Keine Stille nach dem Schuss

In einem hessischen Jobcenter wurde bei einem Polizeieinsatz eine Hartz-IV-Bezieherin tödlich verletzt. Der Ehemann und Freunde der Verstorbenen möchten das Geschehen rekonstruieren, unterstützt werden sie von Erwerbslosengruppen, anti­rassistischen Initiativen und Gewerkschaften.

 

DruckenWarum Christy Schwundeck sterben musste, ist ihren Freunden auch zwei Monate nach ihrem Tod noch immer ein Rätsel. Die in Nigeria geborene deutsche Staatsbürgerin starb am 19. Mai im Jobcenter des Stadtteils Gallus in Frankfurt am Main durch eine Polizeikugel.

Nach polizeilicher Darstellung war es zu einem Streit zwischen der 39jährigen Frau und einem Sachbearbeiter wegen der Auszahlung eines kleinen Vorschusses auf ihren bereits bewilligten Hartz-IV-Antrag gekommen. Weil Schwundeck über keinerlei finanzielle Mittel verfügte, wollte sie das Jobcenter erst verlassen, nachdem ihr zehn Euro ausgezahlt worden waren. Aus Sicht der Mitarbeiter der Behörde hat sie damit den Betriebsablauf gestört. Als die herbeigerufene Polizei Schwundeck zum Vorzeigen ihrer Ausweispapiere aufforderte, soll sie einen Polizeibeamten mit einem Messer angegriffen haben. Daraufhin hat eine Polizistin Schwundeck durch einen Bauchschuss lebensgefährlich verletzt. Die Frau verlor noch im Jobcenter das Bewusstsein und starb kurz darauf im Krankenhaus. Polizei und Staatsanwaltschaft erklärten bereits wenige Tage später, die Polizistin habe in einem »klaren Fall von Notwehr« gehandelt. Auch ein Großteil der Medien hat diese Version übernommen. »Über die persönliche Situation der Frau, die zum Amoklauf führte, wurde anfangs nicht berichtet. Man hat sie zum Monster gemacht und als Störerin abgestempelt«, bewertete Bernhard Schülke von der Frankfurter Erwerbslosengruppe Lucky Losers die Reaktionen in den Medien nach dem Tod von Schwundeck.

Nur der Ehemann und die Freunde der Toten wollten sich mit dieser Version nicht zufrieden geben. Einige Wochen nach ihrem Tod gründete sich die Initiative Christy Schwundeck, an der Erwerbslosengruppen, antirassistischen Initiativen und Untergliederungen der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi beteiligt sind. Am 18. Juni organisierte die Initiative einen Trauermarsch mit etwa 350 Teilnehmern durch die Frankfurter Innenstadt. Diese forderten Aufklärung über die Vorgeschichte des tödlichen Schusses. »Wir haben viele Fragen, auf die wir bis heute keine Antwort erhalten haben«, sagt Manga Diagne von der hessischen senegalesischen Vereinigung der Jungle World. »Hätte die Polizistin auch geschossen, wenn Schwundeck keine schwarze Hautfarbe gehabt hätte?« ist für ihn eine zentrale Frage. Die Initiative will auch die Ereignisse vor dem Eintreffen der Polizei rekon­struieren. Denn wie es zu der für Schwundeck tödlichen Eskalation kommen konnte, ist noch immer ungeklärt. Schließlich hatte die Leiterin des Jobcenters, Claudia Czernohorsky-Grüneberg, der Presse erklärt, die Frau sei gegenüber dem Sachbearbeiter nicht laut geworden. Außerdem wäre nach Angaben der Leiterin die Auszahlung eines kleinen Vorschuss sehr wohl möglich gewesen. Dann muss man sich fragen, warum Schwundeck der Vorschuss verweigert und stattdessen die Polizei gerufen wurde. Wollte man einer Frau, die sich nicht abwimmeln ließ, die Staatsmacht spüren lassen? Spielte dabei auch ihre Hautfarbe eine Rolle? Diesen Fragen möchte die Initiative Christy Schwundeck nachgehen. Bevor sie sich über die nächsten juristischen und politischen Schritte verständigt, will sie die Einsicht in die Akten abwarten.

Für Diagne ist der Tod von Schwundeck keine Verkettung unglücklicher Umstände, sondern liegt im Hartz-IV-System begründet: »Erwerbslose werden generell oft als Bittsteller behandelt und ihre Forderungen werden oft abgebügelt. Bei Schwundeck kam noch die Diskriminierung wegen ihrer Hautfarbe dazu.«

Wenn es auch selten zu tödlichen Konsequenzen kommt, die Klagen über die Behandlung im Jobcenter nehmen zu. »Immer wieder beschweren sich Erwerbslose mit migrantischem Hintergrund über Rassismus im Amt«, sagt Florian. Er beteiligt sich als Mitglied der Gruppe »Für eine Linke Strömung« (Fels) an einer Befragung vor dem Jobcenter im Berliner Stadtteil Neukölln. Nach dem Vorbild der militanten Untersuchung, mit denen radikale Linke in Italien Informationen über das Fa­brikregime sammelten, möchte Fels die Funktion der Arbeitsagenturen und Möglichkeiten einer politischen Intervention erkunden. »Obwohl die Klagen über die Behandlung im Jobcenter groß sind, ist die Bereitschaft zur Gegenwehr nicht sehr ausgeprägt«, schlussfolgert Florian aus der Untersuchung.

Erwerbsloseninitiativen sehen in fehlenden oder unzureichenden solidarischen Strukturen einen Grund für die Ausweglosigkeit und Verzweiflung, die bei Christy Schwundeck tödlich endete. »Wenn es nicht an vielen Orten den unermüdlichen Einsatz von Freiwilligen in den Selbsthilfe-Beratungsgruppen gäbe, würde auf den Ämtern viel mehr passieren«, sagte ein engagierter Erwerbsloser nach Schwundecks Tod. Mit der Kampagne »Niemand muss allein zum Amt« versuchen Initiativen, der Vereinzelung im Jobcenter zu begegnen. Sie begleiten Erwerbslose und berufen sich dabei auf Urteile von Sozialgerichten, die schon in den siebziger Jahren die Hinzuziehung von Beiständen für rechtmäßig erklärten. Deutlich offensiver angelegt sind die Zahltage, bei denen Erwerbslose meist am Monatsbeginn in größeren Gruppen ihren Fallmanager aufsuchen, wenn ein Antrag nicht bewilligt oder kein Geld überwiesen wurde. Nach einer erfolgreichen Zahltagsaktion nehmen die Erwerbslosen den Betrag bar mit nach Hause. Genau das wollte Christy Schwundeck auch, als sie am 19. Mai das Jobcenter in Gallus betrat.

http://jungle-world.com/artikel/2011/29/43626.html

Peter Nowak


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