Klassismus

Konzept zur Gesellschaftsveränderung oder zur Mittelstandsförderung?

 
Im deutschsprachigen Raum ist der Begriff Klassismus relativ unbekannt. Im US-amerikanischen Kontext wird er analog zu Rassismus und Sexismus als eine Diskriminierungs- und Unterdrückungsform bezeichnet und spielt sowohl in der Wissenschaft als auch in der Bildungsarbeit eine Rolle. Mit ihrem im Unrast-Verlag erschienenen Band liefern Heike Weinbach und Andreas Kemper eine gute Einführung in das Konzept und schaffen so die Voraussetzung, sich mit dessen Stärken und Schwächen auseinandersetzen zu können. Sie gehen kurz auf die eng mit der antirassistischen und feministischen Bewegung verbundene Geschichte des Klassismus-Konzepts ein und stellen bei uns weitgehend unbekannte politische Zusammenhänge vor, die dieses Konzept vertreten haben. Dazu gehört die sozialistische Lesbengruppe »The Furies«, die in der ersten Hälfte der siebziger Jahre ihre gesellschaftliche Position als Töchter aus der ArbeiterInnenklasse thematisierten. Dabei kritisierten sie auch die Umgangsweise der sozialen Bewegungen mit dem Thema Klasse. »Sie sei entweder durch und durch romantisierend und führe zu der sogenannten Abwärtsmobilität der Mittelschicht-Jugend oder finde in akademischen marxistischen Debatten statt.« (S. 34) Mit der Metapher
der Abwärtsmobilität kritisieren die Furies, dass sich Studierende aus dem Mittelstand selber marginalisieren, was sie als Töchter der ArbeiterInnenklasse mit Unverständnis kommentierten. Aber auch die Debatten in der ArbeiterInnenbewegung wurden von den Furies kritisiert: »Klasse bedeutet weit mehr als die marxistische Definition von Beziehungen im Spiegel der  Produktionsverhältnisse. Klasse schließt dein Verhalten und deine fundamentalen Überzeugungen mit ein; was du von dir und anderen erwarten darfst, deine Idee von der Zukunft, wie du Probleme verstehst und löst; wie du denkst, fühlst und handelst« (S. 36). Sie reflektierten auch ihre Rolle als Akademikerinnen mit proletarischer Herkunft. »Ja, wir haben College-Abschlüsse;
nein, wir arbeiten nicht in Fabriken, wie unsere Eltern es taten, und wir lernten von der Vergewaltigung unserer Eltern, gerade deshalb wollen wir die Revolution machen« (S. 37).

Von der Gesellschaftsveränderung zur Karriereförderung
Die Furies werden in dem Buch als eine Gruppe von Frauen aus der ArbeiterInnenklasse vorgestellt, die eine ganz eindeutig antikapitalistische Zielsetzung verfolgten. Eine andere in dem Buch vorgestellte Gruppe, die Working-Class-Akademikerinnen (WCA), haben mit den Furies die Herkunft gemeinsam. Doch zwischen ihren politischen Intentionen klaffen Welten. Den in den 90er-Jahren gegründeten WCA ging es nicht um die gesellschaftliche Umwälzung, sondern um die gegenseitige Unterstützung bei der Jobsuche im Wissenschaftsapparat. »Die WCA-Aktivistinnen tauschen sich inhaltlich über ihre Erfahrungen aus, führen Selbstverständnisdiskussionen, unterstützen sich in Forschungsprojekten« (S. 46). Dieser Wandel von der Gesellschaftsveränderung zur Karriereförderung ist einerseits dem Abflauen gesellschaftskritischer Theorie und Praxis geschuldet. Er ist andererseits bereits in den beiden durchaus nicht identischen Bedeutungen des Klassismusbegriffs angelegt, den die AutorInnen in der Einleitung vorstellen. Zum einen bedeute er den »Ausschluss von materiellen Ressourcen und Partizipation, zum anderen die Verweigerung von Respekt und Anerkennung gegenüber Menschen mit ihren Rechten, Lebensweisen und Vorstellungen (S.7). Allerdings stellen die AutorInnen zu wenig die Differenzen und unterschiedlichen politischen Implikationen dar, die sich aus den beiden Erklärungsversuchen ergeben. Wer unter Klassismus den Ausschluss von materiellen Ressourcen und Partizipation versteht, strebt, wie die Furies, eine Änderung dieser Verhältnisse an. Wer unter Klassismus hingegen die Verweigerung von Respekt und Anerkennung gegenüber Menschen mit ihren Rechten, Lebensweisen und Vorstellungen versteht, muss nichts dagegen haben, dass Menschen arm und beispielsweise gezwungen sind, Flaschen zu sammeln. Nur sollten das bitte auch alle respektieren. Aus einem Problem der ungleichen Verteilung von Ressourcen und Macht in einer Gesellschaft wird die Sorge, dass auch diejenigen, die wenig oder keine Ressourcen haben, respektiert werden sollen. Klemper/Weinbach versuchen an verschiedenen Stellen im Buch, zwischen den beiden unterschiedlichen Klassismus-Definitionen zu vermitteln. »Klassismus verbindet im Grundverständnis die alten Kritikformen der ArbeiterInnenbewegung am materiellen und politischen Ausschluss mit der Kritik an der Nichtanerkennung und der Herabsetzung von Kulturen und Leben der ArbeiterInnen, Arbeitslosen und Armen« (S.17 ). Als Beispiel dafür wird ein längeres Zitat aus einem Handbuch für gewaltfreie Aktion aufgeführt: »Klassismus  wird ebenso aufrechterhalten durch ein Glaubenssystem, in dem Menschen aufgrund ihrer Kinderzahl, ihres Jobs, ihres Bildungsniveaus hierarchisiert werden. Klassismus sagt, dass Menschen aus einer höheren Schicht klüger sind und sich besser artikulieren können als Menschen aus der Arbeiterklasse und arme
Menschen. Es ist eine Art und Weise, Menschen klein zu halten – damit ist gemeint, dass Menschen aus der höheren Klasse und reiche Menschen definieren, was ›normal‹ oder ›akzeptiert‹ ist. Viele von uns haben diese Standards als die Norm akzeptiert, und viele von uns haben den Mythos geschluckt, dass die meisten im Land zur Mittelklasse gehören« (S. 16f.).

Interessant wäre, diese Definition auch auf sich links und emanzipatorisch verstehende Zusammenhänge anzuwenden. Schließlich geht es sowohl bei Konflikten in selbstverwalteten Zentren und Häusern als auch in linkspolitischen Zusammenhängen oft um die Frage, ob eher universitär und mittelstandsorientierte Menschen die politischen Spielregeln bestimmen und damit Menschen aus der Arbeiterklasse oder Erwerbslose dominieren und unter Umständen auch auszugrenzen. Wie komplex diese Auseinandersetzung sein kann, zeigt sich daran, wenn bei einem Konflikt um antisexistische Praxen in einem selbstverwalteten Zentrum junge Erwerbslose Frauen- und Lesbenzusammenhängen vorwerfen, sie versuchten Normen und Verhaltensweisen des akademischen Mittelstands einzuführen. Ähnliche Konflikte gibt es in der Auseinandersetzung mit Schwulen und jungen MigrantInnen. Diese Beispiele machen deutlich, dass ein Konzept zu kurz greift, das sich den Respekt und die Anerkennung der unterschiedlichen Kulturen auf die Fahnen schreibt, ohne zu berücksichtigen, dass sich diese gegenseitig ausschließen können. Wenn im  Klassismuskonzept beispielsweise Respekt vor den Kulturen der Armen, Erwerbslosen und ArbeiterInnen verlangt wird, ist zu
fragen, wie damit umzugehen ist, wenn diese Kulturen ihrerseits ausschließend gegen Menschen anderer Länder oder sexueller Orientierung sind. Diese Fragestellung verweist schon darauf, dass Kulturen nichts Statisches und Unveränderliches, sondern selbst Gegenstand von politischer und gesellschaftlicher Positionierung sind. So hat sich immer wieder gezeigt, dass in Arbeitskämpfen und Streiks, zumindest zeitweilig, nationalistische und rassistische Einstellungen gegenüber KollegInnen zugunsten eines gemeinsamen Handelns zurückgedrängt werden können. Mit der bloßen Forderung nach Respekt vor Kulturen besteht auch
die Gefahr, dass deren konservative, rückwärtsgewandte Elemente konserviert werden. Die AutorInnen verweisen darauf, dass in der Literatur auch Vorurteile von ArbeiterInnen gegenüber Reichen als Klassismus bezeichnet werden. Könnte es vielleicht einmal so weit kommen, dass streikende ArbeiterInnen, die sich über Ausbeutung und Lohndrückerei beschweren, des Klassismus geziehen werden, weil sie der ›Kultur‹ der Reichen und Besitzenden nicht den gebührenden Respekt zollen? Diese Frage mag sich polemisch
anhören, doch wenn es nur noch um Identitäten und Respekt vor den unterschiedlichen Kulturen geht, ist eine solche Entwicklung nicht ausgeschlossen. Wenn aber das Klassismuskonzept mit einer gesellschaftlich klaren Positionierung verbunden ist, kann es auch für heutige Organisierungsprozesse am Arbeitsplatz, im Jobcenter oder wo auch immer hilfreich sein, insofern es den Blick auf in der marxistischen Tradition verbreitete Verkürzungen eines ökonomistischen Klassenbegriffs lenkt, die nicht einfach durch die Addition einer Portion Respekt oder gar die Substitution von ökonomischen durch moralische Kategorien zu beheben sind. Die Einführung in die Theorie und Praxis des Klassismus könnte in diesem Sinne eine gute Diskussionsgrundlage dafür sein, wie der Klassenbegriff nicht-ökonomistisch zu rekonstruieren und zu reformulieren wäre.

Peter Nowak
Andreas Kemper / Heike Weinbach: »Klassismus. Eine Einführung«, Unrast Verlag, Münster 2009,
ISBN 978-3-89771-4670, 185 Seiten, 13 Euro

erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5/11
express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express


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