Mehr Einfluss für den Bundestag in der EU


Bundesverfassungsgericht stärkt die Rechte des Bundestages, aber nicht die Demokratie in Europa

Die heutige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stärkt die Rechte des Bundestages in einem Europa, in dem Parlamentsrechte vor allem der Länder der Peripherie durch wesentlich von Deutschland mit initiierte Sparprogramme missachtet werden

„Grüner Sieg“, heißt es auf der Homepage der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/ Die Grünen. Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht ihren Antrag stattgegeben und die Bundesregierung gerügt, weil sie das Parlament zu spät und ungenügend über europäische Entscheidungen informiere.

Konkret hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Bundesregierung gegenüber den Deutschen Bundestag sowohl im Hinblick auf den Europäischen Stabilitätsmechanismus als auch hinsichtlich der Vereinbarung des Euro-Plus-Paktes in seinen Unterrichtungsrechten aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt hat.

Dieser Artikel räumt dem Bundestag in Angelegenheiten der EU weitgehende Informations- und Mitwirkungsrechte ein. Das Gericht erklärte jetzt, dass es sich auch bei den völkerrechtlichen Verträgen um solche Angelegenheiten der EU handelt, wenn sie in einem besonderen Näheverhältnis zum Recht der Europäischen Union stehen. Ausdrücklich stellt das Gericht klar, dass diese Informationspflicht sich nicht nur auf die Initiativen der Bundesregierung beschränkt: „Die Unterrichtungspflicht erstreckt sich vielmehr auch auf die Weiterleitung amtlicher Unterlagen und Dokumente der Organe, Gremien und Behörden der Europäischen Union und anderer Mitgliedstaaten.“

Der Bundestag müsse die Gelegenheit haben, sich mit den Initiativen zu befassen und eigene Stellungnahmen zu verfassen, bevor die Bundesregierung dazu rechtsverbindliche Erklärungen abgibt oder Vereinbarungen unterzeichnet. Die Grenzen der Informationspflicht sieht das Gericht im Grundsatz der Gewaltenteilung begründet. Solange bestimmte Vorhaben noch in der Beratungsphase sind, bestehe noch keine Pflicht, den Bundestag zu unterrichten. Wenn die Bundesregierung allerdings mit Zwischen- und Teilergebnissen an die Öffentlichkeit geht, müsse auch das Parlament informiert werden.


Ein guter Tag für die Demokratie und Europa?

Erwartungsgemäß feiern die Grünen die Entscheidung in den höchsten Tönen und sprechen von „einer guten Entscheidung für die Demokratie in Deutschland und Europa“. Doch gerade hier müssten Fragezeichen gesetzt werden. Tatsächlich stärkt die Gerichtsentscheidung zunächst lediglich die Rechte des Deutschen Bundestags – auch bei europäischen Entscheidungen, die alle anderen EU-Staaten tangiert. Damit werden auch die Rechte des Bundestags in Europa gestärkt, wodurch auch auf diesem Gebiet die realen Kräfteverhältnisse in der EU sichtbar werden.

In zentralen Fragen ist Deutschland die Führungsmacht und das passt durchaus nicht allen EU-Regierungen, noch weniger der Bevölkerung. Die Warnungen vor einem deutschen Europa bzw. dem deutschem Sparmodell sind mittlerweile nicht nur in Griechenland, sondern auch in Spanien, Belgien und Italien zu hören. Die Gerichtsentscheidung stärkt diese Machtstellung im Bereich des Parlaments. Einen guten Tag für eine Demokratie in Europa kann daher nur sehen, wer das Machtgefälle und auch die unterschiedlichen Interessen der Länder der EU ausblendet.

Schließlich war die deutsche Regierung maßgeblich daran beteiligt, als Druck auf die Regierungen von Griechenland, Italien, Spanien und Portugal ausgeübt wurde, bei den Verhandlungen mit der EU Parlamentsrechte zu minimieren. Da sollten Verpflichtungen eingegangen werden, die ausdrücklich nicht durch Änderungen der Mehrheitsverhältnisse mittels Wahlen tangiert werden durften. In vielen Ländern der europäischen Peripherie gab es Klagen, dass mit dem EU-Fiskalpakt und der Schuldenbremse gerade die Entscheidungen von Wahlen und damit auch die Parlamentsrechte ausgehebelt würden. Daher ist es zumindest ein sehr deutscher Blick, wenn nun die verstärkte Informationspflicht des Parlaments als guter Tag für die Demokratie in Europa gefeiert wird.

Folgen für den EMS

Obwohl die Grünen die Gerichtsentscheidung besonders feierten, zeigten sich auch alle Parteien mit der Entscheidung zufrieden. Uneinigkeit gibt es lediglich über die Folgen für das weitere parlamentarische Prozedere um den EMS. Die Grünen sehen klare Konsequenzen bei den morgigen Verhandlungen zum EMS und fordern die Bundesregierung auf, die Parlamentsrechte auch bei den Begleitgesetzen zum Fiskalpakt zu stärken.

Es hätte den Grünen gut angestanden, auch für die Parlamente von Portugal, Spanien und Griechenland solche Rechte einzufordern. Dann wäre die Entscheidung tatsächlich ein guter Tag auch für die Demokratie in Europa gewesen. So ist es ein Machtzuwachs des deutschen Parlaments in Europa.
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Peter Nowak

Wenn die Linke gewinnt, regiert das Chaos

Im Vorfeld der griechischen Wahlen, wird eine Drohkulisse aufgebaut, um einen Wahlerfolg der Linken zu verhindern. Doch was passiert, wenn Syriza doch stärkste Partei wird und sogar eine Regierung bilden kann?

Das Sprachrohr der Finanzwelt spricht Klartext: „Die FTD sagt in ihrer Wahlempfehlung, wen die Griechen wählen sollten, in deutscher und griechischer Sprache“, hieß es in der Ausgabe von Donnerstag. „Widersteht den Demagogen“, lautet die Überschrift und im Text wird schnell klar, dass damit der Spitzenkandidat der Linkssozialisten gemeint ist, der noch wenige Tage zuvor in einem Gastbeitrag in der FTD deutlich machen wollte, dass er nicht der Linksradikale ist, als der in der deutschsprachigen Presse fast unisono geführt wird. Dabei stützten sich die Zeitungen auf die Übersetzung des Parteinamens und verzichteten auf die politische Einordnung von Syriza. In dem Beitrag erläuterte Tsipras seinen „Rettungsplans für Griechenland“, der zutiefst sozialdemokratische Grundzüge hat.

„Die kurzfristige Stabilisierung Griechenlands wird der Euro-Zone zugutekommen, während sie an einem kritischen Punkt in der Entwicklung der Binnenwährung steht. Schlagen wir keinen anderen Weg ein, wird uns die Sparpolitik mit umso höherer Gewissheit zum Ausstieg aus dem Euro zwingen“, wiederholte Tsipras Argumente, die mittlerweile selbst von konservativen Ökonomen vertreten werden. Obwohl er sich dabei auch auf US-Präsident Obama berief, werden seine Argumente in der FTD überhaupt nicht ernsthaft diskutiert. Das wird in der Wahlempfehlung deutlich. Dort heißt es: „Widerstehen Sie der Demagogie von Alexis Tsipras und seiner Syriza. Trauen Sie nicht deren Versprechungen, dass man einfach alle Vereinbarungen aufkündigen kann – ohne Konsequenzen.“ Dass diese Vereinbarungen EU-Diktate waren, gegen die sich auch die Konservativen von der NEA anfangs gesträubt hatten, haben die Redakteure der Financial Times nicht vergessen. So bekommt auch ihr Favorit noch gleich eine Mitschuld an der aktuellen Situation zugewiesen:

„Ihr Land braucht endlich einen funktionierenden Staat. Damit es geordnet regiert wird, empfehlen wir die Nea Demokratia. Das fällt uns nicht leicht. Die Nea Demokratia hat über Jahrzehnte eine falsche Politik betrieben und die heutige Misere mitzuverantworten. Trotzdem wird Ihr Land mit einer Koalition unter Antonis Samaras besser fahren als unter Tsipras, der das Rad zurückdrehen will und eine Welt vorgaukelt, die es so nicht gibt.“

Es fragt sich nur, ob dieser Aufruf in Griechenland nicht den entgegengesetzten Effekt hat. Solche als Empfehlungen getarnten Befehle aus Deutschland will man dort auch nach 65 Jahre nach Kriegsende nicht gerne von dem Land hören, das seine eigenen Schulden an Griechenland nie bezahlt hat. Darauf hat einzig der Publizist Otto Köhler kürzlich hingewiesen. In Deutschland wurde auch nicht über den Brief des Syriza-Abgeordneten Panagiotis Kouroumplis diskutiert, in dem er die geplante Politik der Linkssozialdemokraten erläutert. Trotzdem ist der Wahlausgang ungewiss und der Wahlfavorit der Financial Times Deutschland könnte stärkste Partei werden, was noch immer nichts über die Regierungsbildung aussagt.

EU-Verantwortliche auf dem Todestrip?

Wenn es so kommt, liegt es an dem massiven Druck, der europaweit auf die griechischen Wähler ausgeübt wird. Noch wenige Stunden vor Wahlbeginn warnte Luxemburgs Premierminister und starker Mann in der EU Jean-Claude Junker vor unabsehbaren Folgen bei einen Wahlsieg von Syriza und malte einen EU-Austritt Griechenlands an die Wand, den Syriza mehrheitlich ablehnt. Junker betont noch einmal, „Über die Substanz des Sparprogramms für Griechenland kann nicht verhandelt werden“. Junker steht für die Politik, die der sozialdemokratische Ökonom Paul Krugmann als Todestrip der EU-Verantwortlichen bezeichnet hat.

Die Drohkulisse, die vor den Wahlen um Griechenland aufgebaut wird, wirkt. Selbst in der linksliberalen Tageszeitung empfiehlt ein Kommentator eine Stimmabgabe für die Konservativen. Viele Sparer haben in den letzten Tagen ihre Einlagen von den Konten ab, weil sie befürchten, dass die EU ihre Drohungen, eines Rausschmisses aus dem Euro ernst meint.

Chilenisches Szenario in Griechenland?

Was aber wird passieren, wenn der Druck gerade das Gegenteil bewirkt und Syriza eine Regierung bilden kann, aber nicht gleich die neoliberale Politik fortführt, wie die Linkspartei in ihrer Berliner Regierungszeit? Dann könnte das Drohszenario schon als Vorbereitung auf undemokratische Maßnahmen gewertet werden. Manches erinnert an die Drohungen gegen die Regierung der Unidad Popular 1970 in Chile. Auch damals wurde deren sozialistischer Präsidentschaftskandidat als gefährlicher Linksradikaler apostrophiert. Als die Bevölkerung an den Wahlurnen die Linksregierung unterstützte, wurde, wie der Filmemacher Patricio Guzmann in dem Film „Die Schlacht um Chile“ dokumentierte das Szenario „Allende bedeutet das Chaos“ mit Unterstützung vom US-Geheimdienst und chilenischen Rechtskräften in die Tat umgesetzt, bis ein rechter Militärputsch die Investitionsbedingungen in Chile erheblich verbesserte.

Auch in Griechenland stünden gleich mehrere Rechtskräfte für ein solches Szenario bereit. Die Rechtspopulisten von der Laos haben schon einige Monate mitregiert, ohne dass ein Junker oder eine FTD vor ihnen warnte. Die offen neonazistische Partei der Goldenen Morgenröte hat schon vor einigen Tagen vor den Fernsehkameras deutlich gemacht, dass sie zum Kampf gegen die Linke zur Verfügung steht, als der Sprecher gleich eine Abgeordnete der Kommunisten und von Syriza tätlich angriff. Dass es keine Warnung vor diesen Rechten gibt, zeigt sicher, dass sich mit ihnen sicher kein seriöser EU-Politiker sehen lassen will. Aber als Männer für das Grobe können sie schon gebraucht werden. Mittlerweile bereiten linke Initiativen und Gewerkschafter schon die Gründung von Solidaritätskomitees für Griechenland vor, für alle Fälle.

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Peter Nowak

Blockupy und Mai-Demo

Sicherheitsstaat in Aktion

Nicht erst die Blockupy-Proteste, schon der antikapitalistische Aktionstag am 31.März war ein Beispiel für den Polizeistaat in Aktion. Nachdem es zu Steinwürfen auf verschiedene Gebäude in der Innenstadt gekommen war, wurden mehrere hundert Menschen bis zu sechs Stunden eingekesselt. Der Versuch der Veranstalter, eine kürzere Route anzumelden, um die Demonstration fortzusetzen, wurde von der Polizei abgelehnt und mit deren Auflösung beantwortet.

Das Verhalten der Polizei löste kaum öffentliche Kritik aus. Vielmehr waren in den folgenden Tagen die eingeschlagenen Fensterscheiben das Hauptthema. Damit wurde auch das Verbot der Blockaden am 17./18.Mai begründet. Die in Frankfurt führende, konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung hat maßgeblich das Drehbuch für das Verbot geschrieben.

Die März-Demonstration in Frankfurt

«Stadt muss Flagge zeigen», titelte das Blatt schon am 11.April. «Warum suchen linksextreme Demonstranten immer wieder ausgerechnet diese Großstadt heim? Die Antwort dürfte einfach sein: Weil Frankfurt wie keine andere deutsche Stadt für die Finanzwelt steht und sich deshalb besonders eignet, um den Protest gegen Kapitalismus und die europäische Finanzpolitik kundzutun», schreibt die Faz-Korrespondentin Katharina Iskandahar und listet konkrete Gegenmaßnahmen auf. «Dass es als liberale Großstadt aber auch darum geht, im Sinne der Bürger zu entscheiden und, wenn auch nur symbolisch, ein Verbot auszusprechen, hat die Politik lange Jahre versäumt.»

Dass es sich am Ende nun keinesfalls um ein symbolisches Verbot handelte, dürfte ganz im Sinne der Geschäftswelt gewesen sein. Aber auch Journalisten, die die Repression gegen Blockupy kritisierten, beteiligten sich an der Spaltung in gute und böse Kapitalismuskritiker. So begründet der Kommentator der Taz, Martin Kaul, sein Eintreten für Blockupy mit der Begründung, die «Märzrandalierer» seien daran nicht beteiligt.

Damit wurde eine Demonstration von über 5000 Menschen (am 31.März) unter Generalverdacht gestellt, obwohl die Organisatoren immer betont haben, dass sie eine politische Demonstration planten, die das Ziel, die neue Baustelle der EZB im Frankfurter Osten, erreicht und sich nicht unterwegs in Scharmützel mit der Polizei verwickeln lassen will.

Eine kleine Gruppe von Demonstrierenden setzte sich über diese von den OrganisatorInnen und der übergroßen Mehrheit der Teilnehmenden gewünschte Maßgabe hinweg. Bei der Demonachbereitung in Berlin gab es deshalb eine Diskussion über den Umgang der radikalen Linken mit einem solchen unsolidarischen Verhalten.

Das Problem besteht darin, politische Kritik zu formulieren, ohne in die allseitige Forderung nach Distanzierung von den Autonomen einzustimmen. Besonders die FAU, die Sozialistische Initiative Berlin (SIB) und die Internationalen KommunstInnen (IK) betonten die Notwendigkeit einer politischen Kritik an der scheinmilitanten Aktionen. Nach ihrer Auffassung ist es ein zutiefst autoritäres Verhalten, wenn gegen den Willen des Großteils der Demonstrierenden Scharmützel an der Demoroute provoziert werden, von deren Folgen alle Teilnehmenden betroffen sind.

Zudem würden dadurch Menschen nicht nur aus politischen Gründen abgeschreckt. Schließlich haben Migranten, Eltern mit kleinen Kindern, Personen mit gesundheitlichen Handicaps viele gute Gründe, einer Konfrontation mit der Polizei aus dem Weg zu gehen. So werde der neoliberale Leistungsgedanken reproduziert, wenn nur der Fitteste, Schnellste, Jüngste an Protesten teilnehmen kann.

Es ist auch nicht möglich, mit den politisch Verantwortlichen für die Scharmützel in eine politische Diskussion zu treten, weil sie aus verständlichen Gründen nicht offen auftreten. Damit wird aber die Kritik an ihrem autoritären Verhalten noch unterstrichen. Die Debatte über den notwendigen Umgang damit wird sicher weitergehen.

Die Berliner Mai-Festspiele

Auch in Berlin schränkte die Polizei das Demonstrationsrecht von mehr als 20.000 Menschen massiv ein, die sich am Abend des 1.Mai an einer revolutionären Maidemonstration in Berlin beteiligt hatten. Die hohe Teilnehmerzahl und die Beteiligung von Menschen aller Altersgruppen wurde sogar von den Medien registriert, die bisher die Maidemonstration immer als unpolitisches Ritual einstuften. Als Grund für den Zulauf wurden die unsicheren Arbeits- und Lebensverhältnisse vieler Menschen im Krisenkapitalismus sowie die zunehmenden Probleme, in Berlin eine bezahlbare Wohnungen zu bekommen, genannt.

Erstmals beteiligte sich die Jugend der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di mit einem eigenen Wagen. Die Polizei erklärte schon im Vorfeld, die Demonstration werde spätestens vor dem Gebäude des Springerkonzerns enden. Doch der neuralgische Punkt wurde ohne große Zwischenfälle passiert. Danach hätte dem Weg nach Mitte zum angemeldeten Endpunkt am August-Bebel-Platz nichts mehr im Wege gestanden. Doch die politische Botschaft einer großen Demonstration der radikalen Linken, die im den Zentrum der Macht endet, war für die politisch Verantwortlichen nicht tragbar.

Also startete die Polizei in der Höhe des Jüdischen Museum eine Provokation. Ohne Grund stürmte sie in die Spitze der Demonstration, riss Transparente weg und knüppelte auf die Menschen in den vordersten Reihen ein. Es gab zahlreiche Verletzte. Ein Demonstrant lag mehr als zehn Minuten bewusstlos auf dem Straßenpflaster, bevor medizinische Hilfe eintraf. Die Medien nahmen diese Gewalt kaum zur Kenntnis, denn sie ging nicht von den Demonstrierenden aus. Trotzdem löste die Polizei die Demonstration auf.

Wenige Tage später wurde bekannt, dass auf der Route einige Rohrbomben gefunden wurden, die nicht wirklich gefährlich waren, aber einen weiteren Vorwand für ein Demoverbot gegeben hätten, wenn die Polizeiprovokation nicht geklappt hätte.

Die Mai-Demonstration in Frankfurt

Laut Veranstalter demonstrierten am 19.Mai mehr als 25.000 Menschen in der Frankfurter Innenstadt gegen die Politik der EU-Troika.

Das Spektrum der Demonstranten reichte von Gewerkschaften (vorwiegend der GEW), der Linkspartei, Attac bis zu den linksradikalen Bündnissen Ums Ganze und der Interventionistischen Linke. Auch ein großer Block «Gewerkschafter gegen Stuttgart 21» war dabei. Große Gruppen aus Italien und Frankreich drückten das Bedürfnis aus, im europäischen Maßstab Aktionen zu koordinieren und handlungsfähig zu werden.

Aus aktuellem Anlass wandten sich viele Parolen gegen die autoritäre Staats- und Sicherheitspolitik, die in den Tagen vor der Demonstration in den Frankfurter Straßen zu erleben war. Flächendeckende Protestverbote, das Anhalten von Bussen, Aufenthaltsverbote für viele Aktivisten in der Frankfurter Innenstadt haben die Diskussion über den Abbau der Grundrechte parallel zur wirtschaftlichen und sozialen Krise wieder belebt. Die Demonstranten haben dafür den Begriff «Coopucky» kreiert. Tatsächlich hat nur die Polizei das Bankenviertel blockiert. «Ihr habt Euch selbst blockiert», lautete denn auch eine häufig gerufene Parole auf der Demonstration.

Doch das geht am Kern der Vorgänge vorbei. Die Belagerung des Bankenviertels durch die Staatsmacht legte das Bankengeschäft keineswegs lahm. Was die Polizei in den letzten Tagen lahm gelegt hat, war vielmehr der Protest gegen den Krisenkapitalismus. Wenn die Protestorganisatoren in einer Presseerklärung trotzig behaupten: «Die Blockupy-Aktionstage mit der Besetzung des Paulsplatzes und des Römerbergs sowie die heutige Demonstration zeigen: Wir lassen nicht zu, dass Frankfurt zur demokratiefreien Zone wird. Empörung lässt sich nicht verbieten», dann ist das vor allem Zweckoptimismus. Die vergangenen Tage haben vielmehr gezeigt, dass alle Proteste, die über eine Großdemonstration hinausgehen, effektiv behindert wurden.

Statt, wie geplant, die Kritik am Kapitalismus zu artikulieren, stand der Protest gegen die Demokratieeinschränkungen im Mittelpunkt. Die Frankfurter Polizei erklärte nach der Demonstration denn auch, die Bürger seien größtenteils zufrieden. Es herrsche nun das Gefühl, «dass alles nicht so schlimm sei». Das könnte auch erklären, warum die massiven Grundrechtseinschränkungen ohne große Proteste hingenommen wurden.

Die Zahl der Aktivisten war am 17. und 18.Mai kleiner als erwartet. Das hängt damit zusammen, dass es erkennbar schwierig ist, die Krisenproteste mit aktuellen sozialen Kämpfen zu verbinden. So ist in den letzten Wochen wieder viel von einer Schließung des Opelwerks in Bochum die Rede. Dort gibt es eine kämpferische Minderheit in der Belegschaft, die schon vor Jahren mit selbst organisierten Streiks auf sich aufmerksam gemacht hat. Trotzdem war die drohende Schließung von Opel-Bochum auf der Demonstration genauso wenig ein Thema wie die Abwicklung vieler Schlecker-Filialen in den letzten Wochen. Dabei hat die Berliner Schlecker-Gesamtbetriebsrätin Mona Frias einen gewerkschaftlichen Unterstützungsaufruf für Blockupy mit unterzeichnet.

Doch es sind weder in erster Linie die abschreckenden Maßnahmen der Polizei noch große Fehler der Protestorganisatoren, die verhindern, dass Opel- oder Schlecker-Beschäftigte sich massenhaft an den Blockupy-Protesten beteiligen. Die Ungleichzeitigkeit der Krisenpolitik und ihrer Wahrnehmung durch die Betroffenen erschwert einen gemeinsamen Widerstand.

Diese Entkoppelung stellt für Linke ein großes Problem dar, «das keineswegs mit bloßen Appellen und weltweiten Aufrufen bewältigt werden kann», schreiben die Sozialwissenschaftler Peter Birke und Max Henninger in dem von ihnen kürzlich im Verlag Assoziation A herausgegebenen Buch «Krisen Proteste». In zwölf Texten werden die sozialen Bewegungen seit 2009 analysiert. Das Buch liefert einige Anregungen für eine Perspektivdebatte nach Blockupy.

Blockupy und Mai-Demo


Peter Nowak

Journalisten im Konflikt mit der Justiz

MEDIENinternational: Pressefreiheit in Russland

Der Andrang war groß im Büro von »Reporter ohne Grenzen« in Berlin. Die Organisation hatte am Donnerstag den russischen Journalisten Leonid Nikitinski zu einem Pressegespräch eingeladen. Nikitinski arbeitet seit 2003 als Gerichtsreporter für die kremlkritische Zeitung »Nowaja Gaseta« in Moskau. Der Grund seines Besuchs war eine Drohung gegen seinen Kollegen Sergej Sokolow, der bei der »Nowaja Gaseta« zu Kriminalfällen arbeitet. Dabei hat er sich wohl einige Feinde bei der Justiz gemacht.

Nach Angaben Nikitinskis war der russische Chefermittler Alexander Bastrykin am 4. Juni mit Sergej Sokolow in einen Wald bei Moskau gefahren, hatte ihn dort wegen eines kritischen Artikels beschimpft und gedroht, sollte dem Journalisten etwas zustoßen, werde er selbst die Ermittlungen leiten. Bereits zuvor hatte der Chefermittler den Journalisten bei einem gemeinsamen Pressetermin heftig angegriffen. Sokolow floh jedenfalls sofort ins Ausland. Bastrykin ist als oberster Ermittler auch für die Untersuchungen im Mordfall Anna Politkowskaja verantwortlich. Die Journalistin hatte für die »Nowaja Gaseta« über die Gewalt in Tschetschenien berichtet und wurde vor fünfeinhalb Jahren in Moskau erschossen. Bastrykin habe Politkowskaja gegenüber Sokolow als »Schlampe« bezeichnet, berichtete Nikitinski und wertete den Vorfall als Zeichen dafür, dass »die Presse unter Putin insgesamt wieder stärker kontrolliert werden soll«. Dennoch habe die Sache für ihn eher eine lächerliche als eine bedrohliche Note: »Weder Politkowskaja noch andere Kollegen wurden gewarnt, man hat sie einfach auf offener Straße ermordet.«
Tatsächlich fand die Kontroverse zwischen Bastrykin und der »Nowaja Gaseta« ein – vorläufig – glückliches Ende: Am selben Abend, da Nikitinski in Berlin auftrat, entschuldigte sich der Chefermittler bei Sokolow für seinen unzulässigen »emotionalen Ausbruch«. Der Journalist selbst gab zu, dass seine Vorwürfe gegen Bastrykin möglicherweise zu harsch gewesen seien, und die »Nowaja Gaseta« erklärte den Konflikt für ausgeräumt.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/229850.journalisten-im-konflikt-mit-der-justiz.html

Peter Nowak

Parlamentarisches Foulspiel um das Betreuungsgeld?

Fehlten heute so viele Bundestagsabgeordnete, um den Herzenswunsch der CSU doch noch zu torpedieren?

Sommer, Sonne, Fußball-EM: da träumen viele Lohnabhängigen davon, mal Pause zu machen. Die Wenigsten haben es so einfach wie die Bundestagsabgeordneten, die einfach einen wichtigen Termin in ihrem Wahlkreis nennen müssen, um Bundestagssitzungen fernzubleiben. Meistens fällt es gar nicht auf. Denn Fußball-Deutschland interessiert sich weit mehr für die Zusammensetzung der Elf als über die Anwesenheitsliste des Parlaments. Die Tatsache, dass heute lediglich 211 Bundestagsabgeordnete anwesend waren und das Parlament damit beschlussunfähig war, ist nur deswegen zum Medienthema geworden, weil an diesem Tag auch darüber entschieden wurde, wann das eigentlich nur noch von der CSU gewollte, ansonsten von einer breiten Bevölkerungsmehrheit abgelehnte Betreungsgeld in Kraft treten kann. Die Stimmung der Opposition machte der SPD-Bundesgeschäftsführer Thomas Oppermann in einen Twitter-Eintrag deutlich: „Koalition ohne Mehrheit, Betreuungsgeld nicht mehr vor der Sommerpause.“ Abgeordnete der FDP und auch der Union, die gegen das als Herdprämie verspottete Betreuungsgeld sind, schwiegen zu der Beschlussunfähigkeit.

Für den Zusammenhalt der Koalition ist dieses als Parlamentsboykott oder als Panne klassifizierte Fernbleiben sicher nicht förderlich. Deswegen ist die CSU auch besonders wütend, hat sie doch gehofft, ihre Klientel mit einer schnellen Verabschiedung des Betreuungsgeldes zufrieden stellen zu können. Denn je länger sich das Prozedere der Verabschiedung verzögert, desto unwahrscheinlicher wird, dass der CSU ihr Herzenswunsch noch erfüllt wird. Schließlich hat sich eine ganz große Koalition von Feministinnen bis zu den Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden dagegen ausgesprochen. Letztere sind dabei entscheidend, die Wirtschaft braucht in Zeiten des Bevölkerungsrückgangs in Deutschland Humankapital auch unter Frauen mit Kindern. Die ökonomischen Argumente dürften sich auch in diesem Fall gegen das Bauchgefühl von Konservativen durchsetzen, die hinter einer Kita immer noch das Gespenst der staatlichen Kindererziehung wittern.

Hat CSU ihre Niederlage begriffen?

Die Reaktionen der CSU auf ihr heutiges Scheitern im Parlament zeigen eigentlich, dass sie sich wohl schon mit der Niederlage in dieser Frage abgefunden hat. Sie findet natürlich starke Worte, um ihr Klientel ruhig zu stellen, und spricht von „dreckigem Foulspiel“, wobei sie offen ließ, ob sie damit neben der Regierung auch die Abgeordneten der eigenen Koalition meinte. Wenn auch Abgeordnete der FDP und der Union jetzt eilfertig auf die Opposition zeigen und dieser einen schlechten Stil bzw. Obstruktionspolitik vorwerfen, so können sie nicht verhindern, dass das Scheitern vor allem als eine Blamage der Bundesregierung wahrgenommen wird. Schließlich hätten die Fraktionsvorsitzenden der sie tragenden Parteien dafür sorgen müssen, dass alle ihre Mandatsträger anwesend sind, wenn ihnen wichtig gewesen wäre, dass das Betreuungsgeld wie geplant eingeführt wird. Sie stellen bei der Abstimmung zu anderen zentralen Punkten oft unter Beweis, dass die Disziplinierung funktioniert. Dass sie bei diesem Punkt gar nicht versucht wurde, macht eben deutlich, dass das Betreuungsgeld außer der CSU der Mehrheit der anderen Fraktionen nicht wichtig genug ist, um die Abgeordneten zu einem weiteren Freitag im Parlament zu vergattern. Die CSU dürfte verstanden haben – und sie hat ja auch nicht viele Alternativen. Einen Koalitionsbruch an dieser Frage wird sie nicht riskieren.

Das zeigte sich an der defensiven Argumentation der CSU-Bundestagsabgeordneten Dorothee Bär, die seit Monaten immer wiederholt, dass das Betreuungsgeld kommen werde und eine andere Lösung für die CSU überhaupt nicht akzeptabel sei. Nach der Verschiebung argumentierte sie im Interview mit dem Deutschlandfunk ungewöhnlich defensiv. Sie könne nicht verstehen, warum man die Experten, die in der nächsten Woche nach den nun obsoleten Plänen im Bundestag angehört werden sollten und die sich terminlich darauf eingestellt hätten, derart vor dem Kopf stößt. Auch dort wird sich die Erkenntnis durchzusetzen beginnen, dass die Koalitionspartner, wenn sie nicht einmal einen Freitag dafür opfern wollen, auch sonst nicht mehr bereit sind, für den Wunschkatalog der CSU ihren Kopf hinzuhalten.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152216
Peter Nowak

Vermieten soll sich wieder lohnen


In vielen Großstädten wird es für Menschen mit geringem Einkommen und die Bezieher von ALG II immer schwieriger, bezahlbare Wohnungen zu finden. Und die Situation dürfte sich weiter verschärfen, denn die Mieter bezahlen auch die energetische Haussanierung.

Nerimin T. ist wütend: »Seit über einem Jahr versuchen wir, unseren Vermietern und den Politikern klarzumachen, dass wir uns die immer weiter steigenden Mieten nicht mehr leisten können. Doch wir wurden nicht beachtet. Deswegen gehen wir jetzt auf die Straße.« Die ältere Frau beteiligt sich an einem Protestcamp, das die von Mieterhöhung betroffenen Bewohner am Kottbusser Tor im Berliner Bezirk Kreuzberg am 26. Mai errichtet haben. Auf Holzpaletten angebracht, finden sich neben ersten Presseberichten über die Aktion auch die Gründe für den Protest, die mit wenigen klaren Sätzen beschrieben werden: »Wir protestieren hier gegen die jährlich steigenden Mieten im sozialen Wohnungsbau. Wir protestieren hier gegen die Verdrängung von Menschen, die hier seit Jahrzehnten ihr Zuhause haben«, heißt es dort. Für Nerimin T. ist die Gefahr real. Die eine Hälfte ihrer Rente verschlinge die Miete, die andere Hälfte die Nebenkosten, rechnet die Rentnerin vor. »Mir bleibt zum Leben kein Geld mehr. Wenn das so weitergeht, muss ich mit dem Zelt auf der Straße schlafen.« Ihre Nachbarn stimmen ihr zu.

Viele von ihnen sind in der Türkei oder in Kurdistan geboren, sie leben seit mehr als drei Jahrzehnten in der Gegend am Kottbusser Tor. Ulrike M. gehört zu den prekär beschäftigten Akademikern, die erst in den letzten Jahren dorthin gezogen sind. Alt- und Neumieter sind sich in ihren Forderungen einig, oft sitzen sie bis spät in die Nacht gemeinsam im Protest-Gecekondu, wie die Hütte des Protestcamps in Anlehnung an ähnliche Holzbauten in der Türkei genannt wird. Solche Hütten werden am Rande der Großstädte über Nacht von Menschen aufgebaut, die in den türkischen Metropolen keine anderen Unterkünfte finden.

Einigen Passanten in Kreuzberg fällt beim Anblick der Protesthütte sofort die »Occupy«-Bewegung ein. »Uns geht es nicht darum, ›Occupy‹-Regeln einzuführen. Wir wollen ein Mittelpunkt der Berliner Mieterproteste werden«, sagt Ulrike M. hingegen. Die Chancen stehen gut. Schließlich organisieren sich in zahlreichen Berliner Stadt­teilen Mieter gegen die drohende Verdrängung. In dem Film »Mietenstopp«, der von einem Team der Filmfabrik, einem Zusammenschluss von Berliner Filmemachern, gemeinsam mit Mieterinitiativen im vorigen Jahr gedreht wurde, kommen Aktivisten aus Treptow, vom Kreuzberger Chamissoplatz und dem Neuköllner Schillerkiez zu Wort. Es ist nur ein kleiner Ausschnitt des derzeitigen Mietenprotests in Berlin.

Das Spektrum reicht von Hartz-IV-Empfängern, die sich gegen die zu knapp bemessenen Mietzuschüsse durch die Jobcenter wehren, die viele zum Verlassen ihrer Wohnungen zwingen, bis zur Neuköllner Stadtteilgruppe AntiGen, in der sich Menschen zusammengeschlossen haben, die als sogenannte Kreative in einer verkürzten Kritik oft für die Mieterhöhungen verantwortlich gemacht werden. Nur eine Initiative der Touristen gegen Gentrifizierung fehlt bisher noch, denn auch Touristen werden häufig für die Misere auf dem Berliner Wohnungsmarkt verantwortlich gemacht.

Vor allem Politiker der Grünen und der SPD taten sich mit der Kritik an Touristen hervor. Mit solchen Schuldzuweisungen will man vergessen machen, dass politische Entscheidungen der Grund dafür sind, dass bezahlbarer Wohnraum für viele in Berlin immer schwerer zu finden ist. In erster Linie gehören dazu die Einsparungen im sozialen Wohnungsbau, die von sämtlichen Parteien mitgetragen wurden und bewusst auch dazu dienen, Stadtteile aufzuwerten. So sollen in der Barbarossastraße in Schöneberg in den sechziger Jahren errichte Wohnblocks abgerissen werden, die mit Mitteln des sozialen Wohnungsbaus errichtet wurden. Die Kommunalpolitiker bekunden offen, dass sie für diese Bewohner in den aufgewerteten Stadtteilen keinen Platz sehen. Nur weil sich einige Mieter seit mehreren Monaten erfolgreich gegen den Abriss der intakten Gebäude wehren, ist die Verdrängung noch nicht abgeschlossen.

Der Stadtsoziologe Andrej Holm lässt auch das von Politikern aller Parteien bemühte Argument der »leeren Kassen« nicht gelten, wenn es um eine mieterfreundlicheren Politik geht. »Nach Schätzungen der Senatsverwaltung würden 100 Millionen Euro ausreichen, um eine wirklich soziale Mietobergrenze im sozialen Wohnungsbau zu finanzieren. Diese Ausgabe hält Stadtentwicklungssenator Michael Müller (SPD) jedoch für ›politisch nicht durchsetzbar‹«, schreibt Holm auf seinem »Gentrification Blog«. Er verweist auch darauf, dass selbst vorsichtige Prognosen durch die mehrmonatige Verzögerung der Eröffnung des Flughafens Berlin-Brandenburg von Mehrkosten in Höhe von mindestens 500 Millionen Euro ausgehen.

Auch die von der schwarz-gelben Bundesregierung geplante bundesweite energetische Häusersanierung wird im Wesentlichen von den Mietern bezahlt. »Der Vermieter darf elf Prozent der Modernisierungskosten auf die Jahresmiete aufschlagen. Wir gehen von ungefähr 300 Euro pro Quadratmeter aus. Davon elf Prozent wären 33 Euro pro Quadratmeter«, rechnet Ulrich Ropertz vom Deutschen Mieterbund vor. Die Organisation schlägt vor, die Kosten für die energetische Gebäudesanierung auf Mieter, Vermieter und die öffentliche Hand aufzuteilen. Doch selbst für die Umsetzung solch minimaler Reformen ist öffentlicher Druck nötig.

Schon heute können Mieterinitiativen zumindest die Pläne von Investoren und Vermietern behindern. So wehrt sich die nach örtlichen Straßen benannte Initiative Fulda/Weichsel seit Monaten im Berliner Bezirk Neukölln erfolgreich dagegen, dass die Eigentümer im Rahmen der energetischen Sanierung die Mieten derart erhöhen, dass viele derzeitige Bewohner sie sich nicht mehr leisten können. Mittlerweile werden Mitglieder der Initiative öfter in andere Stadtteile eingeladen, um zu berichten, wie es ihnen gelungen ist, für längere Zeit Widerstand zu leisten. Schließlich ist die Bereitschaft, sich zu wehren, oft groß, wenn das Schreiben mit der Modernisierungsankündigung im Briefkasten gelandet ist. Nach wenigen Monaten aber bleiben meist nur wenige Hartnäckige übrig, während viele der Mieter in der Auseinandersetzung mit der Hausverwaltung resi­gnierten.

Die Filmemacher Teresina Moscatiello und Jakob Rühle haben diese Entwicklung vor zwei Jahren in ihrem Film »Lychener 64« am Beispiel eines Hauses dokumentiert, in dem sie selbst wohnten. Ein Mitglied von Fulda/Weichsel sagt der Jungle World: »Wenn die einzelnen Mieter neben einem guten Rechtsschutz und anwaltlicher Hilfe ein soziales Umfeld haben, wenn sie sich mit ihren Nachbarn austauschen können, haben sie durchaus die Chance, Mieterhöhungen und andere Eingriffe der Vermieter in den Mietvertrag deutlich zu minimieren.« Wie der Film »Mietenstopp« zeigt, handeln mittlerweile viele Initiativen nach diesem Prinzip der solidarischen Nachbarschaft.

Wenn aber, wie es die Pläne der Bundesregierung vorsehen, die Rechte der Mieter eingeschränkt werden sollten und ihnen beispielsweise bei der energetischen Sanierung weniger Möglichkeiten zur Mietminderung zugestanden werden, stößt das Nachbarschaftsprinzip an seine Grenzen.

Eine bundesweite Vernetzung mit klaren politischen Forderungen, die eine Grundlage für bundesweite Großdemonstrationen gegen die geplante Verschlechterung der Mieterrechte sein könnte, ist bisher nicht in Sicht. Dafür wächst der Widerstand vor Ort. Mittlerweile haben in vielen großen und mittelgroßen Städten Gruppen Zulauf, die sich gegen hohe Mieten engagieren. So gingen am 2. Juni in Potsdam mehrere Tausend Menschen unter dem Motto »Mietenstopp jetzt« auf die Straße. Auch in Berlin wird derzeit wieder unter dem Motto »Keine Rendite mit der Miete« zum Protest aufgerufen. Anlass ist die Jahrestagung der Immobilienwirtschaft, die am 18. und 19. Juni im Hotel Ritz abgehalten werden soll. Dort möchte man sich gemeinsam mit Politikern über bessere Bedingungen für die Besitzer von Immobilien beraten.

http://jungle-world.com/artikel/2012/24/45631.html
Peter Nowak

Friedrichshainer wehren sich gegen Mieterhöhungen

Neue Initiative mobilisiert zu Kundgebungen

»Gegen Mietsteigerungen – wir bleiben alle«. Diese Parole steht auf einem Transparent, das aus einem Fenster in der Boxhagener Straße 33 in Friedrichshain hängt. Die wenigen Menschen, die noch in dem Haus wohnen, wehren sich gegen eine drohende Luxusmodernisierung. Ende März gab es sogar eine kurze Blockade, als die Eigentümer einen Baum im Garten des Hauses fällen ließen.
Hebammen

Solche Aktionen sind in Friedrichshain keine Ausnahme. »An vielen Ecken in dem großen Stadtteil wehren sich Mieter gegen drohende Vertreibung. Allerdings bleiben diese Proteste bisher vereinzelt«, meint Roland Schneider. Er engagiert sich im kürzlich gegründeten Initiativkreis »Keine Rendite mit der Miete / Friedrichshain«. Ziel ist die Bündelung der Proteste im Stadtteil. Am heutigen Freitag wollen die Aktivisten um 18 Uhr mit einer Kundgebung am U-Bahnhof Frankfurter Tor auf ihr Anliegen aufmerksam machen. Das Motto lautet: »Mieten runter – Löhne und Einkommen rauf«. »Damit wollen wir deutlich machen, dass neben Mietsteigerungen auch in Friedrichshain Hartz IV und prekäre Arbeitsverhältnisse für viele Menschen ein großes Problem sind«, sagt Schneider. Nach der Kundgebung soll im Jugendwiderstandsmuseum in der Rigaer Straße 9 der Film »Mietenstopp« gezeigt werden. Ein dreiköpfiges Filmteam dokumentiert darin Aktivitäten von Mietergruppen aus verschiedenen Stadtteilen. Friedrichshain ist nicht dabei. Schneider hofft, dass sich das ändert: »Nach der Filmvorführung wollen wir diskutieren, ob wir nicht auch in Friedrichshain eine aktive Mieterbewegung aufbauen können.«

Schließlich wächst auch hier in der Bevölkerung die Angst, die Miete nicht mehr zahlen zu können. So gab es in den letzten Monaten Mieterhöhungen in den denkmalgeschützten Wohnhäusern um das Frankfurter Tor herum und in angrenzenden Straßen. In der Umgebung der Richard-Sorge-Straße haben sich Mieter in den letzten Wochen getroffen und über die Aufwertungstendenzen gesprochen.

Ein konkretes Vorhaben hat die neue Friedrichshainer Gruppe schon geplant. Am kommenden Montag demonstrieren Initiativen aus ganz Berlin unter dem Motto »Keine Rendite mit der Miete« gegen die Jahrestagung der Immobilienwirtschaft am Potsdamer Platz.
keinerenditemitdermiete.org
http://www.neues-deutschland.de/artikel/229810
.friedrichshainer-wehren-sich-gegen-mieterhoehungen.html
Peter Nowak

Steckbriefe von Nazigegnern

Die Wortwahl ist eindeutig auf der Homepage des „Nationalen Widerstands Berlin/Brandenburg“. „Operative Feindaufklärung“ steht dort in roter Schrift. Darunter finden sich die Parteisymbole von Grünen und Linken sowie die Konterfeis zahlreicher Nazigegner. „Recherchen und Aktivitäten von Linkskriminellen in Berlin“ lautet die grammatikalisch falsche aber politisch eindeutige Unterzeile. Es handelt sich um Steckbriefe von Journalisten, Fotografen, Politikern, Rechtsanwälten und Aktivisten, die sich gegen rechte Umtriebe engagieren. Teilweise sind den oft detaillierten Kurzbiographien Fotos beigefügt.

Einige der dort aufgeführten Personen hatten in der Vergangenheit Personen aus der rechten Szene unter anderem wegen des Zeigens des Hitlergrußes oder des Skandierens verbotener neonazistischer Parolen angezeigt. Sie vermuten, dass ihre Dateien über die Akten in die braune Szene gelangten.

Homepage im Mai 2011 indiziert

Auch mehrere Berliner Hausprojekte Buchläden, politische Bildungseinrichtungen und Lokalitäten, die sich gegen rechts engagieren, werden auf der Homepage steckbriefartig aufgeführt. Einige waren Anfang Juni mit Hakenkreuzen, rechten Parolen und dem Kürzel NW-Berlin beschmiert worden. Kenner der rechten Szene sehen einen Zusammenhang mit der Internetseite, die erst seit wenigen Tagen wieder online ist.

Im Mai 2011 war die Homepage von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert worden und tauchte danach bei den großen Suchmaschinen wie Google und Yahoo nicht mehr auf. Später war die Seite längere Zeit überhaupt nicht mehr zu erreichen. Auch die Justiz versucht schon länger, die Urheber zu ermitteln. Beobachter der rechten Szene vermuten, dass der Berliner NPD-Vorsitzende mit guten Kontakten ins neonazistische Milieu, Sebastian Schmidtke, auch zu den Hintermännern von NW Berlin/Brandenburg gehört.

Im März 2012 erwirkte der Rechtsausschuss des Berliner Senats ein Rechtshilfeersuchen an die USA, um den Urheber der Internetseite zu ermitteln, deren Server der Firma Dreamhost steht in den USA.

http://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/
steckbriefe-von-nazigegnern

Peter Nowak

»Nicht nur auf Europa und die USA sehen«

MAX HENNINGER ist Redakteur der Netzzeitschrift »Sozial.Geschichte Online«. Gemeinsam mit dem Historiker Peter Birke hat er im Verlag Assoziation A das Buch »Krisen Proteste« herausgegeben. Darüber sprach mit ihm PETER NOWAK.

nd: Der Titel Ihres Buches hat eine ungewöhnliche Schreibweise: »Krisen Proteste«. Will die Getrenntschreibung ausdrücken, dass Sie keinen Zusammenhang zwischen beidem sehen?
HENNINGER: Es gibt jedenfalls keinen mechanischen Zusammenhang. In dem Buch geht es auch um Regionen, beispielsweise Ostafrika, die zwar stark von den sozialen Folgen der Krise betroffen sind, bislang aber nicht durch Proteste von sich reden gemacht haben. Gleichzeitig stellt sich in manchen Ländern auch die Frage, wie sich Protestbewegungen, die bereits vor Ausbruch der Krise aktiv waren, im Zuge der Krise verändern. Das gilt beispielsweise für die in vielen Ländern seit Beginn des Jahrtausends zu verzeichnenden Studierendenproteste.

nd: Ein Aufsatz widmet sich der Ernährungskrise in Afrika südlich der Sahara. Gibt es die nicht viel länger als die Finanzkrise?
M.H.: Zu oft wird nur auf Europa und die USA gesehen. Dabei waren die Proteste gegen die Verteuerung von Grundnahrungsmitteln, zu denen es 2007 und 2008 in mehr als dreißig asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern gekommen ist, die erste globale Antwort auf die sich aus der Krise ergebenden Hunger- und Spardiktate. Auf Haiti führten die Proteste im April 2008 zum Sturz der Regierung von Jacques-Édouard Alexis. Die Food Riots gehören aber auch zur Vorgeschichte der Aufstände in Tunesien, Ägypten und anderen arabischen Ländern

nd: Als Beispiel für Krisenprotste in Deutschland wird im Buch e die Hamburger Recht auf Stadt-Bewegung und die Besetzung des Gängeviertels in den Mittelpunkt gestellt. Wo ist der Zusammenhang zu den Krisenprotesten?
M.H.: Aus meiner Sicht reagieren nicht nur Bewegungen, deren Themen ausdrücklich die Krise thematisieren, auf die Krisenfolgen. Das Protestgescheneh in Deutschland ist relativ zersplittert. Anhand dieser stadtpolitischen Bewegung lässt sich zeigen, wie die Kris hierzulande in einer eher schleichenden Verschlechterung der Lebensverhältnisse vieler Menschen spürbar wird.

nd: Man kann die verschiedenen Proteste in der Welt in einem Buch zusammenbringen, die realen Krisenproteste noch hauptsächlich nationalstaatlich organisiert. Sehen Sie transnationale Bezugspunkte?
M.H.: Es gibt eine transnationale Diffusion der Proteste. Die Food Riots von 2007/08 und das Übergreifen der tunesischen Revolte auf andere arabische Länder sind Beispiele dafür. Die US-amerikanische Occupy-Bewegung hat auch Impulse aus Ländern wie Ägypten und Spanien aufgenommen. Dennoch scheitern Versuche, die Übertragung von Protestbewegungen aus einem nationalen Kontext in den anderen zu organisieren, oft an der Unterschiedlichkeit der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Allein in Europa besteht ein sehr ausgeprägtes Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: In Spanien liegt die Jugenderwerbslosigkeit bei rund 40 Prozent, in Deutschland unter zehn Prozent. Diese unterschiedliche Ausgangslage erschwert zunächst einmal gemeinsame Kämpfe.

nd: Ein Kommentar zu den Krisenprotesten hierzulande?
M.H.: Die raum-zeitliche Entkoppelung von Krisenpolitik und Krisenfolgen für die Linke ein zentrales Problem darstellt, das keineswegs durch bloße Appelle zu bewältigen ist.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/
229587.nicht-nur-auf-europa-und-die-usa-sehen.html
Interview: Peter Nowak

Fahnenschwenken als Krisenbewältigung

Studie verbindet Fußballpatriotismus mit prekären Arbeitsverhältnissen

Je bedrohter die eigene soziale Situation, desto stärker ist die Identifikation mit Fußball-Deutschland. Zu diesem Ergebnis kommt die Berliner Sozialpsychologin Dagmar Schediwy in ihrer Studie zum wieder erstarkten Patriotismus rund um den deutschen Fußball.

„Fahnenschwenken als Krisenbewältigung“ weiterlesen

Aktive bei der Arbeit

FILM Drei BerlinerInnen haben einen Film über die Arbeit von MietaktivistInnen in der Stadt gedreht

Im September letzten Jahres demonstrierten Tausende BerlinerInnen gegen zu hohe Mieten, seit Monaten werden in den einzelnen Stadtteilen immer mehr Initiativen gegen Mietpreissteigerungen aktiv. Die Frage, wer diese Menschen sind und wie sie aufgestellt sind, versucht nun der Film „Mietenstopp“ zu beantworten. Die in Berlin lebenden FilmemacherInnen Anthony Lew Shun, Martin Michael Lutz und Gertrud Schulte Westenburg, etaktivistInnen in der Stadt gedreht

Im September letzten Jahres demonstrierten Tausende BerlinerInnen gegen zu hohe Mieten, seit Monaten werden in den einzelnen Stadtteilen immer mehr Initiativen gegen Mietpreissteigerungen aktiv. Die Frage, wer diese Menschen sind und wie sie aufgestellt sind, versucht nun der Film „Mietenstopp“ zu beantworten. Die in Berlin lebenden FilmemacherInnen Anthony Lew Shun, Martin Michael Lutz und Gertrud Schulte Westenburg, die sich zum Team Filmfabrik zusammengeschlossen haben, zeigen MietaktivistInnen aus verschiedenen Stadtteilen bei ihrer Arbeit.

Sie sind dabei, während Vorbereitungen für Aktionen besprochen, Transparente gemalt oder Plakate geklebt werden. Sie begleiten AktivistInnen, die mit Mitgliedern von Baugruppen sprechen, und sprechen mit einem langjährigen Mieter, der einen Bogen von der Zeit der großen InstandbesetzerInnenwelle der frühen 1980er Jahre zum aktuellen Mietenwiderstand rund um den Chamissoplatz zieht.

Mit dabei im Film ist auch die Gruppe Antigen, in der sich KünstlerInnen zusammengeschlossen haben, die sich gegen die Ansicht wenden, für die Aufwertung der Stadtteile mitverantwortlich zu sein. „Wir freuen uns, wenn der Film dazu beiträgt, dass sich der Mietenprotest weiter vergrößert“, sagt Anthony Lew Shun vom Team Filmfabrik.

Im Vorfeld der MieterInnenproteste gegen die Jahrestagung der Immobilienwirtschaft am 18. Juni soll der Film an zwei Tagen in Friedrichshain gezeigt werden: Am 14. Juni ist er ab 20 Uhr bei einer Kundgebung am Boxhagener Platz zu sehen, am 15. Juni ab 20 Uhr im Jugendwiderstandsmuseum in der Rigaer Straße 9. Zuvor findet ab 18 Uhr am Frankfurter Tor eine Kundgebung unter dem Motto „Mieten runter, Löhne und Einkommen rauf“ statt.
Weitere Infos und Kontaktmöglichkeiten mit dem Filmteam gibt es unter: mietenstopp.blogsport.de/2012/06/06/mietenstopp-dokumentarfilm/

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?
ressort=bl&dig=2012%2F06%2F13%2Fa0148&cHash=b165cdc1de
Peter Nowak

Hat Torsten Albig eine eigene Mehrheit bekommen?

Piraten machen ihr Stimmverhalten nicht transparent

In Schleswig Holstein regiert seit heute eine Koalition aus SPD, Grünen und dem Südschleswigschen Wählerverband unter Vorsitz des Sozialdemokraten Torsten Albig. Die Kombination ist tatsächlich neu, weil der als Partei der dänischen Minderheit mit gesamtpolitischem Anspruch agierende SSW nur in Schleswig Holstein antritt. Albig erhielt zwei Stimmen mehr, als seine Dreierkoalition Abgeordnete hat.

Merkwürdigerweise wurde allerdings im Vorfeld immer wieder das Scheitern von Heide Simonis erwähnt, der aus den eigenen Reihen gleich dreimal die Stimme verweigert wurde, als sie 2005 schon ein solches Bündnis eingehen wollte. Da diese Stimmenverweigerung allgemein als Rache an Simonis verstanden wird, ist es bemerkenswert, dass hier immer wieder Parallelen gezogen wurden, obwohl es knappe Mehrheiten vor Landtagswahlen ziemlich häufig gibt.

Allerdings gibt es sicher auch in der SPD-Fraktion Mitglieder, die sich lieber einen anderen Kandidaten gewünscht hätten. Der ehemalige Kieler Oberbürgermeister hatte sich im letzten Jahr bei einer Mitgliederbefragung gegen den eigentlich als Favorit gehandelten Ralf Stegner deutlich durchgesetzt. Während Stegner damals mit einem Bekenntnis zu einer sozialeren Politik auftrat, wurde Albig, der Sprecher von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück, als Mann der Schröder-SPD wahrgenommen. Klar ist allerdings, dass die Sparpolitik der schwarz-gelben Koalition auch unter jedem anderen Kandidaten fortgesetzt worden wäre. Schließlich haben sich SPD, Grüne und auch die neu in den Landtag gewählten Piraten klar zur Schuldenbremse bekannt. Die Linke, die diesen Zwang zum Sparen abgelehnt hatte, war bei den letzten Wahlen aus dem Landtag geflogen.

Wie haben die Piraten abgestimmt?

Doch ob Albig überhaupt eine Mehrheit seiner eigenen Koalition erreicht ist, bleibt offen. Dafür trägt die Piratenparte die Verantwortung. Ausgerechnet die Partei, die sich immer als Vorkämpferin der Transparenz in der Politik geriert, lehnt es mit Verweis auf die Vertraulichkeit der Wahl ab, das Wahlverhalten ihrer Abgeordneten offen zulegen. Dabei machte die Umfrage unter den Piratenmitgliedern über die Bewertung des Koalitionsvertrages die Präferenz deutlich. In fast allen Bereichen waren diejenigen, die sich an der Abstimmung beteiligten, mit den Ergebnissen teilweise zufrieden. Diejenigen, die das Programm total ablehnten und daher eine Mitwahl der neuen Regierung ab lehnten, blieb in allen Bereichen deutlich in der Minderheit. Am Größten war noch die Ablehnung im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik, was darauf schließen lässt, dass die Freunde einer schrankenlosen Marktwirtschaft bei den Piraten im Koalitionsvertrag noch zu viel gewerkschaftsfreundliche Elemente sehen. Auch im Bereich von Umwelt und Verkehr forderte eine relevante Minderheit eine Ablehnung.

50, 8 % waren schließlich dafür, den Koalitionsvertrag zuzustimmen, 31, 6 % dagegen. Bei der Personenwahl sprachen sich sogar 62 % für und nur 27, 6 % gegen Albig aus. Hätten sich die Piratenabgeordneten an dieses Votum gehalten, wäre eine mehrheitliche Zustimmung die Konsequenz gewesen. Dann aber hätte Albig keine eigene Mehrheit gehabt. Warum die Piraten gegenüber ihren eigenen Wählern und Mitgliedern ihr Wahlverhalten nicht offen legen, wird sicher Gegenstand von Diskussionen sein. Die Begründung ist schließlich nicht stichhaltig. Denn die Freunde von begrenzter Transparenz können sich auch immer auf Bestimmungen berufen, die eine Offenlegung von Beschlüssen und Abstimmungen verbieten. Dass nun die Piraten ausgerechnet bei einem sicher nicht unwichtigen politischen Akt wie der Wahl einer neuen Regierung die Transparenz verweigern, wird ihnen sicher von politischen Freunden und Gegnern in Zukunft öfter um die Ohren gehauen werden, wenn sie wieder einmal die totale Offenheit in der Politik beschwören.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152184
Peter Nowak

Missbraucht, schwanger – und als „asozial“ stigmatisiert

ERINNERUNG Bündnis fordert Gedenken an Naziopfer, die in Rummelsburg inhaftiert waren

Viel ist über das Leben von Erna K. nicht bekannt. Die aus armen Verhältnissen stammende Frau arbeitete als Haushaltshilfe und wurde während der Naziherrschaft im Alter von 17 Jahren von ihrem Arbeitgeber missbraucht. Sie wurde schwanger und war als „asozial“ stigmatisiert zwischen 1941 und 1944 im Arbeitshaus Rummelsburg inhaftiert. 1944 wurde sie zwangssterilisiert.

Aktion der Gestapo

Die Historikerin Susanne Doetz stieß bei ihren Forschungen zur Geschichte der Zwangssterilisierung auf die Daten von Erna K. Die junge Frau war eine von Tausenden, die im Arbeitshaus Rummelsburg litten, weil sie als „asozial“ galten. Am 13. Juni 1938 verhaftete die Gestapo im Rahmen der „Aktion Arbeitsscheu“ tausende Menschen, die sich nicht in die NS-Volksgemeinschaft einfügen konnten oder wollten.

Am vergangenen Samstag organisierte der „AK Marginalisierte gestern und heute“ vor dem ehemaligen Rummelsburger Arbeitshaus eine Gedenkaktion, auf der auch die Historikerin Susanne Doetz sprach. Auf Transparenten, die an dem Gebäude befestigt waren, wurden außerdem aktuelle Forderungen formuliert: „Arbeitshäuser Rummelsburg – für einen würdigen Gedenkort“, hieß es dort.

Dieses Anliegen ist dem Bündnis sehr dringlich – denn das Rummelsburger Areal ist zum Filetstück der Immobilienbranche geworden. Zudem fürchtet die Initiative, dass sich die vom Bezirk Lichtenberg ernannte Expertenkommission, die ein Konzept für einen Gedenkort erarbeiten sollen, vor allem auf die DDR-Zeit konzentriert, in der das ehemalige Arbeitshaus als Gefängnis diente. Der Historiker Thomas Irmer, der sich seit Jahren mit der Geschichte der Berliner Arbeitshäuser befasst, bekräftigte vor Ort die Forderung der Initiative. „Hier ist der authentische Gedenkort für die Erinnerung der als ,asozial‘ verfolgten Menschen“, sagte Irmer. „Sie dürfen nicht wieder an den Rand gedrängt werden.“

Georgel Caldararu von der Romaselbsthilfeorganisation Amaro Drom wies in seiner Ansprache darauf hin, dass in vielen Ländern Europas Roma und Sinti noch immer als „asozial“ stigmatisiert werden.

Tödliche Folgen

Für Dieter Eich hatte die Stigmatisierung als „asozial“ erst vor wenigen Jahren tödliche Folgen. Er war im Mai 2000 in Buch von Neonazis ermordet worden, die hinterher damit prahlten „einen Assi geklatscht“ zu haben. Die Initiative „Niemand ist vergessen“ sammelt Spenden für einen Gedenkstein für dieses Opfer der Stigmatisierung sogenannter Asozialer.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/
?ressort=bl&dig=2012%2F06%2F12%2Fa0154&cHash=2dfe73ff50
Peter Nowak

Fußballpatriotismus in Krisenzeiten

vom 26. September 2023

Die Berliner Sozialpsychologin Dagmar Schediwy erklärt das verstärkte Nationalfahnenschwenken mit der Zunahme prekärer Arbeits- und Lebensbedingungen

Seit Freitag ist Deutschland wieder Schland geworden. Schwarzrotgolde Fähnchen sind mittlerweile Alltag. Nachdem in den letzten Jahren viele Artikel verfasst wurden, die sich mit dem nun nicht mehr so neuen Fußballpatriotismus befassen, scheint das Interesse nachzulassen. Deswegen ist es besonders bemerkenswert, dass die Berliner Sozialpsychologin Dagmar Schediwy auch im Jahr 2012 ein Buch zum neuen deutschen Fußballpatriotismus aus sozialpsychologischer Perspektive herausbringt. Die Wissenschaftlerin hat dort die Ergebnisse zahlreicher Befragungen von Fußballfans veröffentlicht. Sie hat die Interviews auf Fanmeilen in verschiedenen deutschen Städten bei den Weltmeisterschaften 2006 und 2010 sowie den Europameisterschaften 2008 durchgeführt.

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Hinterm Bauzaun bröckelts

Das Mahnmal für die von den Nazis ermordeten Sinti und Roma ist wegen eines undurchsichtigen Streits immer noch nicht fertig. Nun wächst der öffentliche Druck

Hinter einem Zaum befindet sich ein großes weißes Zelt. Die Umrisse einer Tafel sind ebenfalls zu sehen, auf der Wiese zwischen Brandenburger Tor und Reichstag. Wer sich auf die Zehenspitzen stellt, kann dort erfahren, dass an dieser Stelle die Bundesrepublik Deutschland ein Denkmal für im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma errichtet. Die Tafel stammt aus dem Jahr 2008.

Was daraus geworden ist, fasst ein Banner zusammen, das am vergangenen Wochenende am Ort der Baustelle angebracht wurde. „In seiner geisterhaften Präsenz spiegelt der Ort die Stellung der Roma-Bevölkerung in der Gesellschaft wieder“, heißt es dort mit Verweis auf Diskriminierung und Benachteiligung, die für Sinti und Roma bis heute andauern.

Knappes Budget

Die Geschichte des unvollendeten Denkmals ist tatsächlich nur ein besonders prägnanter Ausdruck dafür. Jahrelang haben sich vor allem konservative Politiker, wie der langjährige Regierende Bürgermeister von Berlin Eberhard Diepgen geweigert, nach dem Denkmal für die von den Nationalsozialisten ermordeten Juden in Berlins Mitte auch den Roma und Sinti einen Gedenkort zu widmen, die Opfer des sogenannten Dritten Reichs gequält und ermordet wurden. Wenn schon ein Denkmal, dann außerhalb der Innenstadt, hieß lange die Devise. Als der Bundestag den Denkmalsbau zwischen Reichstag und Brandenburger Tor schließlich beschlossen hatte, ging der Streit weiter.

Als Verantwortliche für den Stillstand werden vielfach die Opferverbände der Sinti und Roma benannt, die sich zeitweise nicht über die Inschrift einigen konnten. Als Buhmann gilt auch der von Roma-Organisationen gewünschte Künstler Dani Karavan, der sich bei der Gestaltung des Mahnmals mit der Berliner Bauleitung zerstritten hat. Doch tatsächlich haben sich die Opferverbände haben sich längst auf eine Inschrift geeinigt. Und die Probleme mit der Gestaltung liegen nicht an Marotten des Künstlers, sondern an einem knapp bemessenen Budget.

Das Denkmalkonzept von Karavan besteht aus einem Brunnen mit einer versenkbaren Stele, auf der täglich eine frische Blume liegt. Darüber hinaus sollen Tafeln über Ausgrenzung und Massenmord während des Nationalsozialismus informieren. Weil die schon fertig gestellte Schale bereits Risse zeigt, fordert der Künstler ausreichend Geld, um mit wetterfestem Material zu arbeiten. Auch die Opferverbände wollen sich mit einer Billigvariante des Mahnmals nicht abspeisen lassen.

Wenig Druck der Zivilgesellschaft

Während das unvollendete Denkmal also schon wieder zu verfallen beginnt, gab es bisher keinen wahrnehmbaren Druck aus der Zivilgesellschaft, den Bau endlich fortzusetzen und die nötigen finanziellen Mittel bereitzustellen. Die selbsternannten Weltmeister in Geschichtsaufarbeitung scheinen ihre Hausaufgaben bereits erledigt zu haben, und die Roma und Sinti haben keine große Lobby. Das zeigte sich auch am 2. Juni, als sich erstmals die Befürworter eines schnellen Weiterbaus in Berlin zu Wort meldeten.

Die „Bürgerinitiative für das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma“ wurde im Rahmen des Kulturfestivals Biennale aktiv. Die in der Organisation „The Romani Elders“ zusammengeschlossenen Roma-Ältesten aus ganz Europa protestierten im deutschen Regierungsviertel gegen die Verschleppung des Denkmalbaus und beklagten die fortgesetzte Ignoranz gegenüber den Hunderttausenden Opfern. Auch Karavan forderte auf der Kundgebung den schnellen Weiterbau. Koordiniert wurde der Protest vom European Roma Culture Foundation (ERCF).

Die Bürgerinitiative wirbt nun auf großen Plakaten in ganz Berlin weiter für die schnelle Vollendung des Denkmals. Auf dem Zaun vor der Baustelle finden sich über 50 Plastiktafeln, auf denen über Angriffe auf Roma und Sinti in europäischen Ländern in den letzten Jahren informiert wird. Die Lage der Sinti und Roma in Deutschland dokumentiere der Streit über das Mahnmal selbst, findet die Bürgerinitiative. „Der Zustand des unvollendeten Denkmals ist doch das beste Beispiel für die fortgesetzte Missachtung und Diskriminierung. Da brauchten wir keine zusätzliche Tafel anbringen“, sagte ein Mitarbeiter.

http://www.freitag.de/politik/1223-hinterm-bauzaun-broeckelts
Peter Nowak