Protest gegen »Vertafelung«

Initiativen fordern eine aktive Sozialpolitik

Auch in Deutschland wächst die Zahl der Menschen, die nur durch die regelmäßigen Besuche von Lebensmitteltafeln über die Runden kommen. Dort geben Händler ihre knapp vor dem Ablauf des Verfallsdatums .
stehenden Waren ab, die dann von den Tafeln in einem streng reglementierten Verfahren an die Bedürftigen teilweise kostenlos, teilweise gegen ein geringes Entgeld abgegeben werden. Mit der Einführung von Hartz IV hat die Zahl der Tafeln und ihrer Nutzer sprunghaft zugenommen. Mittlerweile sind knapp 1,5 Millionen Menschen, neben Erwerbslosen und Rentnern auch zunehmend Geringverdienende und deren Kinder auf die Tafeln angewiesen. Führende Politiker haben die Tafeln mittlerweile als Ersatz für eine staatliche Sozialpolitik akzeptiert. So wetterte auf der letzten Bundeskonferenz der Tafeln Ende Juni in Suhl der stellvertretende Ministerpräsident von Thüringen Christoph Matschie (SPD) mit dem Bundesvorsitzenden der Tafeln, dass die Bevölkerung Thüringens bis zum 20ten Jubiläum der Tafelgründung im April 2013 exakt 32 Tonnen Lebensmitteln sammeln würde.
Aktivisten von sozialen Initiativen sind davon gar nicht begeistert und haben angekündigt, und haben das „Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln“ gegründet. In einen offenen Brief an die Schirmherrin der Tafeln, die Bundesministerin für Familien, Jugend und Senioren Christina Schröder und Christoph Matschie formulieren sie ihre Kritik. „Der Boom der Tafeln ist das Ergebnis des kontinuierlichen Abbaus des Sozialstaats. Anstatt die Armut nachhaltig durch politisches Handeln zu bekämpfen, wird die private Wohltätigkeit als kostengünstiger Ersatz instrumentalisiert und gefeiert“, heißt es in dem Brief, der unter anderem von dem emeritierten Politologieprofessor und Sozialaktivist unterschrieben wurde.
Manchen Erwerbslosengruppen ist die wesentlich von Intellektuellen getragene Kritische Aktionsbündnis noch zu kompromissbereit.
So ist die langjährige Erwerbslosenaktivistin und Sprecherin der „Hartz-4 Plattform Brigitte Vallenthin aus dem Projekt wieder ausgestiegen. Sie wirft den Initiatoren des Kritischen Aktionsbündnis vor, sich nicht eindeutig gegen die Tafeln auszusprechen sondern Brücken zu den Betreibern der Tafeln bauen zu wollen. „Arbeitslose sollen sich nicht als Begleitmusik für 20-Jahre-Tafel-Jubelfeiern missbrauchen lassen“ betont Brigitte Vallenthin.
Beim ersten Treffen des „kritischen Aktionsbündnisses 20 Jahre Tafeln wurde für das Protokoll festgehalten: „Die Mehrheit der Anwesenden stellte sich hinter die Idee, nicht plakativ gegen die Tafeln zu sein bzw. vorzugehen“ und nur „einige Teilnehmer wünschten sich eine fokussierte Tafelkritik..
„Schon in der Vergangenheit war es schwierig, eine politische Kampagne unter dem Motto „Gegen die Vertafelung der Gesellschaft“ anzustoßen“, erinnert sich ein Aktivist des ehemaligen Berliner Sozialforums. Es hatte vor einigen Jahren eine Arbeitsgruppe gegründet, die sich mit der Vertafelung der Gesellschaft befassen wollte. „Über das Erstellen eines Thesenpapiers und das Verteilen einiger .Informationsblätter sind die Aktivitäten nicht hinausgekommen“. Er sieht einen Grund darin, auch in der ambivalenten Haltung vieler Erwerbsloser gegenüber den Tafel. Einerseits wird das rigide Kontrollsystem und das Gefühl zum Bittsteller abgestempelt zu werden immer wieder beklagt. Andererseits ist die Angst groß, ohne die Tafeln in noch größere Not zu geraten.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/233536.protest-gegen-vertafelung.html

Peter Nowak


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