Anti-Kohle nach Anti-AKW?

Wer glaubte, der Umweltbewegung könnten nach einem AKW-Ausstieg die Themen ausgehen, hat sich geirrt. Nicht einmal eine Urlaubspause gönnt sich die Bewegung. Vielmehr wollen Umweltaktivisten mit zwei Camps den Focus auf die Umweltbelastungen durch die Kohleförderung richten. In Jänschwalde bei Cottbus startet am 7. August ein Klima- und Energiecamp. Eine Woche lang wollen die Umweltaktivisten Erfahrungen austauschen und gemeinsam Aktionen vorbereiten. Und vom 26. August bis zum 4. September soll dann ein internationales Klimacamp im rheinischen Braunkohlerevier am Tagebau Hambach bei Köln dabei helfen, »vielfältigen Widerstand gegen den Energiekonzern RWE und den mit Abstand größten Braunkohlekomplex Europas« zu organisieren, wie es im Aufruf heißt.

Gemeinsam mit örtlichen Bürgerinitiativen wenden sich die Aktivisten in beiden Camps gegen den Aufschluss neuer Tagebaue, den Bau weiterer Kohlekraftwerke sowie die unterirdische Speicherung von Kohlendioxid (Carbon Capture and Storage – CCS). Dieses Thema dürfte vor allem im ostdeutschen Camp eine große Rolle spielen, wo es konkrete Pläne für die CO2-Lagerung gibt.

Bereits Mitte Juli fanden in Berlin vor der Vattenfall-Zentrale und in Essen vor dem RWE-Sitz Protestkundgebungen statt. Deren Resonanz blieb allerdings bescheiden. Es wird sich zeigen, ob bei den Camps eine Verbreiterung der Proteste gelingt. Die in manchen Diskussionspapieren behauptete Anti-Kohle-Bewegung, die an die Stelle der Anti-AKW-Bewegung tritt, ist jedenfalls noch nicht zu sehen. Die Bewegung wird Geduld und langen Atem brauchen, sonst dürfte sich schnell Enttäuschung einstellen.

Inhaltlich ist die Orientierung auf den Widerstand gegen die Kohleförderung wohlbegründet. Mit dem AKW-Ausstieg droht auch hier eine Renaissance. Wenn die Aktivisten überzeugend verdeutlichen können, dass Kohle keine Alternative zum Atomstrom ist, hat sich ihr Engagement gelohnt.

Informationen im Internet unter: www.lausitzcamp.info

www.klimacamp2011.de

Peter Nowak

http://www.neues-deutschland.de/artikel/203357.anti-kohle-nach-anti-akw.html

Sorbischer Folk trifft Berliner Punk

Entscheidungen, Entscheidungen sind  schwer – will ich in die  Berge oder lieber ans Meer“, lautet die Textzeile eines der 12  Songs auf der aktuellen CDs  „Um die Ecke“ des Duos Berlinska Droha.  Dort singen die beiden Musiker Uta und Paul von den kleinen Dingen des Lebens, die oft gravierende Folgen haben.
So ist der Song „Herr Krug“ eine bitterböse, aber immer witzige Schimpfkanonade gegen einen Vermieter mit Hausmeisterallüren, wie sie Karl Kraus vor  mehr als 100 Jahren in der Fackel aufs Korn genommen hat. „Du sagst, ich hätte nichts  zu lassen, die wurdest mich rund um die Uhr überwachen“, heißt es in dem Song, der allerdings für den Mieter einen glücklichen Ausgang nimmt.   Heißt es doch in der letzten Strophe:  „Herr Krug, du kriegst mich hier nicht raus. Ich sitz grinsend auf dem Sofa und ich lach dich aus“.

Bei dem Song „Der Henker“ bleibt dem Zuhörer das Lachen allerdings im Halse stecken. Handelt er doch  von einen Mann, der seinen Beruf mit  Freude am  Töten ausübt, aber von seinen Kindern als liebevoller Vater bewundert wird. „Aber zu hause nannten sie ihn Bärchen, aber zu Hause erzählt er seinen Kindern Märchen“, lautet der Refrain dieser bitterbösen Persiflage auf den Typus des  ganz normalen Deutschen, der  im 3. Reich  Mörder und liebender Familienvater in einer Person sein konnte.  

Unter dem Künstlernamen Geigerzähler war Paul seit Jahren über Berlin hinaus als ein  Straßenmusiker bekannt. Seine Auftritte erfreuten sich  auf Straßenfesten, am Rande von Demonstrationen, aber auch in gut besuchten Konzerten in Jugendzentren und  Kultureinrichtungen zunehmender  Beliebtheit. Bei einem Auftritt auf einem Festival  an der polnischen Grenze   im Jahr 2007 begann  die Kooperation mit der sorbisch singenden Künstlerin Uta. Nach einem weiteren Spontanauftritt in Berlin entstand Berlinska Droha, was übersetzt „Berliner Straße“ heißt. Das ist ein guter Name für ein Duo, das in der Tradition der rotzfrechen Straßenmusiker steht, die spontan auf öffentlichen Plätzen ihre Lieder zur Erfreuung des Publikums und zum Ärger der Polizisten und Hausmeister dieser Welt zum besten geben.  Nachdem von dem  Duo 2009 eine erste Vinyl-Single erschienen ist,   erfreut es mit der Veröffentlichung der CD  seine wachsende Fangemeinde mit einen  Querschnitt seines künstlerischen Schaffens.      
Das Crossover  von sorbischem Folk und Berliner Punk  mit Polka-Einlagen findet seine Zuhörer in  sehr unterschiedlichen Kreisen.  Das Duo spielt  in alternativen Kulturzentrum ebenso wie in sorbischen Museen.   Auch Auslandsauftritte in  Polen und Marokko standen schon auf dem Konzertplan.     
Berlinska Droha gehört nicht zu jener Sorte von Künstlern, die sie im Song „Kabarett“ karikieren, weil sie sich vor einem Mittelstandspublikum über Erwerbslose mit Kassenbrillen und Jogginghosen lustig machen und  dafür als  große Kabarettisten feiern lassen.   Berlinska Droha  richtet  dagegen Witz und die bitterböse Ironie auf die Bürokraten dieser Welt.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/203344.plattenbau.html

Peter Nowak
       Berlinska Droha, Um die Ecke, Vetoria Records

Rettich statt Widerstand

Die mehr als 1500 Beschäftigten der TÜV Nord-Bildung GmbH müssen die vielen Meldungen über den Wirtschaftsaufschwung in Deutschland als Hohn empfinden. Seit der Mutterkonzern TÜV-Bildung im Mai massive Stellenstreichungen bei dem Bildungsträger angekündigt hat, ist die Angst unter den Angestellten gewachsen. Die Politik trägt eine große Verantwortung für die Misere. Weil die Bundesregierung die Mittel für die Bundesagentur für Arbeit, den hauptsächlichen Geld- und Auftraggeber für TÜV-Nord, massiv gekürzt hat, droht dem Bildungsträger die Insolvenz.

 Anfang Juli informierte die Geschäftsleitung per E-Mail, dass mehr als die Hälfte der Arbeitsplätze verlorengehen und 17 der 40 Standorte von TÜV Nord aufgegeben werden sollen. Nach diesen Planungen sind davon unter anderem Filialen in Berlin, Bochum, Kleve und Neustrelitz betroffen. Auch die Beschäftigten, die ihre Arbeitsplätze behalten, sollen Opfer bringen. Die Geschäftsführung verlangt eine Absenkung ihres Bruttojahresentgeltes von 15 Prozent im Westen und 22 Prozent im Osten sowie die Streichung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Auf Betriebsversammlungen bekundete der Vorstandsvorsitzende von TÜV-Nord, Guido Rettich, sein Bedauern über die Einschnitte, bezeichnete sie allerdings als alternativlos.

Doch viele Mitarbeiter lassen sich nicht so einfach beschwichtigen. Zumal Rettich außerhalb der Betriebsversammlung verlauten lassen haben soll, die Bildungssparte nach Indien und China auslagern zu wollen. Allerdings kommt der Unmut der Beschäftigten über hilflose Gesten nicht hinaus. So wurde dem besagten Vorsitzenden in Anspielung auf seinen Nachnamen ein Rettich überreicht. Dabei müsste ein solch gravierender Angriff auf die Beschäftigten eigentlich flächendeckenden Widerstand hervorrufen. Doch die zuständige Verhandlungsführerin der Industriegewerkschaft Chemie, Bergbau und Energie (IG BCE) will konstruktiv über einen Sozialplan für TÜV Nord beraten.

Die Botschaft, die von diesem Verhalten ausgeht, ist fatal. Wenn selbst in einer Boomphase ein massiver Angriff auf die Rechte der Beschäftigten ohne Widerstand über die Bühne geht, wozu braucht es dann noch Gewerkschaften?

http://www.neues-deutschland.de/artikel/203191.rettich-statt-widerstand.html

Peter Nowak

Zurück zur Politik

Der 22-jährige Christoph Schlingensief bläst im winterlichen Much im Rhein-Sieg-Kreis auf der Trompete eine Parodie des Deutschlandliedes, nachdem seine Bewerbung an der Münchner Filmhochschule abgelehnt worden ist. Dieser zweiminütige 16mm-Film von 1982 ist der älteste und kürzeste der zehn Kurzfilme, die auf der am Samstag erscheinenden DVD »Back to Politics« zu sehen sind. Das gemeinsame Projekt der Kurzfilmagentur Hamburg und des Labels good Movies wirft die Frage auf, was ein politischer Film ist, und beantwortet sie mit zehn bemerkenswerten Positionen.

 Der Kunsttheoretiker Georg Seesslen schreibt im Booklet zur DVD: »Politisch wird ein Film nicht durch das, was er behauptet, sondern durch das, was er sieht.« Seesslen bezieht sich bei seinen Ausführungen auf Bert Brechts »Gespräch über Bäume«. Die deutsche Romantik sah in der Natur noch das Sinnbild des Unpolitischen. Wie überholt diese Vorstellung ist, zeigt das Künstlerduo Korpys und Löffler in einem Film über die Proteste gegen den G8-Gipfel 2007. Immer wieder geraten Wälder und Felder ins Bild, Vogelnester und Regenwürmer werden von Polizeischeinwerfern erleuchtet. In dem Kurzfilm »Die Amerikanische Botschaft oder warum wir uns bewegen« werden die Zuschauer Zeugen, wie vier Kriegsgegner im Januar 2003 eine Mahnwache gegen den bevorstehenden Angriff auf den Irak abhalten wollen und sich über die Frage zerstreiten, wer Schuld an der geringen Resonanz des Aufrufs ist. Als die Initiatorin des Protests schließlich frustriert und allein vor der Botschaft eintrifft, haben die vermissten Kriegsgegner schon längst mit der Mahnwache begonnen.

»Wie ich ein freier Reisebegleiter wurde«, befasst sich satirisch mit den Versuchen prekär lebender Menschen, durch das Anbieten von Mitfahrten im Nahverkehr ihre Einkünfte aufzubessern. Dem Filmemacher Jan Peters gelingt auf amüsante Art der Nachweis, dass nicht nur die Anbieter, sondern auch die Nutzer der Bahnmitfahrgelegenheiten sowie das Bahnpersonal in prekären Arbeitsverhältnissen leben. Einer anderen Form der Lohnarbeit im öffentlichen Raum widmen sich Mischa Leinkauf und Matthias Wermke in dem Streifen »Trotzdem Danke«. Der junge Mann, der die Fensterscheiben von Bussen und Bahnen säubert, bekommt nur selten einen Obolus. Dafür erntet er öfter Flüche oder die Drohung mit der Polizei, der er sich am Ende nur durch eine schnelle Flucht und dem Verlust seines Arbeitsgeräts entziehen kann.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/203198.gesehen.html

Peter Nowak

Das Ende eines lange gepflegten Vorurteils

GESCHICHTE  Linke Gewerkschaftsopposition in der Weimarer Zeit war nicht von Moskau gesteuert, stellt Historiker Stefan Heinz in seinem Buch fest

Deutsche Gewerkschaften sind gegenüber den Bossen zu kooperativ und üben sich in Ritualen, statt in Klassenkämpfen: Solche Klagen sind älter als der DGB. Schon in der Weimarer Zeit befand sich eine linke Minderheit im Konflikt mit den Vorständen des SPD-nahen Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsverbands (ADGB). In der Endphase der Weimarer Republik organisierten sich große Teile dieser Gewerkschaftslinken in der Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO). Ihr organisatorisches Zentrum war die Berliner Metallbranche.

„Teuflische Pläne, dem Hirn Moskauer Diktatoren entsprungen“: Diese Charakterisierung der Ortsverwaltung des SPD-nahen Deutschen Metallarbeiterverbands (DMV) für die linke Konkurrenz ist bis heute weit verbreitet. Dieses Bild hat der am Otto-Suhr-Institut der FU arbeitende Gewerkschaftsforscher Stefan Heinz infrage gestellt. In seinem 500-seitigen Buch rekonstruiert er die kurze Geschichte des Einheitsverbands der Metallarbeiter Berlins (EVMB), der größten RGO-Gewerkschaft. Dafür wertete er eine Vielzahl von Akten aus den Archiven beider Gewerkschaftsverbände,Überwachungsprotokolle von Polizei und Gestapo, interne Berichte der KPD und SPD sowie Artikel der parteiunabhängigen linken Presse aus.

Heinz weist nach, dass die Initiative zur Gründung nicht von der KPD-Führung oder der Kommunistischen Internationale, sondern von aus dem ADGB ausgeschlossenen GewerkschafterInnen ausging. Für den Forscher liegen die Wurzeln der RGO daher nicht in Moskau, sondern im Kampf gegen die Burgfriedenspolitik von SPD und Gewerkschaften während des Ersten Weltkriegs. Damals hatte sich vor allem unter den Berliner Metallarbeitern ein Kreis linker ArbeiteraktivistInnen herausgebildet.

Als sich im Herbst 1930 die staatlichen Schlichtungsstellen auf die Seite des Unternehmerlagers stellten und Lohnkürzungen festlegten, die vom ADGB akzeptiert wurden, gab der KPD-Vorstand grünes Licht für die Gründung des EVMB. Da dem linken Verband aber keine massenhafte Abwerbung von Mitgliedern aus der alten Gewerkschaft gelang und selbstorganisierte Streiks meist erfolglos blieben, wurde in den KPD-Gremien bald heftig über die RGO diskutiert. Die Auseinandersetzungen nahmen nach dem Machtantritt der Nazis zu.

Viele EVMB-Mitglieder kritisierten alle Versuche der KPD, angesichts der NS-Gefahr mit dem ADGB zusammenzuarbeiten. Der rote Verband hatte sich nach der Zerschlagung des ADGB am 2. Mai 1933 in der Illegalität zunächst konsolidiert und wurde erst durch mehrere Verhaftungswellen in den Jahren 1933 und 1934 empfindlich geschwächt. Im Jahr 1935 wurde der Verband im Zuge der von der KPD verfolgten Volksfrontpolitik, die eine Kooperation mit den SozialdemokratInnen und bürgerlichen Kräften propagierte, gegen den heftigen Widerstand der Basis aufgelöst.

Da die RGO-Politik in der offiziellen KPD-Geschichtsschreibung bald als Linksabweichung galt, wurde auch in der DDR kaum darüber geforscht. Nach erfolglosen Wiederbelebungsversuchen einiger maoistischer Parteien in den 70ern in Westberlin geriet das Thema weitgehend in Vergessenheit. Daher hat Heinz mit seiner Forschungsarbeit eine wichtige Lücke in der Geschichte des Berliner ArbeiterInnnenwiderstandes geschlossen.
 Stefan Heinz: „Moskaus Söldner? Der Einheitsverband der Metallarbeiter Berlins: Entwicklung und Scheitern einer kommunistischen Gewerkschaft“, VSA-Verlag, Hamburg 2010

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2011%2F07%2F29%2Fa0157&cHash=4dbd89600f

Peter Nowak

Mehr Transparenz bei Hartz IV?

Harald Thomé über den schwierigen Zugang zu amtlichen Informationen
 
Harald Thomé ist Vorsitzender des Erwerbslosen- und Sozialhilfevereins Tacheles aus Wuppertal und Referent für Arbeitslosenrecht.

ND: Was hat das Informationsfreiheitsgesetz (IFG) mit den Jobcentern zu tun?
Thomé : Dieses Gesetz wurde am 1. Januar 2006 eingeführt. Es gewährt jeder Person einen voraussetzungslosen Rechtsanspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen von Bundesbehörden. Weil im Hartz-IV-Bereich bekanntlich eine Menge Verwaltungsanweisungen anfallen, sind natürlich auch die Jobcenter davon betroffen.

Können Sie Beispiele nennen?
Der gesamte Bereich der Kosten der Unterkunft von Hartz-IV-Empfängern ist über solche Verwaltungsvorschriften geregelt, aber auch das Bildungspaket sowie die Regelung bei Erstausstattungen für Wohnraum. Seit dem 1. Januar dieses Jahres fallen außerdem kommunale Behördenanweisungen unter das Bundes-IFG. Die Jobcenter müssen nun auch die kommunalen Dienstanweisungen jedem Interessierten zugänglich machen.

Wie sieht es damit in der Praxis aus ?
Ich habe im Juni bei 135 Jobcentern in Bayern und Baden-Württemberg Anträge gestellt und beantragt, dass diese Verwaltungsanweisungen und Richtlinien zu den Unterkunftskosten, zum Bildungs- und Teilhabepaket, aber auch zur Erstausstattung von Wohnraum und Bedarfen bei Schwangerschaft und Geburt herausgeben. Nach einem Monat, dem spätesten Termin nach dem solche Informationen von Amts wegen herauszugeben sind, wurden in Bayern die Unterlagen lediglich in elf, in Baden-Württemberg in 17 Fällen vollständig herausgegeben. Mehr als zwei Drittel der Jobcenter haben in den beiden Bundesländern jedoch überhaupt nicht geantwortet. Die übrigen schickten unvollständige Unterlagen. Der Leiter eines Jobcenters hat mir sogar mit einer Anzeige bei der örtlichen Anwaltskammer wegen Verstoßes gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz gedroht.

Wie wollen Sie jetzt weiter vorgehen?
Ich habe die Angelegenheit zunächst öffentlich gemacht. Nach dem 1. August werde ich mich dann an den Bundesbeauftragten für Informationsfreiheit wenden. Sollten die Behörden auch nach drei Monaten die Unterlagen nicht veröffentlichen, werde ich entsprechende Untätigkeitsklagen einleiten.

Hatten Sie schon erfolgreich geklagt?
Der Erwerbslosenverein Tacheles hatte im Jahr 2006 in Sachen IFG gegen die Bundesagentur für Arbeit geklagt und sie dazu gezwungen, ihre internen Weisungen zum Arbeitslosengeld im Internet zu veröffentlichen. Auch die Informationen, die ich jetzt von den bayerischen und baden-württembergischen Jobcentern angefordert habe, sollen veröffentlicht werden. Es ist schlimm genug, dass dies aus der Erwerbslosenbewegung heraus gefordert werden muss, die Behörden wären doch nach dem Informationsfreiheitsgesetz von sich aus zur Veröffentlichung verpflichtet.

Welche Vorteile haben die Betroffenen davon?
Die Betroffenen können so prüfen, ob die jeweilige behördliche Entscheidung rechtsmäßig ist, und ob das Amt Ermessen ausgeübt hat. Zudem können sie bei der Formulierung von Anträgen auf die wesentlichen, für die Entscheidung erheblichen Umstände hinweisen. Sie können aber auch prüfen, ob das Amt organisiert durch Weisung gegen geltendes Recht verstößt. Letzteres ist ein Phänomen, welches bei Hartz IV nicht selten vorkommt.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/203094.mehr-transparenz-bei-hartz-iv.html

Interview: Peter Nowak

Banker im Schatten – François Genoud

Der Schweizer Banker François Genoud, der 1996 mit 81 Jahren Selbstmord verübte, hatte vom Nachlass der NS-Größen Martin Bormann und Joseph Goebbels profitiert und die Verteidigung der Judenmörder Adolf Eichmann und Klaus Barbie.   Seit seiner Jugend reiste Genoud in den arabischen Raum, dort wo 1945 viele ehemalige Nazis untertauchten. In der Frontstellung der arabischen Nationalisten gegen Israel sahen sie die Fortsetzung des nazistischen Kampfes gegen die Juden.   Einige Jahre engagierte sich Genoud  nach der Unabhängigkeit von Frankreich in Algerien, wo er aber wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten bald verhaftet und ausgewiesen wurde. Seit dem 70er Jahren hatte der umtriebige Schweizer auch Kontakte zu militanten Palästinensern,.  Enge Verbindungen hatte Genoud  zu dem als Carlos bekannten Ramirez Sanchez, der für seine Beteiligung an zahlreichen Attentaten eine lebenslängliche Haftstrafe in Frankreich verbüßt. Genoud besuchte ihn mehrmals im Gefängnis und organisierte auch seine Verteidigung.

 Die BRD – ein Eldorado für Altnazis

Während diese  Aktivitäten in den Buchbesprechungen zur jüngst erschienenen Genoud-Biograie von Willi Winkler im Mittelpunkt stand, blieb jener Teil seiner Vita, der die Bundesrepublik betrifft, weitgehend ausgespart. Dateillreich beschreibt der Autor, die Rückkehr der alten NS-Eliten ins politische Leben des westdeutschen Nachfolgestaates unter dem Beifall der politischen Klasse. So begrüßte der erste Bundespräsident der BRD Theo Heuss die Freilassung des Nazi-Außenministers Konstantin von Neurath: „Mit freudiger Genugtuung habe ich … heute die Mitteilung gelesen, … dass das Martyrium dieser Jahre für sie ein Ende gefunden hat.“

Dem hochdekorierten Wehrmachtsgeneral Herrmann-Bernhard Ramcke, in jenen Jahren Idol der NS-Nostalgiker, verhalft Genoud zur Flucht aus einem französischen Gefängnis. Bald formulierte Ramcke in der BRD die Bedingungen für die Fortsetzung des Kampfes gegen  den Bolschewismus. „Ich weiß mich eines Sinnes mit allen meinen Waffenbrüden der gesamten ehemaligen Wehrmacht, dass die Vorbedingung jeder von uns begehrten Wehrbereitschaft die völlige Gleichberechtigung Deutschlands im Rate der anderen Völker sein muss und die Wiedeherstellung der Ehre der deutschen Soldaten und die Freilassung der deutschen Gefangenen aus ihren Kerkern und aus den Händen einer nichtdeutschen Justiz“.             Winkler schildet auch wie die FDP Nordrhein Westfalen von Altnazis und führenden Industriellen in eine NS-Zelle verwandelt werden sollte, was durch die Intervention der britischen Behörden unterbunden werden konnte.  

 Eine enge Freundschaft verband Genoud mit Paul Dickopf, der in der Schweiz für die NS-Abwehr tätig war und in der BRD Präsident des Bundeskriminalamts und später gar Chef von Interpol wurde.  

Man muss  nicht alle Wertungen Winklers teilen, so über die   algerische Unabhängigkeitsbewegung. Verdienst des Autors ist es, aufzuzeigen, was für ein Eldorado die BRD für Altnazis war. Winkler fragt, wieso der Schweizer unbehelligt von der Justiz blieb. Arbeitete Genoud mit den Geheimdiensten zusammen, hatte er Carlos die ganze Zeit getäuscht und schließlich seinen Aufenthaltsort verraten?“    

     Willi Winkler, Der Schattenmann, Rowohlt Berlin, 352 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-87134-626-2

https://www.neues-deutschland.de/artikel/202464.banker-im-schatten.html?sstr=Der|Schattenmann

Peter Nowak

 

In 54 Städten gegen Billiglohn und Hartz IV

Kampagne will Kräfte der Betroffenen bündeln / Große Organisationen versagen Unterstützung
Ein steuerfreier Mindestlohn von zehn Euro in der Stunde und eine Erhöhung des Hartz IV-Regelsatzes auf 500 Euro monatlich – das sind die Forderungen einer Kampagne, mit der sich am Sonnabend Initiativen in 54 Städten an die Bevölkerung wandten.
Informationsstände wurden organisiert, Flugblätter verteilt und Plakate geklebt – in erster Linie ging es den Initiatoren um Information und Aufklärung der Bevölkerung über die Ziele der Kampagne. Auch auf den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV, die in einigen Städten weiterhin existieren, sollen die Forderungen propagiert werden. Sie werden am heutigen Tag unter anderem in Bremen, Eisenhüttenstadt und Magdeburg im Mittelpunkt stehen. In Magdeburg wird zugleich an den siebenten Jahrestag der ersten Montagsdemo gegen Hartz IV erinnert, denn die Aktionen in der Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts wurden zum Auftakt der Bewegung gegen die Hartz-Gesetze im Spätsommer und Herbst 2004.

Jetzt stellt sich die Kampagne bescheidenere Aufgaben. Sie will die Interessen von Erwerbslosen, Lohnabhängigen und sozialen Bewegungen durch Bündelung stärken. Beteiligt sind das Erwerbslosenforum Deutschland sowie zahlreiche Organisationen und Netzwerke der sozialen Bewegung. Die Kampagne begann bereits 2007 mit einem Bündnis gegen Kinderarmut durch Hartz IV. Vor wenigen Wochen wurde die Kampagne um die Mindestlohnforderung erweitert. Damit habe man auf Befürchtungen eines verstärkten Lohndumpings durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit reagiert, die seit dem 1. Mai in ganz EU-Europa gilt, wie Kampagnensprecher Rainer Roth gegenüber ND erläuterte.

Im Internet wurde eine öffentliche Kampagnenseite eingerichtet (www.500-euro-eckregelsatz.de). Von den Betroffenen werden die Forderungen allerdings häufig positiver aufgenommen als von einigen großen Organisationen, die aus unterschiedlichen Gründen eine Unterstützung der Kampagne ablehnten. So schreibt Hardy Krampertz vom Attac-Koordinierungskreis, dieser könne den Aufruf nicht unterstützen, weil Attac die Hartz IV-Gesetze grundsätzlich ablehnt und nicht verbessern will. »Als ein Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens, das Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beinhaltet, kann ich eine Forderung nicht mit tragen, die Armut festschreibt. Von 340 Euro kann mensch nicht leben, von 500 Euro aber auch nicht«, moniert Krampertz. Werner Rätz von der Attac-AG »Genug für Alle« geht auf einen weiteren Dissens ein. Während der Kampagnensprecher Rainer Roth fordert, dass alle sozialen Sicherungen aus Erwerbsarbeit, also Arbeitslohn oder Lohnersatzleistungen resultieren müssen, will die AG »Genug für Alle« die soziale Sicherheit der Menschen vom Verkauf der Arbeitskraft abkoppeln. Für den DGB wiederum sind die von der Kampagne aufgestellten Forderungen zu weitgehend. »Die von Ihnen aufgeführten Argumentationen sind nachvollziehbar. Nur in der Frage der politischen Mehrheit für eine solche Umsetzung fehlt es insbesondere in der jetzigen Konstellation der schwarzgelben Bundesregierung«, schreibt Reinhard Dombre, der beim DGB-Bundesvorstand für die Tarifpolitik zuständig ist. Er verweist darauf, dass der DGB einen Mindestlohn von 7,50 Euro in der Stunde beschlossen hat. Edgar Schu, der für das Aktionsbündnis Sozialproteste im Kampagnenrat sitzt, kann die Argumentation des Gewerkschafters nicht verstehen. »Maßstab für gewerkschaftliche Forderungen zur Höhe des sozialen Existenzminimums von Erwerbslosen und Lohnabhängigen kann nicht die Haltung der jeweiligen Regierung sein«, macht Schu den Standpunkt der Kampagne geltend. Ein Stundenlohn von zehn Euro sei »das soziale Existenzminimum« von Lohnabhängigen, das deshalb auch nicht mit einer Lohnsteuer belegt werden dürfe.

An diesem Punkt macht Rainer Roth auch einen Dissens mit der LINKEN aus. Die fordert ebenfalls einen Mindestlohn von zehn Euro, will ihn aber nicht von der Lohnsteuer ausnehmen. Einigkeit besteht zwischen der LINKEN und der Kampagne bei der Forderungen nach einer Erhöhung des Hartz IV-Regelsatzes auf 500 Euro. Auch die Aktionstage werden von verschiedenen Ortsverbänden der Linkspartei unterstützt.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/202835.in-54-staedten-gegen-billiglohn-und-hartz-iv.html

Peter Nowak

Mit Flugblättern gegen rechte Schläger

Auch in »unverdächtigen« Stadtteilen wie Friedrichshain gibt es nicht nur Sachbeschädigungen
Im Berliner Sommer häufen sich Übergriffe von rechten Schlägern – selbst in eigentlich als »unverdächtig« geltenden zentralen Stadtteilen wie Friedrichshain.

 Berliner Passanten lasen gestern neugierig die Plakate, die am Samstagabend an der Kreuzung von Landsberger Allee und Petersburger Straße geklebt wurden. Am 16. Juli wurde hier eine junge Frau im Punker-Outfit von rechten Schlägern schwer verletzt. Die Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, gibt an, kurz nach Mitternacht von fünf jungen Männern zunächst vulgär beschimpft worden zu sein. Einer der Männer habe ihr dann eine Flasche so fest auf den Kopf geschlagen, dass sie zerbrach. Die Frau musste mit einer Gehirnerschütterung, einer Jochbeinprellung und einem Haarriss am Scheitelbein behandelt werden. Sie wandte sich gemeinsam mit Freunden an die Organisation »Reach Out«, die Opfer rechter Gewalt betreut.

Markus Roth von der Antifa Friedrichshain setzt nun auf Zivilcourage. Schließlich war der Ort des Übergriffs, an dem sich mehrere S-Bahnhaltestellen, Kinos. eine Disco und ein Spätkauf befinden, auch nach Mitternacht belebt. Eine Passantin, die mit einem Flugblatt über den Angriff informiert wurde, erklärte, selbst schon solche Übergriffe gesehen zu haben. Andere Passanten reagierten eher desinteressiert. Vor allem jüngere Männer bekundeten gar Sympathien mit den Angreifern. Zwei junge Männer, die ein Flugblatt erhielten, erklärten sogar ganz offen mit der Naziszene zu sympathisieren.

Die Antifaaktivisten sind mit ihrer knapp 90-minütigen Aktion zufrieden. »Damit wollten wir dem Mythos entgegentreten, dass sich die rechte Szene in Berlin in letzter Zeit auf Sachbeschädigungen verlegt hat. Es gibt weiterhin eine gleichbleibend hohe Zahl von rechter Angriffe auf Personen«, betont Roth.

So habe die Antifa Friedrichshain in den Monaten Juni und Juli 2011 drei rechte Übergriffe in und um den Volkspark Friedrichshain registriert. Dort seien beispielsweise am 26. Juni innerhalb eines Zeitfensters von nur zehn Minuten vier Männer unabhängig voneinander aus einer Personengruppe angegriffen worden. Alle vier waren zuvor gefragt worden, ob sie schwul seien. Am 12. Juni dann wurden vier Anhänger der neonazistischen Autonomen Nationalisten beim Rufen rechter Parolen auf der Skaterbahn im Volkspark beobachtet.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/202859.mit-flugblaettern-gegen-rechte-schlaeger.html

Peter Nowak

Keine Stille nach dem Schuss

In einem hessischen Jobcenter wurde bei einem Polizeieinsatz eine Hartz-IV-Bezieherin tödlich verletzt. Der Ehemann und Freunde der Verstorbenen möchten das Geschehen rekonstruieren, unterstützt werden sie von Erwerbslosengruppen, anti­rassistischen Initiativen und Gewerkschaften.

 

DruckenWarum Christy Schwundeck sterben musste, ist ihren Freunden auch zwei Monate nach ihrem Tod noch immer ein Rätsel. Die in Nigeria geborene deutsche Staatsbürgerin starb am 19. Mai im Jobcenter des Stadtteils Gallus in Frankfurt am Main durch eine Polizeikugel.

Nach polizeilicher Darstellung war es zu einem Streit zwischen der 39jährigen Frau und einem Sachbearbeiter wegen der Auszahlung eines kleinen Vorschusses auf ihren bereits bewilligten Hartz-IV-Antrag gekommen. Weil Schwundeck über keinerlei finanzielle Mittel verfügte, wollte sie das Jobcenter erst verlassen, nachdem ihr zehn Euro ausgezahlt worden waren. Aus Sicht der Mitarbeiter der Behörde hat sie damit den Betriebsablauf gestört. Als die herbeigerufene Polizei Schwundeck zum Vorzeigen ihrer Ausweispapiere aufforderte, soll sie einen Polizeibeamten mit einem Messer angegriffen haben. Daraufhin hat eine Polizistin Schwundeck durch einen Bauchschuss lebensgefährlich verletzt. Die Frau verlor noch im Jobcenter das Bewusstsein und starb kurz darauf im Krankenhaus. Polizei und Staatsanwaltschaft erklärten bereits wenige Tage später, die Polizistin habe in einem »klaren Fall von Notwehr« gehandelt. Auch ein Großteil der Medien hat diese Version übernommen. »Über die persönliche Situation der Frau, die zum Amoklauf führte, wurde anfangs nicht berichtet. Man hat sie zum Monster gemacht und als Störerin abgestempelt«, bewertete Bernhard Schülke von der Frankfurter Erwerbslosengruppe Lucky Losers die Reaktionen in den Medien nach dem Tod von Schwundeck.

Nur der Ehemann und die Freunde der Toten wollten sich mit dieser Version nicht zufrieden geben. Einige Wochen nach ihrem Tod gründete sich die Initiative Christy Schwundeck, an der Erwerbslosengruppen, antirassistischen Initiativen und Untergliederungen der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi beteiligt sind. Am 18. Juni organisierte die Initiative einen Trauermarsch mit etwa 350 Teilnehmern durch die Frankfurter Innenstadt. Diese forderten Aufklärung über die Vorgeschichte des tödlichen Schusses. »Wir haben viele Fragen, auf die wir bis heute keine Antwort erhalten haben«, sagt Manga Diagne von der hessischen senegalesischen Vereinigung der Jungle World. »Hätte die Polizistin auch geschossen, wenn Schwundeck keine schwarze Hautfarbe gehabt hätte?« ist für ihn eine zentrale Frage. Die Initiative will auch die Ereignisse vor dem Eintreffen der Polizei rekon­struieren. Denn wie es zu der für Schwundeck tödlichen Eskalation kommen konnte, ist noch immer ungeklärt. Schließlich hatte die Leiterin des Jobcenters, Claudia Czernohorsky-Grüneberg, der Presse erklärt, die Frau sei gegenüber dem Sachbearbeiter nicht laut geworden. Außerdem wäre nach Angaben der Leiterin die Auszahlung eines kleinen Vorschuss sehr wohl möglich gewesen. Dann muss man sich fragen, warum Schwundeck der Vorschuss verweigert und stattdessen die Polizei gerufen wurde. Wollte man einer Frau, die sich nicht abwimmeln ließ, die Staatsmacht spüren lassen? Spielte dabei auch ihre Hautfarbe eine Rolle? Diesen Fragen möchte die Initiative Christy Schwundeck nachgehen. Bevor sie sich über die nächsten juristischen und politischen Schritte verständigt, will sie die Einsicht in die Akten abwarten.

Für Diagne ist der Tod von Schwundeck keine Verkettung unglücklicher Umstände, sondern liegt im Hartz-IV-System begründet: »Erwerbslose werden generell oft als Bittsteller behandelt und ihre Forderungen werden oft abgebügelt. Bei Schwundeck kam noch die Diskriminierung wegen ihrer Hautfarbe dazu.«

Wenn es auch selten zu tödlichen Konsequenzen kommt, die Klagen über die Behandlung im Jobcenter nehmen zu. »Immer wieder beschweren sich Erwerbslose mit migrantischem Hintergrund über Rassismus im Amt«, sagt Florian. Er beteiligt sich als Mitglied der Gruppe »Für eine Linke Strömung« (Fels) an einer Befragung vor dem Jobcenter im Berliner Stadtteil Neukölln. Nach dem Vorbild der militanten Untersuchung, mit denen radikale Linke in Italien Informationen über das Fa­brikregime sammelten, möchte Fels die Funktion der Arbeitsagenturen und Möglichkeiten einer politischen Intervention erkunden. »Obwohl die Klagen über die Behandlung im Jobcenter groß sind, ist die Bereitschaft zur Gegenwehr nicht sehr ausgeprägt«, schlussfolgert Florian aus der Untersuchung.

Erwerbsloseninitiativen sehen in fehlenden oder unzureichenden solidarischen Strukturen einen Grund für die Ausweglosigkeit und Verzweiflung, die bei Christy Schwundeck tödlich endete. »Wenn es nicht an vielen Orten den unermüdlichen Einsatz von Freiwilligen in den Selbsthilfe-Beratungsgruppen gäbe, würde auf den Ämtern viel mehr passieren«, sagte ein engagierter Erwerbsloser nach Schwundecks Tod. Mit der Kampagne »Niemand muss allein zum Amt« versuchen Initiativen, der Vereinzelung im Jobcenter zu begegnen. Sie begleiten Erwerbslose und berufen sich dabei auf Urteile von Sozialgerichten, die schon in den siebziger Jahren die Hinzuziehung von Beiständen für rechtmäßig erklärten. Deutlich offensiver angelegt sind die Zahltage, bei denen Erwerbslose meist am Monatsbeginn in größeren Gruppen ihren Fallmanager aufsuchen, wenn ein Antrag nicht bewilligt oder kein Geld überwiesen wurde. Nach einer erfolgreichen Zahltagsaktion nehmen die Erwerbslosen den Betrag bar mit nach Hause. Genau das wollte Christy Schwundeck auch, als sie am 19. Mai das Jobcenter in Gallus betrat.

http://jungle-world.com/artikel/2011/29/43626.html

Peter Nowak

Kreuzberg jetzt Sarrazin-freie Zone?

Der Ex-Senator und Ex-Bankier polarisiert dank medialer Hilfe wieder

In den letzten Wochen war es um den Bestsellerautor Thilo Sarrazin ruhig geworden. Seit die SPD beschlossen hat, sich nicht von ihrem umstrittenen Mitglied zu trennen, ließ seine Medienpräsenz nach. Das hat sich in den letzten Tagen geändert. Mitte Juli war Sarrazin mit der ZDF-Autorin Güner Balci und Kameraleuten auf Kreuzbergs Straßen. Das ZDF-Kulturmagazin Aspekte hatte Sarrazin „unter die Türken“ geschickt. Das Ergebnis des Besuchs ] kann man heute ab 23.15 Uhr im ZDF sehen.

„Zunächst verliefen der Besuch und auch die Gespräche ungestört. Erst gegen Ende, vor einem Restaurant, wurden die Arbeiten von einzelnen Passanten lautstark kritisiert. Nach einem kurzen Gespräch schlug der Besitzer des Restaurants vor, es sei besser, den Besuch abzubrechen – um eine Eskalation zu vermeiden“, berichtete Güner Balci. Ähnliche Erinnerungen Schreibt  ein Augenzeuge in den deutsch-türkischen Nachrichten.

Auf den Internetseiten der Sarrazinfans liest sich der Besuch ihres Idols wesentlich dramatischer. Da werden wahlweise Muslime ] oder Türken  beschuldigt, Sarrazin aus Kreuzberg vertrieben zu haben. Neuköllns Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky spricht von Psychoterror eines Pöbels gegen Sarrazin. Dieses Statement ist bei ihm nicht verwunderlich, gilt doch Buschkowsky als eine Soft-Version von Sarrazin in der SPD und hat sich trotz der Kritik an manchen seiner Formulierungen stets hinter ihn gestellt.

Einladung zum Publik-Buhing in Kreuzberg

Der kritisierte in einer Pressemitteilung die Inszenierung bei aspekte. „Es ist wirklich mehr als peinlich, wenn Aspekte, ein renommiertes Kulturmagazin, es offensichtlich nötig hat, einen solch vorhersehbaren Eklat zu inszenieren. Wer Thilo Sarrazin unter sichtbarer filmischer Beobachtung durch Berlin-Kreuzberg und Neukölln schickt, kalkuliert mit wütenden Reaktionen“, meint der Kulturrat-Geschäftsführer Olaf Zimmermann.

Das rief wiederum und unvermeidlich Henryk M. Broder auf den Plan, der für Sarrazin in die Bresche sprang und dafür antisemitischen Anwürfen  ausgesetzt ist. Broder insistiert vor allem darauf, dass Kreuzberg keine No-Go-Area für Sarrazin sein darf. Aber ist nicht allein die Befürchtung bei einem Mann grundlos, der via Bild und TV in jedes Wohnzimmer Eingang findet? Broder gab wegen der für ihn „antiaufklärerischen, paternalistischen und reaktionären“ Kritik des Kulturrats den Journalistenpreis zurück, den er im Frühjahr von diesem erhalten hatte

Die Linksparteipolitikerin Evrim Baba Sommer wies in einem Interview  darauf hin, dass Sarrazin Kritiker seines Besuches fragte, ob sie überhaupt deutsche Staatsbürger seien und damit die Meinungsfreiheit an den deutschen Pass knüpfte. Ein Bündnis linker Gruppen lädt anlässlich der Ausstrahlung der aspekte-Sendung zu einem Public-Buhing  in Kreuzberg ein. Die Organisatoren wollen damit deutlich machen, dass die Haltung zu Sarrazin nichts mit Ethnien und Religion, sondern mit einer politischen Positionierung zu tun hat.

http://www.heise.de/tp/blogs/6/150190

Peter Nowak

Umkämpfte Vergangenheit

GESCHICHTE 75 Jahre nach dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs befasst sich eine Ausstellung mit der Erinnerungspolitik daran in Spanien und Frankreich

Dem dreistöckigen Gebäude mit der großen Veranda sieht man nicht mehr an, dass es nach dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs zum Zufluchtsort wurde. Zahlreiche Frauen und Kinder, die nach dem Sieg der Franco-Truppen über die Grenze nach Frankreich fliehen mussten, fanden hier Unterschlupf. Die Schweizer Humanistin Elisabeth Eidenbenz hatte in der ehemaligen Kinderklinik in der Nähe der französischen Stadt Perpignan die Maternité Suisse eingerichtet. Das Hilfsprojekt für spanische Flüchtlinge wird auf einer Tafel der Ausstellung „Umkämpfte Vergangenheit“ vorgestellt, die am vergangenen Sonntag zum 75. Jahrestages des Beginn des Sanischen Bürgerkriegs im Haus der Demokratie eröffnet wurde.

Die von der AG Geschichtspolitik des Vereins „Grenzenlos“ mit Unterstützung der Bundestagsfraktion der Linken, der Antifaschistischen Linken Berlin und der Gruppe Avanti – Undogmatische Linke kuratierte Exposition stellt auf einem Dutzend Tafeln Erinnerungsprojekte vor, die sich dem Kampf in dem südwesteuropäischen Land widmen, der sich ab 1936 zu einer Schlacht zwischen dem Faschismus und seinen GegnerInnen entwickelte. Diese war für viele Beteiligte nach der Niederlage in Spanien 1939 nicht beendet: Die Zahl der spanischen RepublikanerInnen, die nach dem Sieg der Franco-Truppen erschossen und in anonymen Massengräbern verscharrt wurden, geht in die Zehntausende. Wer überlebte, musste unter widrigsten Bedingungen Zwangsarbeit bei der Errichtung von Monumentalbauten des Franco-Regimes leisten.

In den 80er Jahren gründeten sich an vielen dieser Orte Initiativen zur Erinnerung an die Opfer. Sie waren nicht nur mit der großen Angst vor allem der älteren Bevölkerung konfrontiert, die die Schrecken der Vergangenheit vergessen wollte. Sie haben auch bis heute mit den ErbInnen der Franco-Ära zu kämpfen, die als konservative KommunalpolitikerInnen die Menschenrechtsverletzungen auf beide Seiten aufteilen wollen. Die Ausstellung zeigt auch, wie die Beschäftigung mit der Geschichte zur Herausbildung einer baskischen und katalanischen Zivilgesellschaft führte, die sich vom spanischen Staat abgrenzte.

Ausführlich wird in der Exposition der Anteil vieler KämpferInnen gegen das Franco-Regime beim Untergrundkampf gegen die deutsche Besatzung in Frankreich gewürdigt. Die US-Journalistin Martha Gellhorn beschrieb als Kriegsberichterstatterin mit großen Respekt, dass spanische AntifaschistInnen gemeinsam mit UnterstützerInnen aus anderen europäischen Ländern siebzehn französische Städte von den Nazitruppen befreit hatten und dabei mehre Tausend deutsche Soldaten gefangen nahmen. Im Kalten Krieg wurde dieser Anteil der spanischen Linken am Kampf gegen die Nazis totgeschwiegen.

Mehrere Tafeln widmen sich der Geschichte des südfranzösischen Lager Gurs, wo Tausende spanische RepublikanerInnen und ihre UnterstützerInnen nach ihrer Niederlage interniert wurden. Von dort wurden zahlreiche deutsche AntifaschistInnen an die Gestapo und damit oft in den Tod ausgeliefert. 1940 wurden über 6.500 Juden aus Südwestdeutschland nach Gurs deportiert, für viele eine Zwischenstation auf dem Weg in die deutschen Vernichtungslager.

 „Umkämpfte Vergangenheit“, bis 29. Juli, Mo.-Fr., 10 bis 17 Uhr im Haus der Demokratie, Greifswalder Str. 4. Der Eintritt ist frei

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2011%2F07%2F22%2Fa0156&cHash=562f9a55cb

Peter Nowak

„Der Stresstest ist bestanden“

Die Gegner des Bahnprojekets, die Grünen eingeschlossen, könnten die großen Verlierer sein
  Zwei Meldungen zum Projekt Stuttgart 21 machen deutlich, dass von dem im letzten Herbst so hochgelobten neuen Politik-Stil bei den in der Bevölkerung umstrittenen Großprojekten wenig übrig geblieben ist. Nach den bundesweit kritisierten Polizeieinsätzen wurde unter Vorsitz des CDU- und Attac-Mitglieds Heiner Geißler eine im Fernsehen übertragene Schlichtung moderiert. Doch nun zeigt sich immer mehr, dass die Kritiker dieses Prozedere Recht hatten.

Die Bahn ist trotz monatelanger Proteste und der ersten von den Grünen als stärkster Partei geführten Landesregierung ihrem Ziel näher denn je. Der Bahnhof wird mit einigen Modifizierungen gebaut und die Gegner des Projekts befinden sich in der Defensive. Das Schweizer Unternehmen SMA hat das von der Bahn schon vorher an die Presse weitergegebene Ergebnis des S-21-Stresstests nun offiziell bestätigt.

In einer über 200 Seiten starken Expertise kommt das Unternehmen zu dem Ergebnis, dass die Bahn die erforderlichen Standards für den unterirdischen Neubau des Stuttgarter Bahnhofs eingehalten habe. Zudem bestätigt das Unternehmen, dass die Bahn den Stresstest bestanden hat. In dem Papier heißt es nach Informationen des Spiegel

"Unsere Prüfung der Simulationsergebnisse hat gezeigt, dass die geforderten 49 Ankünfte im Hauptbahnhof Stuttgart in der am meisten belasteten Stunde und mit dem der Simulation unterstellten Fahrplan mit wirtschaftlich optimaler Betriebsqualität abgewickelt werden können."

"Der Stresstest ist bestanden", jubilierte eine Sprecherin der Bahn nicht zu Unrecht. Denn die von der grün-sozialdemokratischen Landesregierung vereinbarte Volksbefragung über das Projekt dürfte kein großes Hindernis für das Projekt sein. Die Union hat erwartungsgemäß kein Interesse, der neuen Landesregierung aus der Patsche zu helfen und die Hürden für die Volksabstimmungen in Baden-Württemberg zu senken. So verfehlte das
Vorhaben der Landesregierung, die Quote für ein erfolgreiches Volksbegehren zu senken, im Stuttgarter Parlament die nötige Mehrheit.

Die Gegner des Bahnprojekts, die sich nach den Landtagswahlen fast am Ziel wähnen, könnten nun die großen Verlierer sein. Sie werden an der Präsentation des Stresstestergebnisses nicht teilnehmen. Der Grundfehler der Bahn, die Experten des Aktionsbündnisses nicht von Anfang an der Definition aller Vorgaben des Stresstests zu beteiligen, könne nicht geheilt werden.

Seitens der Bahn fehle bis heute jeder Wille zur Kooperation auf Augenhöhe. Der Stresstest entwickle sich so zu einem "Weichspüler" für ein untaugliches Bahnbetriebskonzept, lautet die Begründung für die Absage, die nicht nur von den Parkschützern, die dem Moderationsprozedere von Anfang an kritisch gegenüberstanden, sondern auch von Umweltgruppen und Wahlbündnissen, die an dem Prozess beteiligt waren, gemeinsam vertreten wurden.

Vor einer neuen großen Koalition?

Die Frage wird sein, ob die außerparlamentarische Bewegung nach einem endgültigen Baubeginn noch einmal die alte Kraft zurück erlangt, was viele Beobachter bezweifeln. Dann wäre die Moderation ein besonders probates Mittel gewesen, umstrittene Projekte bürgerfreundlich doch durchzusetzen.

Die Folgen für die grün-rote Landesregierung sind noch unklar. Da die Grünen gegen Stuttgart 21, die SPD aber dafür ist, könnte damit die Koalition platzen und eine große Koalition der Bahnfreunde folgen. Selbst die grünennahe taz moniert die Blauäugigkeit der Regierungspartei:

"Die Partei um Ministerpräsident Winfried Kretschmann will das Bahnprojekt Stuttgart 21 stoppen, doch derzeit verpufft ihre Strategie dazu komplett."

Vielleicht müsste man die Blauäugigkeit von Teilen der Protestbewegung, die der Moderation zustimmten, in die Kritik einbeziehen. Obwohl sie grundsätzlich gegen das Projekt S21 waren, haben sie sich auf eine Debatte über dessen Rentabilität eingelassen. Sie hätten von der Anti-AKW-Bewegung lernen können, die gut beraten war, mit den Energiekonzernen nicht über die Rentabilität von AKWs zu diskutieren.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/150186

Peter Nowak

Wiedereinzug ausgeschlossen

RÄUMUNG MieterInnen des alternativen Hausprojekts Scharni 29 streiten vor dem Landgericht gegen eine Unternehmensgruppe. Die hatte 2010 die Räumung veranlasst, aber Teile des Gebäudes stehen noch immer leer

Der Streit zwischen den MieterInnen der Scharnweberstraße 29 und der Unternehmensgruppe Padovicz beschäftigt erneut die Justiz. Am Dienstag tagte die Zivilkammer des Berliner Landgerichts über eine Räumungsklage gegen MieterInnen des Hauses aus dem Jahr 2007. Der Termin war nötig geworden, weil der Bundesgerichtshof ein Räumungsurteil des Berliner Landgerichts, das Padovicz Recht gegeben hatte, im November 2010 aufhob. Die Karlsruher Richter monierten, das Landgericht habe den Grundsatz auf rechtliches Gehör der MieterInnen verletzt, weil es deren Einlassungen im Räumungsurteil ignoriert habe. Auch in der Sache hatte der BGH den MieterInnen Recht gegeben. Es ging um die Fristen bei Mietzahlungen, die im Grundsatz bis zum dritten Arbeitstag eines Monats überwiesen sein müssen.

Wenn der aber auf einen Samstag fällt, gilt der folgende Montag als Stichtag. In dem strittigen Fall hatte die Richterin den vom Anwalt der MieterInnen, Burkhard Dräger, vorgetragenen Einwand ignoriert und der Räumungsklage zugestimmt, weil die Miete erst am Fünften des Monats überwiesen worden war.

Ein anderer Streitpunkt ist die Frage nach dem Stichtag für den Mietzins, wenn eine Wohnung erst am 27. eines Monats bezogen wird. „Das ist juristisches Neuland. Da gibt es auch wenig Anhaltspunkte in der Literatur“, sagte Dräger gegenüber der taz. Deshalb wird ein Urteil auch erst am 9. August verkündet. Eine gütliche Einigung kam beim Termin im Zivilgericht nicht zustande, weil die Rechtsanwältin des Eigentümers betonte, dass für ihren Mandanten ein Wiedereinzug der gekündigten MieterInnen nicht infrage komme.

Dabei steht der erste Stock des Hauses seit der mit einem großen Polizeiaufgebot durchgesetzten Räumung im Oktober 2010 (taz berichtete) leer. Da die MieterInnen nach der Aufhebung des Räumungsurteils durch den BGH mit ihren Versuchen scheiterten, mittels einer einstweiligen Verfügung die Wohnungen wieder zu beziehen, kann Padovicz die Wohnungen wieder vermieten.

Dass die Räume bislang nicht vermietet wurden, dürfte auch die Bezirkspolitik beschäftigen. Für die Sanierung der Scharnweberstraße 29 hatte Padovicz Fördermittel im Rahmen der Sozialen Stadterneuerung erhalten. Die Vereinbarungen sehen vor, dass das Belegungsrecht für die Wohnungen beim Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg liegt. Daneben gehören eine Mietobergrenze und die Vermietung von Wohnungen an BesitzerInnen von Wohnberechtigungsscheinen zu den Förderbedingungen. Ein Verstoß gegen diese mit der Investitionsbank Berlin (IBB) abgeschlossenen Vereinbarungen kann mit einer Rückzahlung der Fördermittel geahndet werden. Diese Sanktionsmöglichkeiten wurden in der Vergangenheit kaum genutzt. Das hat sich zuletzt geändert: Mittlerweile werden von Padovicz Fördermittel bei anderen sanierten Häusern zurückgefordert, weil dort die in deVereinbarungen festgelegten Mietgrenzen überschritten wurden.

Peter Nowak

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2011%2F07%2F20%2Fa0148&cHash=7b03fde421

Gipfelproteste in Genua: Erste soziale Bewegung der Postmoderne

Während in diesen Tagen an die staatliche Gewalt in Italien erinnert wird, redet kaum jemand über die Inhalte der Proteste vor 10 Jahren und ihre heutige Bedeutung

In diesen Tagen wird an den italienischen Globalisierungskritiker Carlo Giuliani erinnert, der vor 10 Jahren bei Protesten gegen das G8-Treffen in Genua von der Polizei erschossen worden war. Parolen wie Remember Carlo Giuliani finden sich im Internet und auf Plakaten. Auf Demonstrationein mehreren Städten in Deutschland und Europa wurde sein Konterfei getragen. Vor einigen Wochen ist schon ein Gartenstück in Berlin-Kreuzberg in den Carlo Giuliani-Park umbenannt.

Auf einem Flyer nimmt das Bild des jungen Mannes an Che Guevara erinnernde Züge an. In einem Porträt der Tageszeitung wird der getötete Globalisierungsgegner vertraulich als Junge bezeichnet. So viel Nähe muss verwundern. Denn während zum ersten Jahrestag seines Todes noch viele Hintergrundberichte in den Medien zu finden waren (Wer erschoss Carlo Giuliani?), die auch auf die Ungereimtheiten in den offiziellen Versionen eingingen, war es in den letzten Jahren um die Ereignisse von Genua still geworden. Die Erinnerung an Giuliani schien zu verblassen wie die Parolen, mit denen Menschen ihrer Trauer und Wut über seinen Tod Ausdruck geben wollten.

Bewegung als kollektives Gedächtnis?

10 Jahre später wird wieder erinnert. Ende Juli soll auf einem Veranstaltungswochenende in Berlin unter dem Motto "10 Jahre nach Genua – Bewegung ist ein kollektives Gedächtnis" in Erinnerung gerufen werden, dass Genua ein erster Höhepunkt des Medienaktivismus war. Damals informierten sich auch etablierte Medienvertreter erstmals auf der Bewegungsplattform Indymedia, um sich ein Bild über den Stand der Proteste oder die staatliche Repression zu machen (Genua alternativ). Der Schock über einen Toten und viele schwerverletzte Demonstranten, über verhaftete und misshandelte Aktivisten, war auch deshalb so groß, weil es erstmals Fotos von der Repression gab, die nicht durch die Medien oder durch staatliche Stellen gefiltert waren (Folter in Genua?).

Die Blutlachen in den Schlafsälen der Diaz-Schule von Genua, in der die Polizei schlafende Demonstranten überfiel und misshandelte, erzeugten bei vielen einen Schock (Angriff auf unbequeme Journalisten in Genua, Schockierende Einzelheiten über das brutale Vorgehen der italienischen Polizei). Denn nun konnte man die Beweise für Folter in einem als westeuropäische Demokratie gepriesenem Land im Internet ansehen. Die modernen Kommunikationsmittel konnten den Terror nicht verhindern, sie konnten aber dazu beitragen, dass er in allen Einzelheiten öffentlich wurde. Das hat aber zur Folge, dass an die Ereignisse von Genua vor 10 Jahren fast ausschließlich aus dem Blickwinkel der Repression erinnert wird. Auch fast alle Veranstaltungen, die in diesen Tagen an die Ereignisse von damals erinnern, drehen sich um die Gewalt des Staates. Das war in den ersten Jahren noch verständlich. Viele von Verhaftungen und Misshandlungen Betroffene hatten damals mit den juristischen und gesundheitlichen Folgen der Ereignisse unmittelbar zu kämpfen.

Von Indymedia veröffentlichtes Foto, das einen Blutflecken in dem von der Polizei gestürmten Gebäude zeigt

Erste soziale Bewegung der Postmoderne

10 Jahre später könnte man erwarten, dass stärker vermittelt wird, warum aus ganz Europa und auch aus anderen Kontinenten Menschen nach Genua kamen, um gegen einen Gipfel zu protestieren, der vor allem der Machtinszenierung diente. Man müsste heute erklären, wie sich ausgehend von Protesten gegen das WTO-Treffen von Seattle (Proteste in Seattle, London und im Internet) eine globalisierungskritische Bewegung entwickelte, die nicht nur von außen als neues politisches Phänomen wahrgenommen wurde. Auch in der Binnensicht der Aktivisten entwickelte hier eine neue Widerstandsform, die sich von dem Engagement in Parteien und Gewerkschaften unterschied.

Diese Bewegung kreierte ihre eigene Kultur. Manu Chao trat in Genua vor einem enthusiastischen Publikum auf. Mit Toni Negri hatte sie einen eigenen Philosophen, der hier die Multitude am Werk sah, die die Arbeiterbewegung bei der Umgestaltung der Welt ablösen sollte (Die Globalisierer blockieren die Globalisierung). Mit Subcommandante Marcos aus Chiapas hatte die Bewegung auch internationale Bezugspunkte (Ein poetischer Revolutionär aus Mexico). Sie nutzte die neuen Formen der Kommunikation, die ihr eine weitgehende Unabhängigkeit von den traditionellen Medien verschaffte. Die aber trugen ebenfalls dazu bei, der Bewegung eine große Bedeutung zu geben. So wollte der Spiegel in den Globalisierungskritikern "die erste soziale Bewegung der Postmoderne" erkannt haben. 10 Jahre später wäre zu fragen, ob diese Charakterisierung nicht sehr treffend war und ihre Kurzlebigkeit erklärt. Vom Bedeutungsverlust sind sämtliche Strömungen der globalisierungskritischen Bewegung vom libertären People Globale Action-Netzwerk bis zur wesentlich breiter angelegten Sozialforumsbewegung betroffen.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Repression von Genua und den Anschläge vom 11.9. 2001 in den USA und dem schnellen Abebben der Bewegung? Ein von globalisierungskritischen Gruppen mehrerer Länder erstellter Film mit dem Titel Der vierte Weltkrieg favorisiert diese Lesart. Allerdings dürfte die Kurzlebigkeit auch unabhängig davon in der Struktur dieser Altermondialisten, wie sich die Aktivisten selber nannten, angelegt gewesen sein. Sie nutzten von den neuen Medien bis zum Billigflug die neuesten technischen Innovationen und verbanden so einen postmodernen Lebensstil mit politischem Protest.

Doch im Zeitalter der prekären Arbeitsverhältnisse war es den meisten Aktivisten auf die Dauer nicht möglich, von Gipfel zu Gipfel zu jetten. Ein kleiner Teil machte den Aktivismus zum Job und arbeitet in den verschiedenen Nichtregierungsorganisationen wie Attac oder Greenpeace. Für die große Masse waren die globalisierungskritischen Aktivitäten eine erfahrungsreiche Etappe in ihrer Biographie. Diese Aufsplitterung kann auch erklären, warum 10 Jahre nach Genua so wenig über die Inhalte gesprochen wird, die damals Tausende mobilisierte. Es gibt einige Ausnahmen, wie die Redaktion der Zeitschrift iz3w, die ihre aktuelle Ausgabe unter das Motto "zehn Jahre nach Genua" stellte.

Ohne politische Lernprozesse

Dann wird auch verständlich, warum kaum jemand die damalige Bewegung in den aktuellen Kontext stellt. Vor 10 Jahren hätten die Aufstände in der arabischen Welt eine große Resonanz auf den Straßen von Genua gefunden. Heute können sie ebenso wenig wie die Eurokrise zu einer europäischen sozialen Bewegung beitragen, die gegen Spardiktate und Umschuldungszwänge mobilisiert und die sozialen Bewegung im arabischen Raum unterstützt.

Heute ist klar, die globalisierungskritische Bewegung blieb temporär. Wenn nun in den letzten Wochen von Madrid bis Athen Menschen für eine reale Demokratie die Straßen und Plätze füllen, findet sie hier allerdings ihre spezielle Fortsetzung. Denn auch diese Demokratiebewegung dürfte ein weiterer temporärer Protestevent sein, dem andere folgen werden, ohne dass sie sich aufeinander beziehen und gar aus den vorher gemachten Erfahrungen Schlüsse ziehen, also politische Lernprozesse durchmachen. In diesem Sinne waren die Altermondialisten tatsächlich die erste postmoderne Bewegung.
http://www.heise.de/tp/artikel/35/35156/1.html

Peter Nowak