Knast für Pflegeschelte

Weil sie auf unhaltbare Arbeitsbedingungen hinwies, soll Angelika Konietzko hinter Gitter

Die Absage kam in letzter Minute. Eigentlich hatte sich Angelika-Maria Konietzko auf einen mehrmonatigen Gefängnisaufenthalt vorbereitet. Doch jetzt wurde ihr kurzfristig mitgeteilt, dass der für heute
terminierte Haftantrittstermin vorerst ausgesetzt ist. „Für mich ist es eine Form der Zermürbungstaktik. Der Termin wurde schon einmal um 2 Wochen verschoben“, erklärte Konietzko am Montagvormittag auf einer Pressekonferenz in Berlin-Friedrichshain. Der zierlichen Frau mit den langen schwarzen Haaren merkt man auf den Blick keine Nervosität an. Sehr ruhig und bestimmt erklärt sie, dass sie weiterhin nicht bereit ist, den geforderten Offenbarungseid zu leisten und die Erzwingungshaft antreten will. .
„Ich will damit auf unhaltbare Arbeitsbedingungen im Pflegebereich sowie auf Prozessbetrug aufmerksam machen,“ betont sie. In einer nun mehr als fünfjährigen gerichtlichen Auseinandersetzung seien ihre Klagen aus formalen Gründen zurückgewiesen worden. Die mittlerweile auf 957,15 Euro angewachsenen Gerichtskosten sind der Grund für die Aufforderung zum Offenbarungseid. Der Haftbefehl besteht auch nach der Verschiebung des Haftantritts weiter.
Der Konflikt entzündete sich an den Arbeitsbedingungen in einer Demenz-Wohngemeinschaft in Berlin-Mitte, in der Konietzko seit 2001 als Pflegehelferin angestellt war .“Obwohl der Pflegedienst in seiner eigenen Werbung angab, er leiste eine 24-stündige Betreuung der unter Demenz leidenden Senioren, stand in meinem Arbeitsvertrag, dass ich lediglich Bereitschaftsdienst zu verrichten habe, der wesentlich schlechter bezahlt wurde,“ beschreibt Konietzko den Hintergrund der Auseinandersetzung. Es sei ihr dabei um die bestmögliche Betreuung der demenzkranken Senioren gegangen und die waren unter den Arbeitsbedingungen nicht zu gewährleisten“, bekräftigt sie mehrmals.
Ihre Beschwerden und Briefe seien vom Arbeitgeber nicht beantwortet worden. Eine Einschaltung von Pflegeorganisationen sei vom Pflegedienst mit einer einstweiligen untersagt worden. Der Arbeitgeber äußerte sich zu den Vorwürfen nicht.
Die Sozialpädagogin Gabriele Tammen-Parr von der Organisation „Pflege in Not“ bestätigte auf der Pressekonferenz, dass eine 24-Stunden-Wache in einer Demenz-Wohngemeinschaft unbedingt erforderlich sei. Daher unterstützte die Organisation Angelika Konietzko in ihrer Auseinandersetzung mit dem Pflegedienst. Für den Gewerkschafter Jochen Gester, der zu dem Mitbegründern des Solidaritätskomitees Angelika Konietzko ist es ein Skandal, dass Konietzkos Klagen vor Gericht aus formalen Gründen ohne die Einleitung einer Beweisaufnahme abgelehnt worden sei. Jetzt müsse verhindert werden, dass eine Beschäftigte, die wegen ihres Engagement für bessere Arbeitsbedingungen und eine optimale Pflege gemobbt und abgestraft wurde, ins Gefängnis gehen muss. Nachdem der Solidaritätskreis den Fall öffentlich gemacht hat, sind Unterstützungserklärungen für Konietzko auch von Pflegekräften aus Polen und Frankreich eingetroffen.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/219769.knast-fuer-pflegeschelte.html
Peter Nowak

Und jetzt: Aktion!


Linke Gruppen planen für März und Mai eine Reihe von Aktionstagen gegen die Sparauflagen für Griechenland. Der Schulterschluss mit den Gewerkschaften steht noch aus

Im Bundestag plagt sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Abweichlern aus den eigenen Reihen, die Griechenland vorwerfen, nicht genug zu sparen. Doch bald schon wird sie es mit Straßenprotesten zu tun bekommen, die sich gegen ihre rigorosen Sparvorgaben für Athen richten. Am 31. März beginnt in Frankfurt am Main der erste von mehreren Aktionstagen, mit denen linke Gruppen auf die EU-Krise reagieren wollen.
Organisiert wird dieser erste Aktionstag von Basisgewerkschaftlern und linken Gruppen in sieben europäischen Ländern. Ziel einer bundesweiten Demonstration ist an diesem Tag der Neubau der Europäischen Zentralbank (EZB) zwischen dem Frankfurter Osthafen und dem Mainufer. Die aktuelle EZB-Zentrale am Willy-Brandt-Platz soll zum Ort von antikapitalistischen Protesttagen vom 17. bis 19. Mai werden. Geplant sind Besetzungen von zentralen Anlagen und Plätzen in Frankfurt. Für den 18. Mai wird zu Blockaden der EZB und anderer Banken aufgerufen. Eine Großdemonstration am 19. Mai soll Höhepunkt und Abschluss der Aktionstage sein.

Schwache Gewerkschaften

Der Widerstand soll sich sowohl Ende März als auch Mitte Mai gegen die maßgeblich von der Bundesregierung vorangetriebenen Sparpakete richten, die die Troika aus Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds IWF Griechenland und anderen Ländern der europäischen Peripherie als Vorbedingung für Hilfen vorgibt. Der Vorplatz der EZB-Zentrale wird schon seit Monaten von Occupy-Aktivisten belagert. Während des strengen Frosts vor einigen Wochen bekamen sie Verstärkung von zahlreichen Wohnungslosen, die im Camp etwas sicherer als sonst die kalten Nächte verbringen können.

Die Occupy-Bewegung, die in Deutschland nie eine ähnliche Bedeutung wie in den USA, Griechenland oder Spanien bekam, will bereits am 12. Mai im Rahmen eines internationalen Aktionstag einen Neustart versuchen. Dem Vorbereitungsbündnis gehören zudem das linke Bündnis Interventionistische Linke (IL), das Erwerbslosenforum Deutschland und die globalisierungskritische Organisation Attac an.

Gewerkschaftliche Gruppen sind in den Bündnisses bisher nur schwach vertreten. Dabei zeigt sich in den letzten Wochen, dass die EU-Krise auch in den Gewerkschaften die Protestbereitschaft stärkt. So rief die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di zu Protesten während der Verabschiedung des griechische Sparpakets im Bundestag am Montagnachmittag auf. Auf einem zentralen Transparent prangte die Parole „Weg mit Merkels Sparpaket“.

Deutsche Löhne steigern für Griechenland

Die Gewerkschaften spannen inzwischen den Bogen zu den hiesigen Tarifauseinandersetzungen. „Im Namen der Schuldenbremse, der ‚leeren Kassen‘, sprechen die öffentlichen Arbeitgeber den Beschäftigten im öffentlichen Dienst das Recht auf die Forderung nach ‚kräftigen Reallohnerhöhung‘ ab – und das nach jahrelangem Reallohnverzicht“, beklagte ver.di. Der beim ver.di- Bundesvorstand für die Wirtschaftspolitik zuständige Dierk Hierschel schrieb in einem Aufsatz: „Erst wenn hierzulande die Löhne wieder kräftig steigen, haben griechische, italienische und spanische Exporteure die Chance, mehr Waren abzusetzen. Erfolgreiche deutsche Tarifabschlüsse sind somit auch Ausdruck europäischer Solidarität mit den Krisenländern.“

Diese Erkenntnis versuchten belgische Gewerkschafter ihren deutschen Kollegen schon im vergangenen Jahr mit der Kampagne „Helft Heinrich“ nahezubringen. Bei dieser Politsatire ging es darum, Arbeitnehmer in Deutschland beim Kampf um höhere Löhne zu unterstützen, um damit die Ausbreitung eines Niedriglohnsektors in Europa zu verhindern. Unklar ist, ob in den nächsten Wochen noch eine Kooperation zwischen dem Vorbereitungsbündnis für die Aktionstage und den Gewerkschaften gelingt. Nur dann könnte von der Protestagenda ein gesellschaftliches Signal gesetzt werden, dass über die linke Szene hinausgeht.
http://www.freitag.de/politik/1208-neustart-fuer-occupy?Nowak

Linkspartei nominierte Klarsfeld einstimmig zur Präsidentschaftskandidatin


Die beiden anderen Kandidaten, die ins Spiel gebracht wurden, hatten verzichtet

Die Linkspartei hat am Montag Beate Klarsfeld zur Präsidentschaftskandidatin nominiert. Damit ist ihr eigentlich ein politischer Coup gelungen. Denn Klarsfeld ist dadurch bekannt geworden, dass sie 1968 den damaligen CDU-Bundeskanzler Georg Kiesinger wegen dessen NS-Vergangenheit öffentlich geohrfeigt hat.

Während linke und liberale Kreise Klarsfeld für ihr Engagement lobten, wurde sie in konservativen Kreisen zur Buhfrau. Zumal sie auch in den folgenden Jahrzehnten mit ihrer Arbeit dafür sorgte, dass berüchtigte NS-Täter, die unbehelligt in Deutschland lebten, gerichtlich belangt werden konnten. In Deutschland wurde dieses Engagement zur privaten Angelegenheit von Klarsfeld erklärt, wo sie auch mit dem Begriff Nazijägerin belegt wurde. Bei diesen Formulierungen schwingen auch offen Ressentiments gegen eine Frau mit, für die die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit keine Angelegenheit von Sonntagsreden ist. In Frankreich hingegen genießt Klarsfeld quer durch alle politischen Lager Ansehen und wurde mit zahlreichen Ehrungen bedacht.

Bis in die jüngste Vergangenheit engagierte sich Klarsfeld gegen den Rassismus in Deutschland und beispielsweise für die Ehrung von jüdischen Kindern, die mit der deutschen Bahn in die Vernichtungslager transportiert wurden.

Streit um die Israelsolidarität

Mit ihrer Nominierung hat die Linkspartei gerade noch einmal eine Zerreißprobe vermieden. Denn am vergangenen Freitag war es gar nicht mehr so sicher, ob Klarsfeld, die von der Parteivorsitzenden Gesine Lötzsch ins Gespräch gebracht worden war und sich zur Kandidatur bereit erklärt hatte, in der Partei akzeptiert wird. Dass antizionistische Flaggschiff junge Welt bezeichnete die Kandidatin als eine Fehlbesetzung, weil sich Klarsfeld für das Existenzrecht Israel ausgesprochen und auch den Aufruf Stop the Bomb unterzeichnet hat, in dem die europäischen Staaten zur Kappung der Wirtschaftsbeziehungen mit dem iranischen Mullah-Regime aufgefordert werden. Damit könne, so hoffen die Organisatoren aus allen politischen Lagern, eine atomare Bewaffnung des Irans ohne kriegerisches Eingreifen verhindert werden.

Schnell wurde kolportiert, dass der immer noch einflussreiche Oskar Lafontaine mit dem linkssozialdemokratischen Kölner Politologen Christoph Butterwegge, der sich als Kritiker der neoliberalen Wirtschaftspolitik und vor allem der Hartz-IV-Gesetze einen Namen gemacht hatte, einen weiteren Kandidaten für die symbolische Präsidentschaftskandidatur ins Gespräch brachte. Als der am Sonntag aber erklärte, er stehe für innerlinke Machtspiele nicht bereit, und seine Bereitschaft zur Kandidatur zurückzog, war der Weg für Klarsfeld frei. Denn die Bundestagsabgeordnete der Linken Luc Joachimsen, die bei der letzten Präsidentenwahl für ihre Partei kandidiert hatte, machte schon vor Tagen deutlich, dass sie eigentlich eher für einen Boykott der Wahlen eingetreten ist.

Zwischenzeitlich hatten Teile der Linkspartei mit der Kandidatur des von der Piratenpartei ins Gespräch gebrachten Kabarettisten Georg Schramm geliebäugelt, der allerdings bald auf eine Kandidatur verzichtete. Auch gegen ihn waren Vorwürfe laut geworden, dass seine Reden nicht von antisemitischen Konnotationen frei gewesen seien.

Mit Beate Klarsfeld hat die Linke nun eine Kandidatin, der diese Vorwürfe niemand machen kann. Es muss sich zeigen, ob sie von allen Wahlmännern und -frauen der Linkspartei und vielleicht, wie sie hofft, auch noch von einigen Delegierten aus anderen politischen Spektren gewählt wird.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151514
Peter Nowak

Die Grenzen der Überwachung


Die Überwachung einer linken Gruppierung durch den Verfassungsschutz und Zweifel am hinreichenden Anfangsverdacht werden erneut vor Gericht verhandelt

Am ersten März wird vor der 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin darüber verhandelt, ob die jahrelange Überwachung von drei Aktivisten der Berliner außerparlamentarischen Linken durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) aus verwaltungsrechtlicher Sicht rechtswidrig war. Die drei wurden verdächtigt, Kontakte zur militanten Gruppe gehabt zu haben. Dass es keine Beweise gab, sorgte für eine Intensivierung der Überwachung.

Denn, so die augenscheinliche Logik des Verfassungsschutzes, wenn langjährigen Aktivisten der linken Szene keine illegalen Kontakte nachzuweisen sind, muss das daran liegen, dass sie sich besonders konspirativ verhalfen und daher noch intensiver überwacht werden müssen. Über ein Dutzend Telefonanschlüsse wurden abgehört, E-Mails wurden gelesen, Internetkommunikation ausgewertet und die Haustüren der Verdächtigen wurden mit Videokameras überwacht, zeitweise wurden die drei rund um die Uhr von Observationsteams begleitet.

Diese Logik leuchtete schon dem Bundesgerichtshof nicht ein. Er hat am 11.3.2010 entschieden, dass die Überwachung aus strafrechtlicher Sicht rechtswidrig war, weil es gegen die Betroffenen keinen hinreichenden Anfangsverdacht gegeben habe.

Bereits bei der ersten Anordnung der Überwachung und der Aufzeichnung des Fernmeldeverkehrs vom Juli 2001 habe ein „ausreichender Tatverdacht nicht vorgelegen“, urteilten die Richter. Sie monierten, dass selbst ein entlastendes Gutachten – wonach es für die Urheberschaft von Texten wie der Selbstbezichtigungsschreiben für Anschläge, die der militanten Gruppe zugerechnet wurden, keinen sicheren Nachweis gab – in einer Antragsschrift des Generalbundesanwalts an den Ermittlungsrichter des BGH „keine Erwähnung“ gefunden habe.

Zudem zeigten Auswertungsberichte des Bundeskriminalamtes zu den Überwachungsmaßnahmen, „dass wesentliche Erkenntnisse zu begangenen Straftaten nicht gewonnen werden konnten“. Die Ermittlungen hätten selbst nach Auffassung des BKA und des Generalbundesanwalts für die früheren Beschuldigten „entlastende Umstände“ erbracht. Rechtsanwalt Volker Gerloff, der die Betroffenen vor dem Verwaltungsgericht vertritt, kritisiert den Verfassungsschutz:

„Insbesondere die Logik, dass jemand, dem nichts nachzuweisen ist, sich besonders verdächtig macht, lässt erhebliche Zweifel an der Seriosität der Arbeit des BfV erkennen.“

Auch Anwaltsbüro im Visier

Zu den überwachten Orten zählte auch ein Berliner Anwaltsbüro, das auch Mandanten aus der linken Szene vertritt. Das BfV rechtfertigte diese Maßnahme damit, dass eine verdächtige Person die Telefonanschlüsse dieses Anwaltsbüros nutzen konnte. „Damit wurden über ein Jahr lang die vertraulichen Gespräche mehrerer Anwälte abgehört“, kritisierte Gerloff.

Er moniert auch, dass die gesetzlich vorgeschrieben Überprüfung der Maßnahme nicht gegeben war. Laut Gesetz muss das BfV die Überwachung beim Bundesministerium des Innern beantragen. Dieses muss wiederum die Zustimmung der sogenannten G-10-Kommission einholen. Die G-10-Kommission wird vom Bundestag eingesetzt und soll sicherstellen, dass die Überwachungsmaßnahmen des BfV parlamentarisch kontrolliert werden.

Allein die vom BfV im Gerichtsverfahren vorgelegten Teile umfassen elf Aktenordner. Die Überprüfung der Überwachungsanträge des BfV wurden jedoch durch das BMI und die G-10-Kommission noch am selben Tag bewilligt. „Es ist schlicht unmöglich, diese Anträge an einem Tag zu erfassen, zu erörtern und dazu eine Entscheidung zu treffen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass das gesetzlich vorgeschriebene Kontrollinstrumentarium vollständig versagt hat“, so Rechtsanwalt Gerloff.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/151499
Peter Nowak

Geheimakte Barbie

Der Historiker Peter Hammerschmidt forscht über den Umgang der Bundesrepublik mit Altnazis wie Klaus Barbie. Doch der Verfassungsschutz verweigert die Akten

Der Freitag: Was war der Grund für Sie, über Klaus Barbie zu forschen?
Peter Hammerschmidt: Es war ein Hauptseminar an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz über die deutsche Südamerika-Auswanderung im 19. und 20. Jahrhundert, das mein Interesse an den „Rattenlinien“ weckte. Die „Rattenlinien“ waren die von westlichen Geheimdiensten, dem Roten Kreuz und dem Vatikan initiierten Fluchtrouten, über die hochrangige NS-Funktionäre nach 1945 nach Südamerika und somit einer Strafverfolgung entkamen. Zu den Flüchtigen gehörten beispielsweise der KZ-Arzt Josef Mengele, der Kommandant des Rigaer Ghettos, Eduard Roschmann, und der Organisator des Holocaust, Adolf Eichmann. Eine weitere Person, die von dieser Protektion profitierte war eben auch Klaus Barbie, der „Schlächter von Lyon“, der trotz seiner Eintragung auf internationalen Fahndungslisten bis 1983 in Freiheit lebte und sein NS-Repressionswissen an westliche Nachrichtendienste und an südamerikanische Militärdiktaturen weitergab. Der Fall Barbie zeigt exemplarisch, inwiefern die globalpolitischen Rahmenbedingungen die Protektion von NS-Eliten nach 1945 durch westliche Nachrichtendienste begünstigten und inwiefern die Interpretation nationaler Sicherheitsinteressen die moralischen Bedenken einer solchen Protektion konterkarierten.

Wie war der Forschungsstand bisher dazu?

Speziell zum „Fall Barbie“ entstanden im Zuge der öffentlichen Diskussion im Rahmen des Barbie-Prozesses (1987) verschiedene – vor allem journalistische – Publikationen. Eine Analyse von Barbies Biografie auf wissenschaftlicher Ebene steht nach wie vor aus, hier setzt das Promotionsvorhaben an.

Sie haben auch beim Verfassungsschutz Akten zu Barbie angefordert. Welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht?

Das mittlerweile auf Basis langwieriger Interventionen freigegebene Aktenmaterial ausländischer Nachrichtendienste und Behörden legt die Vermutung nahe, dass Barbie bei seinen Reisen in die Bundesrepublik auch von Seiten des Bundesamtes für Verfassungsschutz protegiert wurde. Ein Antrag auf Akteneinsicht wurde im Herbst 2011 mit der Begründung abgewiesen, dass aufgrund der „hohen Anzahl von Verschlusssachen“ verschiedener Nachrichtengeber in den Akten sowie aufgrund des „hohen personellen Aufwandes“ keine Einzelprüfung erfolgen könne. Ein gesetzlicher Anspruch auf Akteneinsicht gegenüber dem BfV nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) bestehe nicht. Nach einer weiteren Intervention ließ sich der Inlandsnachrichtendienst Mitte Oktober 2011 doch noch zu einer entsprechenden Einzelprüfung bewegen. Nach einer „überschlägigen Sachverhaltsprüfung“ kam das BfV zu dem Ergebnis, dass eine „Offenlegung der – tatsächlich im BfV vorhandenen und grundsätzlich für eine Abgabe an das Bundesarchiv vorgesehenen – Gesamtakte zu Barbie in absehbarer Zeit aus Sicherheitsgründen leider nicht möglich“ sei. Das BfV, dem „die transparente Aufarbeitung“ der eigenen Geschichte nach eigenen Angaben ein „besonderes Anliegen“ ist, verweigert also aus – auch auf Nachfrage – nicht näher definierten „Sicherheitsgründen“ die Freigabe der im Archiv des BfV definitiv existenten Akte des „Schlächters von Lyon“ Klaus Barbie.

Mittlerweile haben sich Hinweise verdichtet, dass Barbie in der Nachkriegszeit neofaschistische Strukturen aufbaute und internationale Waffengeschäfte abwickelte. Warum mauert der Verfassungsschutz bei der Aufklärung?
Die Forschungsergebnisse, die im Rahmen der Recherchen zum Promotionsvorhaben zusammengetragen werden konnten, legen nahe, dass Barbie in Deutschland neofaschistische Strukturen organisierte und darüber hinaus zwischen 1978 und 1979 ausgewählte Neofaschisten für den politischen Umsturz in Bolivien rekrutierte. In den 1970er Jahren scheint Barbie in diesem Zusammenhang auch aktiv an der Organisation von Gladio-Strukturen beteiligt gewesen zu sein.

Gibt es juristische Möglichkeiten, die Herausgabe der Akten einzuklagen?
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig im Fall des Bundesnachrichtendienstes, das die Öffnung von Aktenmaterial im Fall Adolf Eichmann ermöglichte, bietet auch für eine juristische Intervention im Falle des BfV entsprechende Perspektiven. Sie verstehen sicher, dass ich dazu derzeit keine weiteren Angaben machen kann.

Wie bewerten Sie angesichts Ihrer Erfahrungen, die Erklärungen des Verfassungsschutzes, dass eine transparente und wissenschaftlich seriöse Aufarbeitung der eigenen Geschichte ein wichtiges Anliegen ist?
Die Weigerungshaltung des BfV, die definitiv existente Akte von Barbie freizugeben, ist auch für mich – gerade mit Blick auf die wiederholt proklamierte Transparenz einer historischen Aufarbeitung der eigenen Behördengeschichte – unerklärlich. Der Schutz von Persönlichkeitsrechten Dritter und der Schutz von Informationen befreundeter Nachrichtendienste ist wichtig. Doch stellt sich die Frage, wie eine historische Aufarbeitung des BfV möglich sein soll, wenn bereits der Freigabe einer Einzelakte derartige „Sicherheitsrisiken“ entgegenstehen. Insofern drängt sich der Verdacht auf, dass das anvisierte Forschungsprojekt, das sich mit der Geschichte des BfV zwischen 1950 und 1975 auseinandersetzen soll, einer freien und unabhängigen Forschung entgegensteht. Meines Erachtens ist der Wille zu einer transparenten Aufarbeitung des BfV mit Blick auf personelle NS-Kontinuitäten nicht zu erkennen.


Hintergrund
Peter Hammerschmidt ist Doktorand am Lehrstuhl für Neueste Geschichte an der Mainzer
Johannes Gutenberg Universität.

http://www.freitag.de/politik/1208-geheimakte-barbie
Das Interview führte Peter Nowak

Kein Guantánamo im Mittelmeer

Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wurde über europäische Flüchtlingspolitik entschieden
Italien hätte afrikanische Flüchtlinge, die noch auf See abgefangen wurden, nicht einfach zurück schicken dürfen. Das entschied am Donnerstag der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Damit stellten die Richter klar, dass das Meer kein rechtsfreier Raum ist.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befasste sich auch mit der Kooperation der EU-Staaten mit dem Gadhaffi-Regime bei der Abwehr von Flüchtlingen, die heute gerne verschwiegen wird. Dabei waren Gadaffis Dienste als europäischer Grenzwächter sehr gefragt, nicht nur von der italienischen Regierung. Flüchtlinge wurden erst gar nicht auf europäischen Boden gelassen. Ihre Boote wurden gleich im Meer zur Rückkehr gezwungen.

Kritiker sprachen von einem Guantánamo auf hoher See, weil auf den Schiffen alle Rechte der Flüchtlinge suspendiert waren. So zum Beispiel im Mai 2009: Eine Gruppe von 227 Flüchtlingen aus Somalia und Eritrea wurde von Libyen kommend 35 Seemeilen vor der italienischen Insel Lampedusa von der italienischen Grenzpolizei und Marine aufgebracht. Zunächst dachten die Flüchtlinge, sie seien in Sicherheit, als sie auf die Schiffe der Marine gebracht wurden. Doch die transportierten sie sofort zurück nach Tripolis. Das Gericht entschied, dass die Flüchtlinge dadurch unmenschlicher Behandlung und Folter in den libyschen Flüchtlingslagern ausgesetzt wurden.

Die italienische Rechtsregierung sah in der Maßnahme einen großen Erfolg. Schließlich war es die erste Aktion nach dem Rückübernahmeabkommen mit Libyen. Deshalb fuhren mit der Grenzpolizei auch Journalisten mit, die für die mediale Verbreitung sorgen sollten. Schließlich gab es bei den Anhängern der italienischen Rechtsparteien, die damals die Regierung stellten, sogar Stimmen, die eine Bombardierung der Flüchtlingsboote forderte.

Schiffe kein rechtsfreier Raum

Die Anwesenheit von zwei französischen Journalisten auf dem Polizeiboot sorgte dafür, dass diese Rückführung den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof beschäftigte. Sie recherchierten in Libyen weiter, was mit den Abgeschobenen geschehen ist. Dort bekamen sie auch die Vollmachten von 24 Abgeschobenen, mit denen die Klagen eingereicht wurden. Der Europäische Gerichtshof stellte jetzt fest, dass mit der Rückführung gleich gegen mehrere Grundsätze der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen worden sei.

So seien die Flüchtlinge durch die Rückführung in Gefahr gebracht worden, weil ihnen unmenschliche Behandlung sowohl in Libyen als auch in ihren Herkunftsländern drohte. Es sei bekannt, dass in Eritrea Flüchtige mit Haft bestraft werden, nur weil sie das Land verlassen. Auf Zusagen der libyschen Regierung, wonach für den Schutz der Flüchtlinge gesorgt werde, hätte sich die Grenzpolizei schon deshalb nicht verlassen dürfen, weil das Land weder die Genfer Konvention zum Schutz der Flüchtlinge unterzeichnet, noch das örtliche Büro des UN-Flüchtlingskommissars (UNHCR) anerkannt hatte.

Schließlich hätte Italien auch die Menschenrechtskonvention beachten müssen – den Flüchtlingen sei nämlich kein Rechtsmittel gegen ihre Zurückweisung nach Libyen ermöglicht worden. Ein solches Rechtsmittel hätte eine aufschiebende Wirkung haben müssen, so die Richter.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151490
Peter Nowak

Gerichtlich gegen Lotsen

Am Markt sind die Fluggesellschaften Ryanair, Lufthansa und Air-Berlin Konkurrenten. Doch in der Abwehr gegen Gewerkschaftsrechte kooperieren sie. Die drei Airlines haben die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) kürzlich auf die Zahlung von insgesamt 3,2 Millionen Euro Schadenersatz verklagt. Weil die Gewerkschaft während eines Tarifkonflikts im Spätsommer 2011 zu Streiks aufgerufen hat, sei den Fluggesellschaften erheblicher Schaden entstanden, lautet die Begründung für die Zivilklage, die kürzlich eingereicht wurde.

Damit versuchen die Airlines bereits die Streikdrohung sanktionieren zu lassen. Der 2011 angekündigte Ausstand hatte nicht stattgefunden, weil es in letzter Minute noch zu Verhandlungen gekommen ist. Zudem behaupten die Fluggesellschaften, die in dem Arbeitskampf erhobene GdF-Forderung, dass sicherheitsrelevante Arbeiten nur von dafür qualifiziertem Personal ausgeführt werden dürfen, sei rechtswidrig gewesen.

Der Kölner Arbeitsrechtler Dirk Vogelsang rechnet der Klage gegen die GdF geringe Erfolgschancen zu. Doch allein die Einreichung der Klage erhöhe den Druck. »Es ist für eine kleine Gewerkschaft immer latent existenzbedrohend, wenn sie mit einer Klage in dieser Höhe konfrontiert ist«, so Vogelsang. Zudem soll die Maßnahme disziplinierend auf die Gewerkschaft wirken. Es ist sicher kein Zufall, dass die Klage wegen der Streikdrohung vom Sommer 2011 gerade in einer Zeit eingereicht wurde, in der neue Arbeitskämpfe der GdF für Schlagzeilen sorgen. Neben den aus dem Unternehmerlager wieder lauter werdenden Forderungen, das Streikrecht vor allem kleiner Gewerkschaften einzuschränken, wird auch das Instrumentarium des Zivilrechts zur Anwendung gebracht.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/219392.gerichtlich-gegen-lotsen.html
Peter Nowak

Wiederentdeckung eines Aufständischen


AUFGESCHRIEBEN Der Novemberrevolutionär Richard Müller war lange vergessen – bis ein junger Historiker seine Biografie verfasste. Jetzt wurde auch Müllers „Geschichte der Novemberrevolution“ neu aufgelegt

Dass Geschichte von den Siegern geschrieben wird, diese These lässt sich an der Rezeption der Novemberrevolution in Deutschland besonders gut nachweisen. Während der rechte Sozialdemokrat Friedrich Ebert, der die Revolution nach eigenen Bekunden hasste wie die Sünde, in allen Schulbüchern steht, ist Richard Müller vergessen. Dabei gehörte der Berliner Metallarbeiter als Vorsitzender der Revolutionären Obleute 1918 zu den zentralen Protagonisten der Revolution. Für kurze Zeit war er als Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten sogar nominell Staatsoberhaupt im nachrevolutionären Deutschland. Doch selbst ein ausgewiesener Kenner der ArbeiterInnenbewegung wie der Marburger Politologe Wolfgang Abendroth schrieb über Müller in den 70er Jahren: „Dann verlieren sich seine Spuren in der Geschichte.“

Der junge Berliner Historiker Ralf Hoffrogge hat sich dennoch auf die geschichtliche Spurensuche begeben und ist fündig geworden: 2008 hat er eine Biografie des vergessenen Gewerkschafters herausgegeben: „Richard Müller – der Mann hinter der Novemberrevolution“.

Mit Telefonbüchern auf dem Fußboden

Er habe sich für seine Abschlussarbeit an der Freien Universität bewusst für Müller entschieden, weil es zu ihm keinerlei Forschungsergebnisse gab, erklärt Hoffrogge. Seine Recherche erwies sich anfangs als recht mühsam: „Zeitweise habe ich auf dem Fußboden des Archivs gesessen und Telefonbücher aus den 1920ern nach dem Namen ,Müller‘ durchsucht“, beschreibt der Geschichtswissenschaftler die Mühen der Forschung. Aus Tauf- und Handelsregistereinträgen sowie Zeitungsmeldungen gelang es ihm schließlich, Müllers Biografie weitgehend zu rekonstruieren. Das Ergebnis stieß nicht nur bei HistorikerInnen, sondern auch bei Berliner GewerkschafterInnen auf Interesse. Dort interessierte man sich vor allem für Müllers Rätekonzepte und seine Ansätze einer basisorientierten Gewerkschaftspolitik. Und von dort kam auch der Anstoß, Müllers „Geschichte der Novemberrevolution“, die Mitte der 1920er Jahre zum ersten Mal erschien, im Berliner Verlag „Die Buchmacherei“ neu herauszugeben. Als Müller das dreibändige Werk verfasste, spielte er in der Politik bereits keine Rolle mehr. Nachdem er – nach kurzer Mitgliedschaft – wegen eines Streits über die politische Orientierung aus der KPD ausgeschlossen wurde und der Aufbau einer neuen linken Gewerkschaft gescheitert war, hatte er sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.

„Die Zeitzeugenberichte Richard Müllers kamen der damaligen Realität deutlich näher als die recht einseitigen und mit Mythen, Legenden und Tabus behafteten Geschichtsbetrachtungen vieler sozialdemokratischer und kommunistischer HistorikerInnen“, begründet Verlagsmitarbeiter Jochen Gester den Reprint, von dem seit Dezember 2011 bereits mehr als 500 Exemplare verkauft worden sind.

Ralf Hoffrogge hat jetzt angeregt, eine Straße in Berlin nach Richard Müller zu benennen. Von der Politik ist der Vorschlag bisher noch nicht aufgegriffen worden. PETER NOWAK

Richard Müller: „Eine Geschichte der Novemberrevolution“. Neuausgabe der Bände „Vom Kaiserreich zur Republik“, „Die Novemberrevolution“, „Der Bürgerkrieg in Deutschland“. Verlag Die Buchmacherei, Berlin 2011, 756 Seiten

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/
?ressort=bl&dig=2012%2F02%2F24%2Fa0156&cHash=08412cdb1d
Peter Nowak

Tod im Jobcenter bleibt ohne juristische Folgen

Das Verfahren gegen eine Polizistin, die vor einem Jahr eine Hartz-IV-Empfängerin erschossen hat, wird eingestellt
Warum schoss eine Polizistin auf eine Hartz-IV-Empfängerin? Die Staatsanwaltschaft verweist auf Notwehr, eine Initiative fordert dagegen weiter eine Klärung vor Gericht.

Der Fall sorgte kurzzeitig für Schlagzeilen. Am 19.Mai 2011 starb Christy Schwundeck, eine deutsche Staatsbürgerin nigerianischer Herkunft, an einer Schussverletzung in einen Jobcenter in Frankfurt/Main an einer Schussverletzung. Das tödliche Projektil kam aus der Waffe einer Polizistin.
Schwundeck, die auf Hartz IV angewiesen war, hatte zuvor vergeblich einen kleinen finanziellen Vorschuss verlangt, weil sie mittellos und ihr Antrag noch nicht bearbeitet war. Nachdem der zuständige Fallmanager eine Barauszahlung verweigert hatte und darauf bestand, dass das Geld nur auf ein Konto überwiesen werden kann, protestierte Schwundeck heftig. Nachdem darauf die Polizei gerufen wurde, eskalierte die Situation weiter. Angehörige und Freunde der Getöteten erhofften sich von einer Gerichtsverhandlung die Klärung der Frage, wie es zu dem Schuss kommen konnte.
Doch diese Möglichkeit wird es wohl nicht geben . Die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main hat das Ermittlungsverfahren wegen Verdacht des Totschlages gegen die Todesschützin eingestellt. Nach Auswertung aller Zeugenaussagen habe sich gegen die Polizistin „kein hinreichender Tatverdacht bezüglich der Begehung einer Straftat“ ergeben, begründete ein Sprecher der Behörde die Entscheidung. Er qualifizierte den Schuss als „zulässige Notwehrhandlung“. Die Verteidigungshandlung sei notwendig gewesen, weil Christy unkontrolliert mit einem Messer um sich schlagend agiert habe und auf Aufforderungen, das Messer niederzulegen, nicht reagiert habe.
Ob damit juristisch das letzte Wort gesprochen ist, bleibt noch offen. Christy Schwundecks Bruder lässt die juristischen Erfolgsaussichten einer Beschwerde gegen die Einstellungsentscheidung des Gerichts prüfen.
Empört über die Einstellung des Verfahrens zeigte sich die „Initiative Christy Schwundeck“, in der sich Erwerbslosengruppen und Aktivisten aus antirassistischen Zusammenhängen zusammengeschlossen hatten.
„Wir fordern nach wie vor, dass es zu einem Gerichtsverfahren kommt und unterstützen den Bruder von Christy Schwundeck bei weiteren rechtlichen Schritten“, erklärte ein Sprecher der Initiative gegenüber ND.
Auch die Gewerkschaftliche Arbeitsloseninitiative Darmstadt (Galida) wehrt sich dagegen, dass der Tod im Frankfurter Jobcenter ohne juristische Folgen bleiben soll.
„Unserer Überzeugung ist die Einstellung ein falscher und fataler Entschluss, der dem berechtigten und nötigen Interesse an einer restlosen und zweifelsfreien Aufklärung der Geschehnisse zuwider läuft und das Vertrauen auch in unser Rechtssystem weiter untergräbt, erklärt Galida-Aktivist Thomas Rindt gegenüber Nd. Er stellt auch an das Jobcenter kritische Fragen zu dem Umgang mit den Erwerbsosen. Schließlich sei Schwundeck mit der Verzweiflung über „die Aussicht auf ein Wochenende ohne jegliche Geldmittel“ nicht allein.
ttps://www.neues-deutschland.de/artikel/219213.tod-im-jobcenter
-bleibt-ohne-juristische-folgen.html
Peter Nowak

Zeichen gegen Niedriglöhne

Linksradikale und antifaschistische Gruppen wollen Ende März an der EZB demonstrieren
Ein Bündnis linker Gruppen und Basisgewerkschafter mobilisiert in verschiedenen europäischen Ländern zu einem antikapitalistischen Aktionstag am 31. März.

Während Menschen in vielen europäischen Ländern mit Massenprotesten und Streiks Widerstand gegen die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen leisten, wurde in Deutschland der Niedriglohnsektor ohne große Widerstände umgesetzt. Doch wird es so ruhig bleiben? Ein Bündnis von linksradikalen Gruppen und Basisgewerkschaften bereitet im Rahmen eines europäischen Aktionstages am 31. März eine bundesweite Demonstration in Frankfurt am Main vor. Ihr Ziel ist die Baustelle der neuen Europäischen Zentralbank (EZB). Dabei geht es den Organisatoren nicht um die Anprangerung der »bösen Banken«, betont Marlies Sommer vom linken Ums-Ganze-Bündnis, das in Deutschland die Mobilisierung am 31.März wesentlich mit vorbereitet. »Die EZB ist eines der zentralen politischen Instrumente, mit denen die starken Länder der Eurozone, vor allem Deutschland und Frankreich, versuchen, die kapitalistische Krise auf dem Rücken der Lohnabhängigen hier und vor allem in Südeuropa zu lösen«, begründet Sommer das Demoziel.

Die heiße Phase der Mobilisierung hat begonnen. In verschiedenen Städten finden Infoveranstaltungen statt. Auch der Verkauf der Bustickets ist angelaufen. Das Interesse sei groß, erklärt Leo Schneider vom M31-Bündnis gegenüber »nd«. »Prima, dass auch in Deutschland endlich Krisenproteste vorbereitet werden« – Reaktionen wie diese habe man vor allem bei politisch aktiven Menschen in den letzten Wochen häufig gehört. Der 31. März soll den Auftakt für weitere Proteste im Laufe des Jahres bilden. »Damit wollen wir ein deutliches Zeichen des Widerstandes setzten«, betont Schneider.

Die Vorbereitungsgruppe hofft, dass sich Gewerkschafter und Erwerbslosenaktivisten an den Protesten beteiligen. Schließlich hat auch der ver.di-Wirtschaftsexperte Dierk Hirschel selbstkritisch eingeräumt, dass es den großen Gewerkschaften in Europa nicht gelinge, gemeinsam in der Krise zu mobilisieren. »Eine Koordination der Proteste findet nicht statt. Die Griechen streiken am Montag, die Spanier am Mittwoch, Rom protestiert am Samstag und Berlin verschickt Solidaritätsadressen. Aus dieser Vielfalt entsteht keine starke Allianz des Widerstands«, stellt Hirschel fest.

In der Vorbereitung für den Aktionstag haben sich vor allen kleinere Basisgewerkschaften aus verschiedenen europäischen Ländern zusammengeschlossen. Aus Deutschland ist die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) dabei. In Spanien und Griechenland sind kleine, aber mobilisierungsfähige Gewerkschaften wesentlich beteiligt.

Die Idee für den Tag kam aus dem griechischen Thessaloniki. Dort wehren sich Beschäftigte und Anwohner gegen die im Rahmen des von der EU diktierten Krisenprogramms auferlegte Privatisierung der Wasserversorgung. Der 31. März soll daher sowohl ein Zeichen gegen die Ausbreitung des Niedriglohnsektors als auch gegen die Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen setzen.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/219238.zeichen-gegen-niedrigloehne.html
Peter Nowak

Gleiche Arbeit – gleiches Geld

Ein Büchlein sammelt Argumente zur Abschaffung der Leiharbeit

Andreas Förster, / Holger Marcks (Hg.): „Knecht zweier Herren. Zur Abschaffung der Leiharbeit“, Münster November 2011, 78 Seiten, EUR 7,80, ISBN 978-3-89771-112-9

Der Trend zum Kleinbuch hält an. Dass in der Kürze manchmal die Würze liegen kann, beweisen die Berliner Journalisten Andreas Förster und, Holger Marcks mit ihrem gerade im Unrast-Verlag erschienen Büchlein: „Zur Abschaffung der Leiharbeit“ bewiesen. Damit widmen sie sich dem eigentlichen Boom-Sektor in der deutschen Wirtschaft.
In den 70er Jahren galt sdie Leiharbeit noch als Skandal, wie sich an dem Bestseller „Ganz unten“ von Günther Wallraff zeigte. Die Leiharbeitsbranche hatte damals noch Imageprobleme und kämpfte um die Begriffe. Zeitarbeit und Personalleasing sollten den Begriff der Leiharbeit ersetzen. Bei den Beschäftigten hat eine solche semantische Maskerade wenig Erfolg. Sie kennen den Inhalt des Begriffs sehr genau.
Der Boom der Leiharbeit hatte ökonomische Gründe, die Holger Marcks und Andreas Förster in ihren Beiträgen nachzeichnen. Die Hartz IV-Gesetze waren nur der letzte Baustein. Förster zeigt auf, wie seit Ende der 90er Jahre die gesetzlichen Regelungen für die Etablierung der Leiharbeit geschaffen wurde. Ziel war die Senkung der Kosten der Ware Arbeitskraft.
Matthias Seiffert untersucht in seinem Beitrag: „Titel Around the Work – die globale Ausprägung der Leiharbeit“ die Bedingungen für die Leiharbeit im EU-Raum. Bisher ist Griechenland mit 0,1 Prozent der Leiharbeiter noch ein Schlusslicht. Das dürfte sich mit der Etablierung eines EU-Krisenprotektorats für das Land ändern. Es stellt sich die Frage, ob die niedrige Zahl der Leiharbeiter in dem Land auch ein Erfolg gewerkschaftlicher Kämpfe war. In Deutschland zumindest haben die DGB-Gewerkschaften nach Meinung von Andreas Förster einen großen Fehler begangen, indem sie Tarifverträge mit Leiharbeitsfirmen schlossen. „Ohne Tarifvertrag gilt für Lohnarbeiter der einfache wie einleuchtende Grundsatz: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Nichtstun wäre hier für seriöse Gewerkschaften die Devise gewesen, denn zum Vertragsabschluss gehören immer noch zwei“, formuliert Andreas Förster eine Kritik, die zunehmend auch in den DGB-Gewerkschaften zu hören ist. So hat das von der IG-Metall initiierte Netzwerk „ZeitarbeiterInnen – ohne Organisation machtlos“ (ZOOM) die vage Parole “Leiharbeit fair gestalten“ durch die Forderung „Gleiche Arbeit – gleiches Geld“ ersetzt.
Der Münsteraner Soziologe Torsten Bewernitz gibt in seinem Beitrag „Stille Wasser – die Ansätze von Widerstand gegen die Leiharbeit“ einen kurzen Überblick über Proteste gegen die Leiharbeit in Deutschland. Er erwähnt Kundgebungen gegen die Leiharbeitsmessen und Jobbörsen, geht auf Leiharbeitsspaziergänge ein, bei denen bekannte Firmen aufgesucht wurden, und erinnert an denm Streik bei einer Leiharbeitsfirma in Frankfurt/Main im Dezember 2005. Dass auch die Kampagne „Leiharbeit abschaffen“ der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU) in dem Buch erwähnt wird, muss nicht verwundernt. Schließlich sind fünf der sechs Autoren FAU-Mitglieder.


MiIt Sklaverei gleichgesetzt

Dass die Forderung nach Abschaffung der Leiharbeit keine Traumtänzerei ist, machte der Beschluss des Oberste Gerichtshof von Namibia deutlich, den Matthias Seiffert in seinen schon erwähnten kurzen Überblick über die globale Ausprägung der Leiharbeit hervorhob. gibt es dazu einen Beitrag in dem Buch? Er verbot nach anhaltenden Gewerkschaftsprotesten 2009 die Leiharbeit mit der Begründung, dass sie mit der Sklaverei gleichzusetzen und damit in dem südafrikanischen Land illegal sei. Damit schloss sich die namibische Justiz argumentiert hier genauso wie einer Bewertung der die IG-Metall, die in einer Broschüre 1994 die Leiharbeit ebenfalls und zu Recht als moderne Sklavenarbeit bezeichnete.
http://www.labournet.de/express/
Peter Nowak
aus: „express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit“, 1/2012

Gauck – kein Freund der Erwerbslosen?

Nach seiner Nominierung melden sich auch die ersten Kritiker des Rostocker Theologen zu Wort, die ein „blaues Wunder“ mit Gauck befürchten

Die Bild-Zeitung hatte mal wieder das Ohr anscheinend ganz nah am Volke. „Gebt uns Gauck“, leitartikelte das Blatt vor zwei Tagen. Nachdem die um ihr Überleben kämpfende FDP erkannt hatte, dass sie sich in dieser Frage gut profilieren konnte und sogar ein Koalitionsbruch drohte, hatte auch die Union die Zeichen der Zeit erkannt. Ist mit der Nominierung des von den Medien zum „Präsidenten der Herzen“ ernannten Pastors nun die Gauckomanie ausgebrochen? Fast scheint es so, wenn selbst der eher nüchterne Publizist Heribert Prantl von „einem Wunder namens Gauck“ schreibt.

Manche befürchten allerdings, mit Gauck eher ein „blaues Wunder“ zu erleben. Kaum wurde seine Nominierung bekannt, meldeten sich auch die Kritiker des Rostocker Theologen zu Wort. Für das Erwerbslosen Forum ist Gauck „eine unglückliche Entscheidung für Menschen in Armut“. Der Forumssprecher Martin Behrsing erinnerte an Kommentare von Gauck zu aktuellen Protestbewegungen.

„Wer Menschen, die bereits 2004 gegen die geplante Hartz-IV-Gesetzgebung demonstrierten, als töricht und geschichtsvergessen bezeichnet und die Occupy-Bewegung mit seiner Kapitalismuskritik für unsäglich albern hält, muss sich fragen lassen, ob er wirklich ein Bundespräsident für alle werden kann.“

Gauck kritisierte die Kritiker der Hartz-IV-Gesetze vor allem, weil sie sich in die Tradition der Montagsdemonstrationen in der Endphase der DDR stellen. Das sei „töricht und geschichtsvergessen“, monierte Gauck. Während es bei den Demonstrationen 1989 um fundamentalen Widerstand gegen das DDR-Regime gegangen sei, handele es sich bei den Erwerbslosenprotesten um „eine Opposition in einem demokratischen System“. Eine ähnliche Kritik an den Erwerbslosenprotesten äußerte damals auch die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld, die heute zum rechten Flügel der Union zählt und schon seit Wochen für eine zweite Chance für Gauck geworben hat.

Aber auch der frühere SPD-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, der wesentlich für die Etablierung der Hartz-IV-Gesetze verantwortlich war, schloss sich Gaucks Schelte der Erwerbslosenproteste an. Dass es ihm dabei nicht nur um den Bezug auf die Montagsdemonstrationen ging, machte er mit seiner Aufforderung an „die Anführer solcher Proteste“ deutlich, Alternativen zu formulieren und zu sagen, wofür sie einträten. Darin sahen viele Aktivisten der Bewegung, die sich gerade nicht auf Anführer stützte und die die Angst vor der Verarmung auf die Straße trieb, eine Parteinahme für die Agenda 2010.

Mut zur Kürzung von Sozialleistungen?

Schließlich hatte Gauck Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder ausdrücklich für seinen Mut bei der Hartz-IV-Reform gelobt:

„Als Gerhard Schröder einst die Frage aufwarf, wie viel Fürsorge sich das Land noch leisten kann, da ist er ein Risiko eingegangen. Solche Versuche mit Mut brauchen wir heute wieder.“

So ist es durchaus verständlich, wenn soziale Interessenverbände hellhörig werden. Auf Foren von Erwerbslosen wird Gauck daher noch heute als „Theologe der Herzlosigkeit“ bezeichnet. Die Publizistin Jutta Ditfurth nannte Gauck in einem Kommentar als „Prediger der verrohenden Mittelschicht“.
Tatsächlich könnte Gauck anders als Wulff als Präsident ein Wir-Gefühl erzeugen, das keine sozialen Interessen mehr zu kennen scheint und „aus Liebe zu Deutschland“ zu noch mehr Opfer und Verzicht mobilisiert. Wenn man einige Pressereaktionen nach seiner Nominierung liest, zeigt sich, dass solche Befürchtungen so grundlos nicht sind.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151465
Peter Nowak

Polen auch gegen AKW

»Atomkraft, nein danke!«, sagte vor wenigen Tagen eine große Mehrheit der Bewohner an der polnischen Ostseeküste.
In einem Referendum sollten sie die Frage beantworten, ob in Mielno ein Atomkraftwerk gebaut werden soll. Das Ergebnis fiel eindeutig aus. Von den 4100 stimmberechtigten Bewohnern beteiligten sich mit 2366 Menschen mehr als die Hälfte am Referendum. Davon stimmten 2237 Bürger mit nein.

Eine so deutliche Abfuhr hatte die polnische Atomlobby, bestehend aus der polnischen Regierung und dem mit dem Bau beauftragten Energiekonzern Polska Grupa Energetyczna (PGE), wohl nicht erwartet. Die PGE machte auch in einer ersten Stellungnahme »Desinformation der Bürger« für das Ergebnis verantwortlich. Dabei hatten die meisten polnischen Medien in den letzten Wochen massiv Propaganda für den AKW-Bau gemacht. Der wurde als Beitrag zur Verringerung der Arbeitslosigkeit und zur Sicherung der nationalen Energieversorgung hingestellt. Die Bewohner von Mielno stellten sich jedoch eine ganz einfache Frage: »Welcher Tourist wird bei uns noch Urlaub machen, wenn hier erst einmal ein AKW steht?«

Der Ausgang des Referendums bedeutet zwar noch keineswegs das Ende der polnischen AKW-Pläne. Die polnische Regierung will daran festhalten und das Referendum ist ohnehin nicht bindend. Doch die Frage der Wähler in Mielno nach den Touristen dürfte in der Woiwodschaft an der Ostseeküste noch vielen anderen zu denken geben. Denn der Tourismus beschäftigt mehr Menschen als ein hochtechnisiertes AKW.

Für die AKW-Gegner in Deutschland sollte der Ausgang des Referendums ein Grund mehr sein, sich um eine Kooperation mit den polnischen Freunden zu bemühen. Ein in diesem Sommer geplantes deutsch-polnisches Anti-AKW-Camp könnte dafür eine gute Grundlage sein. Eine solche Zusammenarbeit würde auch den Rechten in Mecklenburg-Vorpommern den Wind aus den Segeln nehmen, die die AKW-Frage für antipolnische Ressentiments ausnutzt.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/218924.polen-auch-gegen-akw.html
Peter Nowak

Führe in Frieden

Zwei Gerichtsurteile aus den vergangenen Wochen bringen NS-Opfer um ihr Recht auf Entschädigungen. Die Vergangenheit der europäischen Führungsmacht Deutschland soll endgültig zu den Akten gelegt werden.

»Europa lernt Deutsch. Deutschland setzt sich durch.« Diese Zeilen prangen auf zahlreichen Werbetafeln, mit denen sich die Welt am Sonntag als Stimme einer selbstbewussten Nation anpreist. Der auf den Tafeln abgebildete Artikel berichtet vom EU-Gipfel vergangenen Herbst in Brüssel, bei dem das deutsche Sparmodell zum europäischen Weg erklärt wurde. Seitdem lassen sich immer mehr deutsche Politiker mit Parolen vernehmen – erinnert sei etwa an Volker Kauders (CDU) »Jetzt wird in Europa Deutsch gesprochen« –, mit denen sie die deutsche Führungsrolle in Europa rühmen.

Man hat sich an diese deutsche Machtposition in Europa gewöhnt. Selbst Warnungen, dass die Bundesrepublik ihren gewonnenen Einfluss nutzen möchte, um einen Schlussstrich unter ihre NS-Vergangenheit zu ziehen, erzeugen bei vielen nur mehr ein Gähnen. Dabei ist man der Umsetzung dieses Vorhabens, mit dem sich Deutschland endlich seinen Rechtsfrieden in Bezug auf die Naziverbrechen schaffen möchte, in den vergangenen Wochen sehr nah gekommen. »Deutschland setzt sich durch« hätte daher auch die Überschrift zu einem Artikel über die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) lauten können, die weitere Entschädigungsklagen von Opfern deutscher Kriegsverbrechen unmöglich macht (siehe auch Jungle World 05/12).

Geklagt hatten in dem Prozess mehrere Opfergruppen: italienische Zivilisten und Soldaten, die nach Deutschland verschleppt worden waren und als Zwangsarbeiter schuften mussten, sowie Überlebende und Angehörige von Opfern deutscher Kriegsmassaker, sowohl aus Italien wie aus Griechenland. Einer dieser Mordaktionen, durchgeführt am 10. Juni 1944 von der SS, fielen im griechischen Ort Distomo 200 Bewohner zum Opfer. Noch heute versammeln sich die noch lebenden Mörder von Distomo jährlich zu Kameradschaftstreffen, auf denen sie Erinnerungen austauschen. Die Familien von Distomo haben bisher keinerlei Wiedergutmachung erhalten. Und dabei wird es nach dem Urteil von Den Haag auch bleiben.

Dabei hatten zuvor griechische und italienische Gerichte die Ansprüche von Betroffenen für rechtmäßig erklärt. Deutsche Kultureinrichtungen in Griechenland und Italien waren bereits mit einer Zwangshypothek belegt worden, um aus dem Erlös die Entschädigungen zu finanzieren. Mit dem Urteil des IGH ist dies nun hinfällig. Der »AK Distomo«, der sich seit Jahren für die Entschädigung der Opfer und ihrer Angehörigen einsetzt, spricht von einem »sehr traurigen Tag«, haben doch »die Ideologie des Stärkeren und die Norm der Mächtigen über die Anerkennung des Unrechts gegenüber den einzelnen Machtlosen obsiegt«. Die Initiative bewertet die Entscheidung vor dem Hintergrund der gegenwärtigen politischen Situation. »Der Gerichtshof hat sich der Macht Deutschlands und der Staatsräson gebeugt und die Grundlagen der Nürnberger Prozesse faktisch beseitigt«, schreibt der Arbeitskreis.

Die meisten deutschen Kommentatoren hoben angesichts des Urteils hingegen hervor, dass mit der Entscheidung »Rechtssicherheit« hergestellt und die Staatsimmunität gestärkt worden sei. Hinter dieser scheinbar sachlichen, vordergründig rechtspolitischen Beurteilung verbergen sich die Ignoranz gegenüber den Opfern deutscher Verbrechen und eine Identifizierung mit der deutschen Staatsräson. Der Kommentator der FAZ, Reinhard Müller, stellte gar Täter und Opfer deutscher Verbrechen gewissermaßen auf eine Stufe. Ob es »ein schwarzer Tag für die Menschenrechte sei«, wenn Deutschland nun nicht »für ausländische Opfer nationalsozialistischer Untaten zahlen« müsse, fragte er und gab zur Antwort: »Ita­lien und Griechenland können letztlich froh sein, dass der Internationale Gerichtshof Deutschland Recht gab – und insgeheim sind sie es wohl auch.« Schließlich hätte sonst auch »Berlins alter Verbündeter Italien« mit einer Klagewelle rechnen können.

Zugleich machte Müller deutlich, was nicht nur für ihn die Quintessenz des Urteils ist: »Rechtlich sind demnach alle Staaten gleich, keiner darf über den anderen zu Gericht sitzen« – ein Sinnspruch, der von Rechten unterschiedlicher Couleur bereits gegen die Nürnberger Prozesse vorgebracht wurde und nun zu einer Lehre des Völkerrechts gemacht wird. Doch bei dieser Lesart wird unterschlagen, dass Recht nichts Feststehendes ist, sondern das Ergebnis von Kräfteverhältnissen. Und diese spiegeln sich in dem Urteil gut wider: Deutschland hat sich vor dem IGH in derselben Weise durchgesetzt, wie es gerade in Europa den Ton angibt.

Mit der Abwehr der Entschädigungszahlungen erscheint Deutschland als später Sieger, der sich in Zynismus gegenüber den NS-Opfern üben kann. Für deren Ansprüche sei heutzutage »kein Raum mehr«, weiß denn auch Müller, »denn der Frieden, der heute in Europa herrscht (…) und der auch nicht durch chronische Nazi-Vergleiche gefährdet ist, wird nicht zuletzt durch den jetzt bestätigten Grundsatz gesichert: die Immunität der (Rechts-)Staaten«. In einer Zeit, in der die deutsche Regierung Griechenland mit Sparkommissaren und Sonderkonten droht, ist es offensichtlich für NS-Opfer zu spät, Forderungen zu stellen.

Dies bestätigt sich auch im Fall der noch lebenden »Ghettorentner«. Dabei handelt es sich um Über­lebende der Shoa, die in den Ghettos des besetzten Europa für Hungerlöhne schuften mussten. Für die meisten von ihnen führte der Weg vom Ghetto direkt in die Vernichtungslager. Die wenigen Überlebenden müssen seit Jahren um eine Rente kämpfen. Für die deutschen Rentenversicherer war es ein Leichtes, ihre Ansprüche zu verschleppen, müssen die Betroffenen dem »Ghettorentengesetz« von 2002 zufolge doch den Nachweis antreten, dass sie »aus eigenem Willensentschluss« und »gegen Entgelt« im Ghetto gearbeitet hatten. Ansonsten fällt ihr Fall in den gesondert zu behandelnden Bereich der Zwangsarbeit, für den die Rentenkassen nicht zuständig sind. Der Antrag musste zudem bis Mitte 2003 gestellt werden, um rückwirkend Ansprüche ab Juli 1997 geltend zu machen. In keinem anderen Entschädigungsbereich gab es eine so hohe Ablehnungsquote: Über 90 Prozent der Anträge wurden von den Rententrägern zurückgewiesen.

So war es auch im Fall zweier in Israel lebender Frauen, deren Antrag zunächst abgelehnt worden war. Erst ihrem Überprüfungsantrag von 2009 wurde stattgegeben. Letztlich klagten sie gegen die Rentenversicherer, weil ihnen Zahlungen vorenthalten worden waren. Da ihr Antrag – so die Argumentation der Versicherer – zunächst abgelehnt wurde, gelte das Jahr 2009 als Antragsdatum und die Renten seien nur rückwirkend bis 2005 zu zahlen. Das Bundessozialgericht in Kassel gab den Rentenkassen in der vergangenen Woche recht. Denn es stellte fest, dass auch für »Ghettorentner« das deutsche Sozialrecht – und damit die gesetzliche Nachzahlungsgrenze von vier Kalenderjahren – zu gelten habe.

Betroffen von dem Urteil sind 22 000 noch lebende NS-Opfer, deren Erstantrag zunächst abgelehnt wurde. Bis zu einer halben Milliarde Euro sparen die Versicherer dadurch. Greg Schneider von der Claims Conference, die sich für die mate­rielle Entschädigungen von Juden einsetzt, appellierte infolge des Urteils an die deutsche Politik, die letzte Möglichkeit zu nutzen, den hochbetagten Überlebenden ein Mindestmaß an Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es ist zu befürchten, dass dies nicht geschehen wird. Deutschland hat mit der Vergangenheit abgeschlossen und blickt als europäische Führungsmacht in die Zukunft.
http://jungle-world.com/artikel/2012/07/44877.html
Peter Nowak

Auf Wunsch der Zuschauer?

MEDIENwelt: Arbeitsbedingungen und Profit

Man hätte denken können, Bernhard Stampfer redet auf einer Werbeveranstaltung der Spieleindustrie. Doch der Finanzierungsexperte lobte auf einer Veranstaltung der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di die Profitmöglichkeiten der Industrie in immer neuen Wortschöpfungen. Unter der Fragestellung »Die Medien von morgen – schöne neue Arbeitswelt?« hatte die Filmunion von ver.di vor Wochenfrist zur Debatte ins Filmhaus am Potsdamer Platz in Berlin eingeladen. Der Saal war voll, viele der Zuhörer kamen aus der Medienbranche. Beim Imbiss nach der Veranstaltung sprachen sie über den Zeitdruck ihrer Arbeit und den Zwang, immer flexibel zu sein.

Doch während der Diskussion kam gerade dieser Aspekt nur am Rande vor. Der Schwerpunkt der Debatte lag auf der von allen Referenten wiederholten Erkenntnis, dass sich die Mediengesellschaft noch immer im Umbruch befinde und die Zeiten der Öffentlich-Rechtlichen längst vorbei sei. Regisseur Peter Henning betonte, dass die Programmgestalter dafür auch Verantwortung tragen, wenn sie beispielsweise kaum noch Geld für Dokumentarfilme ausgeben. Damit würden Regisseure zu der Konkurrenz der Privaten getrieben. Auch der Filmproduzent Marc Lepetit monierte die Programmpolitik der TV-Verantwortlichen. So würden bei der Produktion von Serien, die gut liefen, mit der Begründung, sie würden sich jetzt selber tragen, die finanziellen Mittel gekürzt. Dabei käme es gerade darauf an, diese erfolgreichen Marken weiter auszubauen, so Lepetit. Fast alle Referenten beriefen sich immer wieder auf die Zuschauer, deren Wünsche bedient werden müssten.

Dabei wurde aber die Frage gar nicht gestellt, wie diese Bedürfnisse gesellschaftlich erzeugt werden. War nicht die Einführung des Privatfernsehens, gegen das die Vorgängergewerkschaft von ver.di erfolglos gekämpft hat, eine wichtige Weichenstellung bei dieser Entwicklung? Auch die gesellschaftlichen Folgen einer weiteren Individualisierung des Fernsehprogramms, das sich jeder persönlich auf sein Handy laden können soll, blieben ausgeblendet. Hatte der Austausch über die gemeinsam gesehenen Fernsehserien am Arbeitsplatz und in der Schule nicht eine wichtige gesellschaftliche Funktion erfüllt?

Die Editorin Christine Schnorr sprach, unterstützt von Wortmeldungen aus dem Publikum, dann noch die Frage an, was die hochgelobten Veränderungen für die Beschäftigten im Medienbereich bedeuten, die nicht so flexibel sein wollen und können und die unter Kreativität nicht verstehen, jederzeit und immer erreichbar zu sein. Die entsprechenden Flyer hat der einladende Bundesfilmverband bei ver.di schon gedruckt. »Horrorfilm?« heißt es dort in Bezug auf die Arbeitsbedingungen in der schönen neuen Medienwelt.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/218824.auf-wunsch-der-zuschauer.html Nowak