskraft geworden sind, zeigt ein Blick in jede Tageszeitung. Aber das ist nur eine Chance, der Rückenwind, der bläst: Ob daraus eine internationale Protestbewegung wird, liegt auch an uns.

Müsste sich die Erwerbslosenbewegung europaweit vernetzen?

Mit über 18 Millionen ist die Zahl der Erwerbslosen ist der EU auf ein neues Rekordniveau gestiegen. In Spanien und Griechenland ist jeder Vierte erwerbslos, bei Jugendlichen ist es jeder Zweite. Es wäre schön, wenn von deutschen Erwerbslosennetzwerken Signale der Solidarität in diese Länder gesendet und aus diesen Ländern empfangen werden könnten. Am besten sind gemeinsame Aktionen wie etwa Blockaden vor einschlägigen Institutionen. Vielleicht führt die weitere soziale und ökonomische Entwicklung in Europa dazu, dass sich so etwas entwickelt. Es wäre naiv zu glauben, dass Deutschland weiter eine Insel der Glückseligen bleiben kann.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/239756.unser-weg-ist-nicht-der-einzig-wahre.html
Interview: Peter Nowak

Zivilgesellschaft statt Verbot

Es könnte Szenarien geben, die eine Vorführung des Mohammed-Trailers ohne Rückgriff auf staatliche Verbote und Religionsschutz verhindern

Eine bunte und friedliche Demonstration sei es gewesen, der Anmelder habe im Vorfeld mit der Polizei kooperiert und ein Sprecher der Polizei erklärte im Nachhinein, dass die Aufregung im Vorfeld bei den Medien größer gewesen sei als bei ihnen. So wie in Freiburg haben in den letzten Tagen auch in anderen deutschen Städten jeweils einige hundert Menschen gegen den von rechten Christen aus den USA lancierten Mohammad-Movie-Trailer protestiert.

Dass hier also das Recht auf Meinungsfreiheit völlig im Rahmen des deutschen Demonstrationsrechts in Anspruch genommen wurde, ist für den Großteil der Medien nicht besonders interessant. Da werden noch immer zum großen Teil die Nachrichten aus den Ländern in den Mittelpunkt gestellt, in denen die Proteste gegen den Trailer gewalttätig verlaufen sind. Dabei wird oft unterschlagen, dass auch in den arabischen, asiatischen und afrikanischen Ländern, in denen es Proteste militanter Islamisten gab, nur eine verschwindende Minderheit beteiligt war. Dass fast zeitgleich in Ägypten ungleich mehr Menschen gegen soziale Missstände demonstriert und gestreikt haben, war hingegen in Deutschland kaum jemandem eine größere Nachricht wert.

Unfähig, die Welt im Plural zu denken

Man muss nun den Medien nicht unterstellen, dass sie hier bewusst ein Feindbild des Islam aufbauen oder gar „Islamophobie“ schüren wollen. Viel besser bringt es die Kennerin vieler islamisch geprägter Länder, die Reisekorrespondentin Charlotte Wiedemann, mit der Formulierung auf den Begriff, dass hier „die Unfähigkeit, die Welt im Plural zu denken“ deutlich werde. Tatsächlich sind in der Debatte um den Kurzfilm solche differenzierten Stellungnahmen noch immer die Ausnahme. Zu den Ausnahmen gehört auch das Kompetenzzentrum Islam der Aktion 3.Welt Saar, das in einer Pressemitteilung sowohl auf die antisemitischen und antiamerikanischen Töne der islamistischen Kampagne der letzten Tage hinwies, aber auch die rassistischen Untertöne in den hiesigen Medien benannte.

„Die in den Medien geführte Diskussion zu den Vorfällen trägt auch rassistische Züge. Moslems und Araber werden nicht als entscheidungsfähige, handelnde Subjekte gesehen, sondern als Pawlow’sche Hunde, die nicht anders können, als bei jeder vermeintlichen Beleidigung des Propheten Mohammed instinktiv mit Gewalt zu reagieren. Diese rassistische Grundhaltung teilen offenbar manche Anhänger der multikulturellen Gesellschaft und Politiker verschiedener Parteien mit den Rechtspopulisten von ‚Pro Deutschland‘, die jetzt mit dem Film hausieren gehen.“

In der Pressemitteilung wird zudem gegen ein Verbot des Films argumentiert, das schnell auch dazu führen könnte, religionskritische Stimmen generell zum Schweigen zu bringen. Zumindest bei manchen Stellungnahmen aus dem Spektrum der CSU, in denen einer Verschärfung des Paragraphen 166 das Wort geredet wurde, ist die Befürchtung tatsächlich nicht von der Hand zu weisen. Denn dabei geht es um die Sanktionierung einer angeblichen Schmähung der Religion.

Das Dresden-Szenario

Statt eines Verbotes sollte eine gesellschaftliche Debatte darüber geführt werden, ob der Film gezeigt werden soll oder nicht. Dass die bereits im Gange ist, zeigte die Abfuhr, die sich Cinema for Peace holten, als sie als eine Art Trittbrettfahrer des Medienhypes über den Film kurzzeitig ankündigten, ihn demnächst in Berlin zeigen zu wollen. Wahrscheinlich wollten sie damit vor allem das Medieninteresse auf ihr dahin dümpelndes Projekt lenken und hatten noch nicht einmal den Geschäftsführer des Kinos vorher kontaktiert, in dem Cinema for Peace den Film zeigen wollte.

Es wäre absurd, ihm deswegen den Vorwurf zu machen, er würde das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränken. Es ist ein Unterschied, ob ein staatliches Verbot durchgesetzt werden soll oder ob sich Kinobetreiber, Filmverleiher und auch Filmvorführer weigern, den Film zu zeigen. Letzteres ist eine zivilgesellschaftliche Entscheidung, die sich vor allem gegen das Umfeld und die politische Stoßrichtung derer richtet, die lautstark verkünden, den Trailer öffentlich zeigen zu wollen. Dagegen zu protestieren, könnte auch das Ergebnis jener „breiten gesellschaftlichen Diskussion“ sein, die Bundesinnenminister Friedrich am Sonntag im Interview mit dem Deutschlandfunk einforderte. Nur sollte es dabei nicht um den „Schutz religiöser Gefühle“ gehen, wie Friedrich sich ausdrückte, sondern um eine Absage sowohl an Islamismus, aber auch an Rassismus und Rechtspopulismus.

Friedrich gibt in dem Interview auch den Hinweis darauf, dass es ein Szenario geben könnte, das eine öffentliche Filmvorführung aus der rechten Ecke ohne Rückgriff auf den Schutz der Religionen verhindern könnte.

„Wenn konkret zu befürchten wäre, dass es Unruhen und Auseinandersetzungen – gewalttätige Auseinandersetzungen – gibt, die Sie nicht beherrschen können auf andere Art und Weise, dann könnte man so etwas untersagen. Aber das wäre etwas, was im Einzelfall ganz konkret vor Ort von den Länderbehörden zu beurteilen wäre.“

Das ist das gleiche Szenario, das in der Vergangenheit schon die Durchführung vieler rechter Demonstrationen beispielsweise in Dresden verhindert hat. Politiker, die immer nach Verboten und staatlichen Sanktionen rufen, wären dann wieder einmal durch die Aktivitäten der Zivilgesellschaft blamiert.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152839
Peter Nowak

Neoliberale Rhetorik

Trotz wochenlanger Proteste hält die schwarzgelbe sächsische Landesregierung an ihren hochschulpolitischen Plänen fest. Am vergangenen Montag wurde in einer nichtöffentlichen Sitzung des sächsischen Wissenschaftsausschusses mit den Stimmen der Vertreter von CDU, FDP und der NPD beschlossen, dass Studierende, die vier Semester über der Regelstudienzeit liegen, künftig Gebühren zahlen müssen. Zudem sollen die Studierenden aus der Verfassten Studierendenschaft aussteigen können und künftig selbst entscheiden, ob sie Geld für die demokratische Mitbestimmungsorgane aufbringen wollen (siehe Artikel auf dieser Seite). Studentenvertreter schlagen Alarm und verweisen auf das Beispiel Sachsen-Anhalt, wo nach der Einführung einer ähnlichen Regelung bis zu 80 Prozent der Studierenden keinen Cent mehr für ihre Vertretung zahlen.

Das Tückische an den Neuregelungen besteht darin, dass die Befürworter mit dem Aufbrechen von Zwangsmitgliedschaften und dem Recht der individuellen Entscheidungsfreiheit argumentieren. Sie bewegen sich damit ganz auf der Linie der Jungen Union, die mit den gleichen Vokabeln die Asten und Studierendenräte für entbehrlich hält. Hier wird der Demokratieabbau mit dem Begriffen neoliberaler Rhetorik durchgesetzt. Eine durch die Umstrukturierung der Hochschulen vorangetriebene Marktförmigkeit der Bildung hat auch zum Neoliberalismus in den Köpfen vieler Studierender geführt. Linke Studentenorganisationen stehen jetzt vor einer Herausforderung: Sie müssen die ständische Verfasstheit der Hochschulen verteidigen, weil daran die Frage der Finanzierbarkeit ihrer Arbeit hängt, ohne dabei das Kritikwürdige an dieser Struktur zu vergessen.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/
239214.neoliberale-rhetorik.html
Peter Nowak

Klassiker der Anti-AKW-Bewegung verfilmt

»Friedlich in die Katastrophe« bietet auch Gelegenheit zu kritischer Rückschau

Mit 1360 Seiten ist das Buch »Friedlich in die Katastrophe« von Holger Strohm ziemlich monumental. Wer vor der Lektüre des dicken Wälzers zurückschreckt, kann sich ab 27. September im Kino ein filmisches Update des Klassikers der Anti-AKW-Bewegung ansehen.

In einem neuen, zweistündigen Film des Regisseurs Marcin El bringt der Publizist Holger Strohm mit jungen Filmemachern seine Kritik an der AKW-Technologie auf die Leinwand und gibt gleichzeitig Einblick in die Geschichte einer Bewegung. Wir begegnen wichtigen Exponenten der Anti-AKW-Bewegung wie dem Zukunftsforscher Robert Jungk, dem Fotochronisten Günter Zimt, der langjährigen Wendland-Aktivistin Marianne Fritzen, aber auch Hanna Poddig, die in den letzten Jahren durch Aktionen zivilen Ungehorsams bekannt geworden ist.
Antibiotika

Holger Strohms Buch brachte »einen erheblichen Niveausprung in der bundesdeutschen Kernkraft-Kritik«, so der Historiker Joachim Radkau. Dabei sprach zunächst nichts dafür, dass das Buch einmal ein solches Echo bekommen sollte. Es ist schon 1971 entstanden, als sich die Kritik an der Atomtechnologie auch in der Linken in der Hauptsache gegen die Kernwaffen richtete. Die friedliche Nutzung der Atomkraft dagegen hatte damals auch noch in Robert Jungk einen begeisterten Fürsprecher, der später jedoch mit seinen Buch »Atomstaat« die Gegenbewegung ebenso prägen sollte wie Strohm. Der hatte anfangs Schwierigkeiten, überhaupt einen Verlag zu finden. Als das Buch 1981 beim Verlag Zweitausendeins herauskam, wurde es zu einem Bestseller. Denn mittlerweile hatte der Atomunfall von Harrisburg weltweit zum Anwachsen der Anti-AKW-Bewegung beigetragen.

Besonders in Deutschland legten viele Aktivisten ihre Marx- und Leninbände beiseite und widmeten sich fortan dem Widerstand gegen die Atomkraftwerke. Dabei konnten sie Strohm nicht nur im theoretischen Disput erleben. Das langjährige SPD-Mitglied war wegen seiner AKW-Kritik 1978 aus der Partei ausgeschlossen worden und kandidierte als Spitzenkandidat der »Bunten Liste – Wehrt Euch«, die später zur Grün-Alternativen Liste werden sollte, für die Hamburger Bürgerschaft.

Linke Teile der Anti-AKW-Bewegung übten zunehmend Kritik an Strohms katastrophischem Weltbild, das auch den Film prägt. Die Endzeitstimmung der späten 80er und frühen 90er Jahre hat auch dazu geführt, dass Gesellschaftskritik oft zugunsten von spirituellen Welterklärungsmustern aufgegeben wurde. Auch dafür ist Strohm ein Beispiel. Der Film bietet so nicht nur die Chance, ein wichtiges Werk der Anti-AKW-Bewegung kennen zu lernen, sondern zugleich auch Anregungen, sich kritisch mit der Geschichte und den Argumenten der AKW-Bewegung zu beschäftigen.

»Friedlich in die Katastrophe« hat am 24.9. um 20 Uhr im Hamburger Kino Abaton und am 29.9. um 17.15 und 19.45 Uhr im Berliner Lichtblick-Kino (www.lichtblick-kino.org ) Premiere. Strohm und der Regisseur sind anwesend.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/
239543.klassiker-der-anti-akw-bewegung-verfilmt.html
Peter Nowak

Mietaktivisten auf der Straße

Am Samstag protestieren Initiativen unter der Parole „Wir bleiben alle“ gegen Mieterhöhungen und Verdrängung. An der Spitze werden neben der Kreuzberger MieterInneninitiative Kotti und Co. die Palisadenpanther und die SeniorInnen der Stillen Straße 10 gehen. Sie haben vor mehreren Monaten einen von der Schließung bedrohten Seniorentreffpunkt in Pankow besetzt (siehe Seite 41). Die Palisadenpanther wehren sich dagegen, dass die Mieten ihrer Wohnungen in einer Seniorenanlage in der Friedrichshainer Palisadenstraße 41 bis 46 um bis zu 100 Prozent steigen sollen.

„Wir wollen mit der Demospitze deutlich machen, dass sich der MieterInnenwiderstand im letzten Jahr erheblich verbreitet hat“, erklärt Martina Meister vom Vorbereitungskreis. Schon letzten September haben mehrere tausend Menschen unter dem Motto „Keine Rendite mit der Miete“ in Kreuzberg, Neukölln und Treptow demonstriert. Wie damals legen die VeranstalterInnen auch Wert auf Unabhängigkeit von allen Parteien. Anders als 2011 wird die Demo in Prenzlauer Berg beginnen.
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?
ressort=ba&dig=2012%2F09%2F22%2Fa0254&
cHash=8936a7c862f84b6662f4c6612d10fe8c
Peter Nowak

Rösler und der Romneyeffekt

Auch in Deutschland gehört eine Verachtung der Einkommensschwachen bei Politikern, die Ungleichheit fördern, längst zum Alltag

Der Staat wird ärmer und die vermögenden Schichten reicher, lautet das Fazit des Reichtumsberichts der Bundesregierung. Dabei handelt es sich um die Folge einer Politik, die von den Bundesregierungen unterschiedlicher Couleur in den letzten Jahren betrieben wurde. Die Ergebnisse des Berichts sind wahrlich keine Überraschung, wie der soziale Kahlschlag in vielen Kommunen zeigt. Doch für Teile der Bundesregierung scheint das Problem nicht die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, sondern der Bericht, der diese Fakten in Zahlen fasst.

Der FDP-Wirtschaftsminister Philipp Rösler ließ prompt via Handelsblatt mitteilen, dass er die Veröffentlichung des Reichtumsberichts nicht mitträgt, weil die Gefahr bestehe, dass er für eine Diskussion um eine stärkere Vermögensbesteuerung herangezogen werden könnte.

Dabei stieß sich Rösler vor allem an dem Passus in dem Bericht, in dem von einem Prüfauftrag die Rede ist, „ob und wie über die Progression in der Einkommensteuer hinaus privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann“. Hier wird also die Frage aufgeworfen, ob es sich eine Gesellschaft leisten kann, dass mitten im wachsenden Reichtum für Wenige, die Einrichtungen der sozialen Daseinsvorsorge für die Mehrheit der Bevölkerung, seien es Schwimmbäder, Theater oder der öffentliche Nahverkehr immer mehr reduziert werden müssen.

Linksabweichlerin von der Leyen?

Doch für Rösler und die FDP scheint allein schon eine solche Frage den Sozialismus heraufzubeschwören. „Noch mehr Umverteilung“ sei für sein Ministerium nicht zustimmungsfähig, ließ er dem Handelsblatt mitteilen. Bald stellten sich nur seine Parteifreunde, sondern auch Bundeskanzlerin Merkel hinter ihm. Höhere Steuern würden vor allem den Mittelstand in Deutschland schaden, hieß es.

Der konzernnahe wirtschaftspolitische Sprecher Michael Fuchs der Union warf seiner Parteifreundin, der Arbeitsministerin von der Leyen vor, mit der Veröffentlichung des Armutsberichts den Koalitionsvertrag zu verletzen. Finanzstaatssekretär Steffen Kampeter sah in dem Bericht gar „Linksrhetorik pur“. Innerhalb weniger Wochen wurde damit von der Leyen zweimal in die Nähe einer Linksabweichlerin gerückt. Auch mit ihrer Initiative für eine Zusatzrente geriet sie in diesen Ruch, obwohl bei ihrem Modell eine lange Lebensarbeitszeit und eine private Rentenversicherung festgeschrieben sind.

Nachdem von der Leyen dann auch noch das um Nuancen sozialere Rentenmodell der SPD gelobt hat, gab es erste Kommentare, die sich schon Gedanken darüber machen, ob sich von der Leyen vielleicht als Merkel-Nachfolgerin in einer großen Koalition nach den nächsten Wahlen ins Spiel bringen will. Schließlich hatte auf dem SPD-Zukunftskongress der rechte Sozialdemokrat und aussichtsreiche Bewerber für die SPD-Spitzenkandidatur Peer Steinbrück erstaunlich deutlich erklärt, keinen Posten in einem Kabinett unter Merkel annehmen zu wollen Natürlich fiel manchen Kommentatoren sofort auf, dass er einen Posten unter von der Leyen nicht ausgeschlossen hat.

Allerdings sollte der aktuelle Streit auch nicht überinterpretiert werden. Von der Leyen hat als Arbeitsministerin eine andere Rolle in der Bundesregierung als Rösler und auch Merkel und muss hier die soziale Komponente berücksichtigen. Es dürfte sich bei den aktuellen Auseinandersetzungen um die Altersarmut und den Reichtumsbericht also eher um ein Spiel mit verteilten Rollen innerhalb der Bundesregierung handeln als um einen grundlegenden Richtungsstreit.

Dabei hat allerdings die soziale Komponente eindeutig eine Minderheitenposition. Merkel und Rösler machen hier noch einmal deutlich, dass ihnen die Interessen der Kapitalbesitzer alle näher sind als der Menschen, die sich wegen mangelndem Einkommen immer mehr einschränken müssen. Schließlich ist es die Folge einer nicht nur von der gegenwärtigen Bundesregierung vorangetriebenen Politik. Die Vermögenssteuer ist schon unter Rot-Grün beträchtlich gesenkt worden.

„Eure Armut kotzt uns an“
US-Präsidentschaftskandidat Romney geriet vor wenigen Tagen in die öffentliche Kritik, als er auf einer nicht für die große Öffentlichkeit bestimmten Rede vor vermögenden Wahlhelfern davon sprach, dass er es nicht als seine Aufgabe ansieht, sich um die ärmere Hälfe der US-Bürger, die auf staatliche Leistungen angewiesen ist, zu kümmern. Sofort merkten Kritiker an, so etwas könne sich ein Präsidentschaftskandidat nur in den USA erlauben.

Die Reaktion von Rösler, Merkel und Co. auf die Veröffentlichung des Reichtumsbericht zeigt, wie unrecht sie haben. Auch in Deutschland gehört eine Verachtung der Einkommensschwachen bei denen, die mit ihrer Politik Ungleichheit fördern, längst zum Alltag. Westerwelle hat mit seinem Lamento über die spätrömische Dekadenz dafür ebenso die Stichworte geliefert wie Sarrazin mit seiner Hetze gegen Transferleistungsbezieher. In dieser Tradition stehen auch Merkel und Rösler, wenn sie schon in einem Bericht über die Armut die Gefahr sehen, es könne eine Diskussion aufkommen, wie die Einkommensverhältnisse fairer gestaltet werden könnten.

Das ist das erklärte Ziel eines breiten Bündnisses, das mit einem Aktionstag am 29. September an die Öffentlichkeit treten will. Zu den Aktionsformen gehören unter anderem eine Demonstration, die rückwärts läuft, um den sozialen Rückschritt deutlich zu machen. Ob man damit allerdings die Romney-Adepten an der Spree beeindruckt, darf bezweifelt werden. Vielleicht würde ihnen eher der Spiegel vorgehalten, wenn Demonstranten mit Merkel- und Röslermasken Schilder mit der Aufschrift „Eure Armut kotzt uns an“ tragen würden.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/152819
Peter Nowak

Strafrecht nicht effektiv

Die Fraktion der Piraten will »Schwarzfahren« entkriminalisieren

Im letzten Jahr verbüßten nach Auskunft der Berliner Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz 1269 Personen eine Freiheitsstrafe in Berliner Gefängnissen, weil sie wegen Fahrens ohne Fahrschein im öffentlichen Nahverkehr erwischt wurden und die verhängte Geldstrafe nicht zahlen konnten. Im Jahr 2010 verbüßte ein Drittel der Insassen der JVA Plötzensee eine mehrmonatige Haft wegen Beförderungserschleichung, wie der Vorgang in der Juristensprache heißt.

Die Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus strebt eine Entkriminalisierung des Fahrens ohne Ticket an. Sie will einen Antrag in das Abgeordnetenhaus einbringen, in dem das Land Berlin aufgefordert wird, sich im Bundesrat dafür einzusetzen, dass das Delikt der Beförderungserschleichung aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wird. Am Montagabend hatte die Piratenfraktion zu dieser geplanten Bundesratsinitiative zur Podiumsdiskussion verschiedene Juristen ins Berliner Abgeordnetenhaus eingeladen. Vor dem nicht sehr zahlreich erschienenen Publikum sprach sich der Jurist des Verbandes deutscher Verkehrsunternehmer Thomas Hilpert vehement gegen die Initiative aus. Sie fördere diejenigen, die »eine gestörte Beziehung zum Recht haben«, monierte er.

Hilpert räumte ein, dass die intensiven Fahrscheinkontrollen nicht mehr Geld in die Kassen der Verkehrsbetriebe spülen. Schließlich muss das Personal bezahlt werden. Hilpert sieht in den Kontrollen vor allem ein Disziplinierungsinstrument. Das es nur bei den Menschen funktioniert, die noch das Geld für ein Ticket haben, gab Rechtsanwalt Oliver Heischel zu bedenken. Der Vorsitzende des Vollzugsbeirates berichtet aus seiner alltäglichen Berufspraxis, dass es »die Ärmsten der Armen« sind, die wegen mehrmaligem Fahren ohne Ticket im Gefängnis sitzen, weil sie die Geldstrafe nicht zahlen können. Auch der Richter am Berliner Landgericht Ulf Buermeyer sieht im Strafrecht »kein effektives Mittel«, um mit sozialen Problemen umzugehen. Hier konnte der rechtspolitische Sprecher der Piratenpartei Simon Weiß anknüpfen. »Viele Menschen fahren ohne Ticket, weil sie kein Geld haben und nicht, weil sie ein gestörtes Verhältnis zum Recht haben. Hier ist das Strafrecht völlig fehl am Platze« widersprach er dem Juristen der Verkehrsbetriebe.

Allerdings betonte Weiß mehrmals, dass es seiner Partei nicht darum gehe, das Fahren ohne Fahrschein zu legalisieren. Schließlich könnten die Verkehrsbetriebe Schadenersatz mit Hilfe des Zivilrechts durchsetzen, gab er zu bedenken. Auf den Einwurf von Hilpert, wie Menschen, die so arm dran sind, dass sie die Geldstrafen nicht zahlen können, für die zivilrechtlichen Forderungen aufkommen sollen, konnte Weiß wenig erwidern. Es war ein Zuhörer, der in seinem kurzen Redebeitrag für ein Recht auf Mobilität unabhängig vom Geldbeutel eintrat. Solche sozialen Forderungen werden von Erwerbslosengruppen und der Initiative »Berlin fährt frei« propagiert. Auf der Podiumsdiskussion kamen sie nicht zu Wort. »Ich unterstütze die Entkriminalisierung, doch ich sehe es als einen Schwachpunkt, dass die soziale Komponente zu kurz kam«, lautet das Fazit einer Erwerbslosenaktivistin gegenüber »nd«.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/239172.strafrecht-nicht-effektiv.html
Peter Nowak

Bedroht in Hoyerswerda

Antifa-Gruppen fordern Gedenkort und Entschädigung für Naziopfer von 1991
Am Wochenende wollen Antifa-Gruppen in Hoyerswerda an die rassistischen Ausschreitungen von 1991 erinnern. Diese bildeten den Auftakt einer Serie von Angriffen auf Ausländer in Deutschland nach der Vereinigung.

Der Jahrestag der rassistischen Ausschreitungen in Rostock hat vor einigen Wochen für große Aktivitäten gesorgt, nicht nur seitens der antifaschistischen Bewegung, sondern auch der offiziellen Politik. Wenn für Sonnabend zwei linke Bündnisse zu einer Demonstration nach Hoyerswerda mobilisieren, wird die Teilnehmerzahl hingegen wohl im dreistelligen Bereich bleiben. Dabei war die sächsische Stadt der erste Ort in Deutschland, wo nach der Vereinigung Gewalt gegen Ausländer eskalierte. Unter dem Beifall Hunderter Schaulustiger griffen Neonazis im September 1991 ein Wohnheim von Vertragsarbeitern aus Vietnam und Mosambique an. Die Opfer wurden schließlich unter Polizeibegleitung in Bussen aus der Stadt gebracht.

Allerdings nicht in Sicherheit. »Viele mussten die Nacht in den Bussen verbringen und sind sofort abgeschoben worden«, erinnert sich Mathias Buchner an die unwürdige Behandlung der Opfer rechter Gewalt. Er ist Sprecher des Bündnisses »Pogrom 91«, in dem sich linke Aktivisten aus der Region zusammengeschlossen haben. Den Begriff rassistisches Pogrom haben sie bewusst gewählt, weil bei den Angriffen Tote bewusst in Kauf genommen worden seien, begründet Buchner die Wortwahl, die in Hoyerswerda nicht nur beim CDU-Bürgermeister, sondern auch bei Stadträten der LINKEN auf Ablehnung stieß. Die Demonstration am Sonnabend wird allerdings von LINKE-Politikern unterstützt, darunter die antifaschistische Sprecherin der Landtagsfraktion, Kerstin Köditz und die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke.

Auch die Linksjugend Solid mobilisiert zur Demo und versuchte Unterstützung in Hoyerswerda zu finden. Dabei wurden Solid-Aktivisten an ihrem Infostand auf dem Marktplatz von Neonazis bedroht. Anschließend versammelten sich die Rechten vor dem Büro der Partei, wo die Jugendorganisation eine Veranstaltung geplant hatte. Auf Anraten der Polizei musste sie vorzeitig abgebrochen werden, was nach Augenzeugenberichten von der mit Reichskriegsflagge aufmarschierten Neonazigruppe mit Applaus und den Rufen »Hoyerswerda bleibt braun« quittiert wurde. Bereits im vergangenen Jahr waren Opfer der Ausschreitungen von 1991, die zum 20. Jahrestag nach Hoyerswerda gekommen waren, von Neonazis erneut angegriffen worden. Dies sei auch ein Grund gewesen, in diesem Jahr wieder bundesweit nach Hoyerswerda zu mobilisieren, erklärt Martin Peters vom Bündnis »Rassismus tötet« gegenüber »nd«.

Die Initiativen fordern einen angemessenen Gedenkort und eine Entschädigung der Opfer. Die Stele, die im vergangenen Jahr aufgestellt wurde, erfüllt diesen Anspruch nicht. Sie spricht ganz allgemein von »extremistischen Ausschreitungen«. »Von Rassismus ist dort ebenso wenig die Rede, wie von der Unterstützung durch große Teile der Bevölkerung«, kritisieren die Antifagruppen. Eine Woche nach der Demonstration wird es im Rahmen der Interkulturellen Woche in der Kulturfabrik Hoyerswerda eine Veranstaltung mit den Herausgebern der Anthologie »Kaltland« geben, die das rassistische Pogrom thematisiert.

Demo, 22. September, 14 Uhr, Bahnhof Hoyerswerda

http://www.neues-deutschland.de/artikel/239012.bedroht-in-hoyerswerda.html
Peter Nowak

Kanton Bern darf weiter schnüffeln

Auskunftspflichten in Sozialhilfegesetz bestätigt

Die Schweiz gilt als Eldorado für Millionäre, die vehement auf ihr Bankgeheimnis bestehen. Für Sozialhilfebezieher gelten solche Privilegien nicht. Dass stellte kürzlich das Bundesgericht in einem Urteil klar, in dem es die Verfassungsmäßigkeit des seit Beginn dieses Jahres in Kraft befindliche Sozialhilfegesetzes des Kantons Bern überprüfen sollte. Geklagt hatten die Demokratischen Juristinnen und Juristen Bern (DJB) und das Komitee der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen Kabba. Ihr Hauptstreitpunkt in war der Zwang zur Datenabgabe, die in dem Berner Sozialhilfegesetz festgeschrieben ist. So müssen: Bewerber um Sozialhilfe bereits Einreichen ihres Antrags eine Vollmacht ausstellen, welche den Sozialbehörden Einblick in sensible persönliche Informationen wie Krankenakten oder Bankdaten ermöglichen soll.Zudem sollen Vermieter, Firmen, Familienangehörige oder WG-Mitbewohner bei Nachfragen der Sozialbehörden zur Datenabgabe verpflichtet werden. Kritiker sprechen von einem Zwang zur Denunziation.
Eine Mehrheit der Richter erklärte den Passus für verfassungsgemäß, eine Minderheit betonte in einem Sondervotum, dass in dem Sozialhilfegesetz festgelegt wird, dass die Vollmacht nur als letztes Mittel zur Anwendung kommen solle.
Für den Gerichtspräsidenten Rudolf Ursprung sind die er Zweifel, ob die buchstabengetreue Lesart des Gesetzes verfassungskonform ist, nicht beseitigt Die Sozialdienste hätten aber kein Interesse an einer verfassungswidrigen Auslegung, begründete das Mitglied der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP),warum er das Gesetz trotz Zweifel für verfassungskonform hält
.. Die SVP war in den letzten Jahren unter ihrem Vorsitzenden, dem Chemiefabrikanten Blocher, weit nach rechts gerückt und sorgt mit Kampagnen gegen Migranten, Moslems aber auch gegen Sozialhilfeempfänger für Schlagzeilen. Die Kläger zeigten sich trotz ihrer Niederlage in einer Erklärung zufrieden, dass das Gericht erkannt habe, dass die Vollmacht aus rein politischen Gründen in das Gesetz geschrieben wurde. Außerdem hoffen sie, dass mit dem Urteil einer extensiven Auslegung der Vollmacht Grenzen gesetzt sind. Besonders zufrieden zeigen sich allerdings neben der SVP die wirtschaftsliberale FDP. Nachdem die Verschärfung im Kanton Bern vor Gericht bestand hatte, gibt es auch in anderen Kantonen Überlegungen ähnliche Regelungen einzuführen. Die von manchen Demokratietheoretiker hochgelobten Volksabstimmungen sind dagegen kaum ein Hindernis, weil Interessen von Erwerbslosen und Sozialhilfeempfängern dort in der Regel keine Mehrheit bekommen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/238491.
kanton-bern-darf-weiter-schnueffeln.html

Peter Nowak

Hat die Bundesregierung zu stark auf den Dialog mit dem Islam gesetzt?

Unionspolitiker zielt mit seiner Kritik auch auf die Obama-Regierung

Wie gewohnt gibt es in der Bundesregierung und den sie tragenden Parteien die unterschiedlichsten Signale auch zum Umgang mit der gegenwärtigen Auseinandersetzung um den islamfeindlichen Mohammad Movie Trailer. Genau diese Signale sind zumindest von Angela Merkel gewollt, kann sie sich doch, wie heute wieder auf der Bundespressekonferenz als Pragmatikerin präsentieren.

Der CSU-Politiker Hans-Peter Uhl spricht sich dagegen für ein Verbot des Trailers aus und argumentiert mit außenpolitischen Rücksichten. Doch gleichzeitig können konservative Christen im Subtext auch in Uhls Erklärung heraushören, dass es keine grenzenlose Freiheit gäbe und dass die Grenzen der Religionskritik auch bei der nächsten Papstkarikatur aufgezeigt werden könnten.

Wer ist der Adressat der Kritik?

Ganz andere Akzente setzte der außenpolitische Sprecher der Union Philipp Mißfelder (http://www.philipp-missfelder.de/) in einem Deutschlandfunk-Interview. Dort wird scheinbar selbstkritisch eingeräumt, die radikalislamistischen Positionen in den arabischen Ländern unterschätzt zu haben. Doch schnell stellt sich die Frage nach dem Adressaten der Kritik. Seiner Partei stellt er selbstverständlich gute Noten aus: „Eins ist auf jeden Fall auch klar, wenn man den Arabischen Frühling sich anschaut, und da hat unsere Fraktion von Anfang an gewarnt. Es ist müßig, automatisch zu glauben, dass dadurch, dass jetzt in einigen Ländern mehr Freiheit herrscht, automatisch sich auch Demokratie und Menschenrechte, Religionsfreiheit verbessern. Das ist nicht der Fall.“

Dabei bleibt allerdings unklar, welche Konsequenzen Mißfelder aus dieser Einschätzung des arabischen Frühlings zieht, die übrigens in Israel schon vor einem Jahr laut wurde. Hat sich die Bundesregierung aus staatspolitischen Gesichtspunkt nicht richtig verhalten, als sie sich nicht aktiv am Sturz des Gaddaffi-Regimes beteiligte? Schließlich hat dies in der Flüchtlingsabwehr den EU-Staaten und beim Verhör mutmaßlicher Islamisten auch den USA gute Dienste erwiesen. Zudem dürften sich manche Anhänger des libyschen Regimewechsels fragen, ob sich das Unternehmen gelohnt hat, wenn dort nun die Islamisten, die man zunächst vom Gaddafi-Regime foltern ließ und dann bewaffnete, nun am Personal der US-Botschaft Rache nehmen. Sollte man nun trotzdem eine syrische Opposition weiter bedingungslos unterstützen, wenn mittlerweile auch vom Assad-Regime unabhängige Quellen bestätigen, dass Islamisten dort mittlerweile eine wichtige Rolle spielen?

Andererseits könnten auch die Anhänger eines spezifisch deutschen Umgangs mit dem Islam nach dem Sturm auf die deutsche Botschaft im Sudan zu einer kritischen Bilanz kommen. Die Dialog-Linie wird zumindest von den Islamisten nicht belohnt. Hier bietet sich ein Einfalltor für die Atlantiker, die in der Union, aber auch in der SPD und der FDP vertreten sind und einer stärkeren Kooperation mit den USA das Wort reden. Mißfelder gehörte schon in der Vergangenheit zu den Politikern, die vor einer zu starken Entfremdung von den USA warnten. Dabei geht es keinesfalls um eine Unterordnung, sondern um die Frage, ob sich deutsche Interessen eher in guter Kooperation mit den USA oder eher in mehr oder weniger deutlich artikulierten Dissens zu Washington besser vertreten lassen. Für Letzteres stand die rotgrüne Regierung unter Schröder während des Irakkriegs. Damals gehörte Merkel noch zu den Atlantikern. Da sich diese Position allerdings in der Bevölkerung als nicht mehrheitsfähig erwies, zeigte sie auch in dieser Frage viel Flexibilität. Diese Geschmeidigkeit kann man auch führenden Politikern von SPD und Grünen nicht absprechen, die im Libyen-Konflikt der Bundesregierung vorwarfen, nicht eindeutig auf Seiten der Gaddafi-Gegner Position bezogen zu haben.

Hoffnung auf Obama-Niederlage?

Doch Mißfelders Intervention zielt nicht nur auf die deutsche Innen- und Außenpolitik, sondern sehr deutlich wird auch Obamas Nahostpolitik und dabei besonders seine als Versöhnungsgeste verstandene Rede in Kairo kritisiert: „Wenn man die Rede von Obama in Kairo zugrunde legt, wenn man auch zugrunde legt, was er in der Türkei gesagt hat, und das mit der Realität vergleicht, dann ist man sehr weit davon entfernt. Das ist nicht zwangsläufig Barack Obamas Schuld, aber man muss wirklich sagen, es gibt eine große Lücke in der Politik im Nahen Osten, was den Führungsanspruch der USA angeht, und es gibt einfach kein konsequentes Konzept der USA.“ Damit reiht sich Mißfelder in den Reigen der Politiker in den USA, in Israel und in anderen Ländern ein, die den aktuellen islamistischen Furore um den Mohamed Trailer nutzen, um Obama zumindest Schwäche gegenüber der arabischen Welt vorzuwerfen. Der Vorstoß von Mißfelder hat keine unmittelbare Auswirkungen auf die aktuelle Außenpolitik. Sie soll vielmehr im Vorwahlkampf den Atlantikern, die in der Union besonders stark sind und ihre außenpolitische Linie auf Adenauer zurückführen, das Gefühl geben, dass sie in der Partei noch eine nicht unwichtige Stimme haben.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152798
Peter Nowak