Eine Lehre fürs prekäre Leben

Vor 40 Jahren begann der Niedergang der Lehrlingsbewegung, aus der auch Ton Steine Scherben hervorgingen. Angesichts der prekären Situation von Auszubildenden heutzutage wäre es an der Zeit für eine Wiederbelebung.

Ein Film, der kürzlich in den Kinos angelaufen ist, trägt den Titel »Die Ausbildung«. Regisseur Dirk Lütter schildert darin die Zwänge der neoliberalen Arbeits- und Bürowelt aus der Sicht ­eines Auszubildenden (Interview Jungle World 12/2012). Der Protagonist Jan, der eine Lehre in einem Callcenter absolviert, wird in einer Rezension der Taz als »Azubi am unteren Ende der Hackordnung« beschrieben. Auffallend sei die Uniformität, die im Büro herrsche. Alle tragen »dieselben korrekt gescheitelten Frisuren« und heißen »Jan, Jens oder Jenny«, bei den Prota­gonisten handele es sich um »prekär beschäftigte Klone«. Angesichts solcher Befunde stellt sich die Frage, ob sich wirklich viel verbessert hat im Vergleich zu jener Zeit, als anstelle von Azubis von Lehrlingen oder ganz altmodisch von »Stiften« die Rede war. Abgesehen davon, dass es damals undenkbar gewesen wäre, den Chef zu duzen, und die Zuständigkeit fürs Zigarettenholen noch zum Alltag von Lehrlingen gehörte.

»Brauchst Du einen Arbeitsmann, schaff Dir ­einen Lehrling an«, lautete einer der Slogans, mit denen sich junge Menschen vor 40 Jahren ­gegen solche Zustände zur Wehr setzten. In der Folge der Studentenbewegung bildete sich auch eine Lehrlingsbewegung heraus, doch fand eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr lange Zeit nicht statt. Kürzlich hat der Historiker David Templin von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg den Band »Lehrzeit – keine Leerzeit« herausgegeben, der den Hamburger »Aufstand der Stifte«, wie die Bewegung von den Medien häufig bezeichnet wurde, untersucht. Seine Arbeit könnte auch weitere Fallstudien anregen, schließlich war die Lehrlings­bewegung dezentral organisiert.

Das zwiespältige Verhältnis zu den DGB-Gewerkschaften spielt in dem Band ebenso eine Rolle, wie die linken politischen Gruppen jenseits der SPD. Am Beispiel Hamburgs veranschaulicht Templin die Bedeutung, die die beiden Linkssozialisten Reinhard Crusius und Manfred Wilke beim Entstehen der Lehrlingsbewegung hatten. Die Aktivisten der Gewerkschaftlichen Studentengruppe (GSG), in der Studierende der Hamburger Akademie für Wirtschaft und Politik organisiert waren, nutzten gewerkschaftliche Organisationsformen und versuchten dennoch, ihre poli­tische Autonomie zu wahren.

Dabei kam ihnen zu Hilfe, dass der Geist der außerparlamentarischen Bewegung von den Hochschulen auf immer größere Teile der Gesellschaft übergegriffen hatte. Vor allem junge Menschen begannen, auch außerhalb des Campus die Gesten der Revolte zu adaptieren. Damit ging auch ein wachsendes Interesse an politischer Auseinandersetzung einher. Ein äußerlich sichtbares Zeichen für die Veränderung war die Haarlänge bei Männern.

Die kulturelle Komponente spielte in der Lehrlingsbewegung eine große Rolle. Sehr eng mit der Bewegung verbunden war die Kölner Band Floh de Cologne, die avantgardistische Musik mit Texten aus der Arbeitswelt verband. Wesentlich berühmter wurde allerdings eine Band, die sich im Umfeld der Westberliner Lehrlingsbewegung gründete und anfangs »Rote Steine« nannte. Nach ihrer Umbenennung in Ton Steine Scherben avancierte sie zur Lieblingsband der Linken. Von der Lehrlingsbewegung hatten viele ihrer Fans jedoch kaum etwas mitbekommen, als 1972 das Album »Keine Macht für niemand« erschien, hatte die Lehrlingsbewegung ihren Höhepunkt bereits überschritten.

Wie schon bei deren Entstehen gilt Hamburg auch für den Niedergang als maßgeblich. 1972 zeigten sich in Hamburg bereits erste Zerfallserscheinungen, Mitte der siebziger Jahre war es mit der Lehrlingsbewegung in der gesamten Republik vorbei. Dabei spielten Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen kommunistischen Gruppen eine große Rolle. Während sich politisch unorganisierte Jugendliche durch die Abgrenzungsrituale der unterschiedlichen K-Gruppen ausgeschlossen fühlten, wurde innerhalb dieser Organisationen die Herausbildung einer Arbeiterjugend als hinderlich für den anvisierten gemeinsamen Klassenkampf empfunden. Ein weiterer Grund für den Niedergang der Lehrlingsbewegung waren die von der sozialliberalen Koalition durchgesetzten Reformen im Ausbildungsbereich, die vor allem den ökonomischen Erfordernissen des Wirtschaftsstandortes BRD entsprachen.

Mit dem Abschied vom »Stift«, der vor allem für die Bereitstellung von Bier und Kaffee zuständig war, gingen Änderungen einher, die vielen politisch aktiven Lehrlingen entgegenkamen. So zitiert Templin aus der Zeitungsanzeige eines Unternehmens der Deutschen Post von 1971, in der es heißt: »Wir brauchen keine Penner zum Bier- und Zeitungsholen. Denn wir legen Wert auf ihre Ausbildung«. Auch die Hamburger Handelskammer kam mit der Einführung eines Kontrollhefts, in dem der Stand der Ausbildung bei jedem Lehrling dokumentiert wird, den Jugendlichen entgegen, denen es vor allem um eine bessere Ausbildung und nicht um eine grundsätzliche Kritik der Lohnarbeit ging. Neben dem DGB avancierte die der DKP nahestehende Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) zu den Interessenvertretern dieser reformerisch eingestellten Auszubildenden. Damit hatte die SDAJ zu Beginn der siebziger Jahre Erfolg, die Mitgliederzahl stieg, einige wurden Funktionäre beim DGB. Heftige Kritik an der Politik der SDAJ wurde nicht nur von maoistischen Gruppen geübt, sondern auch von der linkssozialistischen GSG. Wilke und Crusius warfen der SDAJ sogar vor, gemeinsam mit dem DGB-Apparat die Lehrlingsbewegung niedergeschlagen zu haben.

Diese Einschätzung teilt Templin nicht. »Mit ihrer auf Organisationshandeln fixierten These tendieren beide dazu, zu übersehen, dass die Welle des politischen Aufbegehrens von Lehrlingen, die 1969 einsetzte, seit 1971 abebbte.« Als die aufständischen Lehrlinge von den Medien entdeckt wurden, war die Zeit der Revolte bereits vorbei.

Mit Blick auf den Film »Die Ausbildung« muss man mit Bedauern feststellen, dass 40 Jahre nach dem »Aufstand der Stifte« nicht ein Hauch von Protest gegen die Zurichtung zum Prekariat spürbar ist. Ob dem virulenten Desinteresse junger Menschen an Gewerkschaftsarbeit durch Jugendblocks bei den DGB-Demonstrationen am 1.Mai entgegenwirkt werden kann, muss sich zeigen. In diesem Jahr soll auch in Berlin erstmals ein solcher Jugendblock mitlaufen.

Entscheidend für die Einbindung von Jugendlichen dürfte sein, wie hartnäckig die IG Metall bei ihrer Forderung nach einer unbefristeten Übernahme nach der Beendigung der Lehre bleibt, die sie in den derzeit laufenden Tarifverhandlungen stellt. Bisher wurde diese Forderung von den Unternehmerverbänden kategorisch abgelehnt. Schließlich würde der Nachwuchs dann nicht mehr dem Zeit- und Niedriglohnsektor zur Verfügung stehen, an dessen Ausweitung die Wirtschaft großes Interesse hat. Dass die IG Metall tatsächlich auf ihrer Forderung beharrt, darf bezweifelt werden.

Bisher ist es allerdings auch nicht gelungen, die Interessen von Auszubildenden außerhalb gewerkschaftlicher Großorganisationen zur Geltung zu bringen. So konnten sich die Mayday-Paraden gegen Prekarisierung, die es in den vergangenen Jahren in verschiedenen Ländern gab, nicht dauerhaft durchsetzen. Die Flexibilisierung sämtlicher Arbeits- und Lebensbereiche erschwert auch den Widerstand.
http://jungle-world.com/artikel/2012/17/45332.html
Peter Nowak

Herausgeber/-in Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH)
David Templin
»Lehrzeit – keine Leerzeit!«
Die Hamburger Lehrlingsbewegung 1968 – 1972
Hamburger Zeitspuren Band 9
200 Seiten / 15 Abbildungen
Broschur 13 x 20,8 cm
ISBN 10: 3-86218-018-2
ISBN 13: 978-3-86218-018-9
10.00 € / Oktober 2011

Dölling und Galitz Verlag