Eindrücke vom europäischen Protesttag

In zahlreichen europäischen Ländern haben sich am 29. September Tausende gegen die Sparpolitik der Regierungen gewandt

Aufgerufen hatten dazu der Europäische Gewerkschaft und das europäische Sozialforum. Während es in Spanien zu landesweiten Streiks kam, beschränkten sich die Proteste in den meisten Ländern auf Demonstrationen.

Bis zu 100.000 Gewerkschafter aus ganz Europa hatten sich in Brüssel zu Protesten versammelt. Wer den kilometerlangen Zug beobachtete, konnte die unterschiedlichen Gesichter der aktuellen Arbeiterbewegung in Europa beobachten. Junge HipHopper liefen neben Veteranen der französischen kommunistischen Partei. Gegen die Präsenz der sozialdemokratischen Parteien riefen Mitglieder der französischen Gewerkschaft Sud Slogans. Sie warfen ihnen vor, die Sparpolitik aktiv mitgetragen zu haben.

Ein Block von Antirassisten aus dem No-Bordercamp, das zur Zeit in Brüssel seine Zelte aufgeschlagen hat, wurde von der Polizei vor Demobeginn aufgehalten. Dabei kam es zu zahlreichen Festnahmen. Die Gruppe wollte für die Rechte der undokumentierten Arbeiter eintreten, die auch bei vielen Gewerkschaften, wenn auch zögerlic, thematisiert werden.

Parlamentszugang blockiert

Auch in Polen gingen mehrere tausend Gewerkschafter gegen die Sparpolitik der Regierung auf die Strasse. Zu einer spektakulären Aktion kam es in Irland. Dort blockierte ein Mann mit einem Zementlaster das Parlamentsgebäude in Dublin.

In Deutschland liefen die Aktionen unspektakulärer ab. Laut Angaben von [www.attac.de/bankenaktionstag/ Attac] haben sich Menschen in 75 Städten daran beteiligt Das Spektrum der Aktionen reichte dabei von Kranzniederlegungen, Theaterspielszenen und Informationsständen bis zu kurzeitigen Bankbesetzungen wie in Berlin. Auch auf erprobte Aktionsformen wurde zurückgegriffen. So wurde eine Financial Crimes Deutschland verteilt, die nicht nur im Namen sondern auch im Layout an die Financial Times Deutschland erinnerte. Vor Jahren hatte man schon die Wochenzeitung Zeit auf diese Weise plagiiert.

Bankenaktionstag abgesagt

Wie es nach den Kisenprotesten weitergeht, ist offen. Eine für den 18.Oktober geplante Blockade des Bankenviertels in Frankfurt-Main wurde nach monatelanger Vorbereitung vor wenigen Tagen abgesagt. „Der Stimmungswandel vor den Sommerferien (‚Wir zahlen nicht für eure Krise‘) in die Zeit danach (‚Die Krise ist vorbei‘), den auch wir zu spüren bekamen, fällt derzeit vielen Akteure, die gegen das Verarmungsprogramm mobilisieren, in den Rücken“, schreiben die Aktivisten. Viele werden jetzt die Ende November anlässlich der dritten Lesung des Sparpakets die geplante Bundestagsumzingelung in Berlin unterstützen.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/148476

Peter Nowa

Hartz IV zum Selber-Rechnen

Wie viel Geld braucht ein Mensch für ein lebenswürdiges Leben?

Diese Frage beschäftigt Erwerbslose und Medien, seit die Regierung beschlossen hat, die Hartz IV-Sätze um 5 Euro monatlich zu erhöhen. In bewusster Abgrenzung dazu hat eine Dresdner Initiative, die seit langen sozialpolitisch aktiv ist, eine Kampagne gestartet, um den tatsächlichen Bedarf zu ermitteln.

„Wir möchten dazu anregen, anhand Ihrer praktischen Erfahrung Beispiele dafür zu geben, was für Ausgaben für eine Existenzsicherung nötig sind“, wenden sich die Initiatoren an die Zielgruppe. Für die Einträge wurden im Internet Tabellen und ein Diskussionsforum eingerichtet. Dort soll darüber diskutiert werden, welche Wertigkeit die einzelnen Bedürfnisse haben. Die Initiatoren der Kampagne räumen ein, dass sie sich damit auf schwieriges Terrain begegnen, verteidigen auf der Kampagnenhomepage aber ihre Vorgehensweise.

„Nicht alles ist für alle gleichermaßen wichtig. Bedürfnisse sind immer persönliche Bedürfnisse. Wir denken: nicht alle Lebenssituationen sind miteinander vergleichbar. Trotzdem gibt es unserer Meinung nach die Notwendigkeit, sich über das zu verständigen, was für ein menschenwürdiges Leben in dieser Gesellschaft notwendig ist. Sonst tun es andere. Was dabei heraus kommt sehen wir an den aktuellen ALG II-Regelsätzen“, heißt es dort.

Es wird auch beklagt, dass eine ernsthafte Diskussion über ein angemessenes Arbeitslosengeld II bisher ausgeblieben sei. Dafür hatte man immer nur Abwehrkämpfe gegen wirtschaftsliberale Vorschläge geführt, die einer weiteren Kürzung der Hartz IV-Sätze das Wort redeten. Damit werden aber Initiativen von Erwerbslosengruppen ignoriert, die aus ihrer politischen und gesellschaftlichen Praxis heraus konkrete Forderungen in Bezug auf die Hartz IV-Sätze formulieren.

Weil diese Forderungen im persönlichen Kontakt oft besser als über das Internet zu ermitteln seien, geht am 10. Oktober 2010 ein Bündnis von Gewerkschaften und Erwerbslosengruppen für eine Erhöhung der Hartz IV-Sätze um 80 Euro monatlich auf die Straße.

Die Diskussion über ein lebenswertes Einkommen ist also durchaus nicht so auf dem Nullpunkt, wie die Initiatoren der Kampagne annehmen. Allerdings scheinen die Aktivisten noch nicht so gut vernetzt zu sein.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/148462

Peter Nowak

Arbeitslose machen Stunk

PROTEST Nur 5 Euro mehr für Hartz-IV-BezieherInnen? Das reicht Arbeitslosen nicht. Deswegen gehen sie am 10. Oktober in Oldenburg auf die Straße

OLDENBURG taz Nach der Ankündigung der Bundesregierung, die Hartz-IV-Regelsätze um fünf Euro zu erhöhen, mobilisieren Erwerbsloseninitiativen aus ganz Deutschland zu einer bundesweiten Demonstration. Unter dem Motto „Krach schlagen statt Kohldampf schieben“ sollen am 10. Oktober tausende erwerbslose Menschen in Oldenburg auf die Straße gehen. Unterstützung erhalten die Hartz-IV-EmpfängerInnen vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB).

DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach sagte der taz: „Gerade für Erwerbslose geht es um viel, wenn die Rentenbeiträge oder das Elterngeld für Hartz-IV-BezieherInnen gestrichen werden sollen.“

Zurzeit werben Aktivisten vor Job-Centern in ganz Deutschland für die Protestaktion. „Wir fordern 80 Euro mehr für Ernährung. Von den knapp 120 Euro, die bislang im Regelsatz eines Erwachsenen für Essen enthalten sind, kann sich niemand ausreichend und gesund ernähren“, sagte Mitorganisator Guido Grüner von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg.

Martin Künkler von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen sagte: „Höhere Leistungen können nur politisch gegen massive Widerstände aus Politik und Wirtschaft erkämpft werden.“ Neben der politischen Debatte müsse daher nun auch Druck auf der Straße entstehen.

Der DGB selbst plant keine bundesweiten Großdemonstrationen. Zwar wollen einzelne gewerkschaftliche Gruppen Busse zur Arbeitslosen-Demo in Oldenburg schicken. Anders als ArbeitnehmerInnen, die mit den Gewerkschaften über einen hohen Organisationsgrad verfügen, sind Erwerbslose vor allem lokal organisiert – wenn sie überhaupt organisiert sind.

„Bereits eine Demonstration wie die in Oldenburg ist für viele Erwerbslose blanker Existenzkampf“, sagt Anne Seeck vom lokalen Erwerbslosentreff in Berlin-Neukölln. Martin Künkler sieht allerdings einen „qualitativen Sprung“ in der Zusammenarbeit unterschiedlicher Erwerbslosengruppen in den vergangenen Monaten.

„Zusammen wollen wir Druck machen für höhere Hartz-IV-Sätze, Erwerbslose ermutigen, für ihre Interessen einzutreten.“ Dass das nicht allzu leicht werden dürfte, zeigt die Geschichte der Erwerbslosenkämpfe.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=in&dig=2010%2F09%2F29%2Fa0048&cHash=b9c38742

Peter Noak

Für ein Europa ohne Grenzen

»No Border Camp« bis 3. Oktober in Brüssel

Auf dem Brüsseler Gelände »Tour & Taxis« soll am heutigen Sonnabend ein europäisches »No Border Camp« aufgebaut werden. Dessen Bewohner – Mitglieder und Anhänger eines Netzwerks autonomer Organisationen – setzen sich für die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit aller Menschen ein.

In den vergangenenn haben ähnliche Camps an den EU-Grenzen stattgefunden, an denen Flüchtlingen mit unterschiedlichen Mitteln die Einreise verwehrt oder erschwert wird. „In diesem Jahr haben wir uns für unsere Aktion Brüssel ausgesucht, weil dort das Europäische Parlament tagt, das für die Flüchtlingspolitik  maßgeblich verantwortlich ist. Zudem haben dort viele Lobbyorganisationen ihren Sitz, die für das Grenzregime verantwortlich sind“, begründet Jennifer Lopez gegenüber ND die Ortswahl. Lopez arbeitet im No-Border-Netzwerk mit, einen 1999 gegründeten länderübergreifenden  Zusammenschluss von antirassistischen Gruppen und Einzelpersonen.   Es bereitet das Brüsseler  Camp seit Monaten vor. Auf mehreren europaweiten Treffen wurden sowohl die praktischen Details auch das Programm zwischen den Gruppen aus den verschiedenen Ländern koordiniert.
Die Aktivisten wenden sich nicht nur gegen die Flüchtlingsabwehr, sondern  auch gegen die Grenzen im Inneren. Damit meinen sie beispielsweise die Vertreibung von Roma aus Frankreich, die zurzeit für Schlagzeilen sorgt. Lopez erinnert daran, dass  eine solche Politik Vorläufer in verschiedenen europäischen Ländern hatte. So seien Vertreibungen von stigmatisieren Minderheiten in Italien und in Belgien in den letzten  Jahren ohne große Aufmerksamkeit über die Bühne gegangen.

Theorie und Praxis
In verschiedenen Arbeitsgruppen soll auf dem Camp die  europäische Politik der Abschottung analysiert werden. Natürlich wird es auch um weitere antirassistische Gegenstrategien gehen.  Ein Theoriecamp ist allerdings nicht geplant, betont Lopez. So soll am 29. September mit einer Demonstration an den nigerianischen Flüchtling Sémira Adamu erinnert  werden. Ihm wurde 1998  ihm bei einem Abschiebeversuch von belgischen Polizisten ein Kissen so fest ins Gesicht gedrückt, das er daran erstickte. Mit einer antirassistischen Großdemonstration soll das Camp am 3. Oktober enden. Dazwischen soll mit vielfältigen Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen die Politik der Abschirmung protestiert werden.     Zudem wollen sich die Antirassisten mit einem „antikapitalistischen kritischen  Block“ an der europäischen Großdemonstration beteiligen, die vom Dachverband der europäischen Gewerkschaften am 29.September in Brüssel organisiert wird.   Das Programm sei noch nicht vollständig, betont Lopez. Schließlich werde auf dem Camp Selbstorganisation groß geschrieben. Dazu gehört auch, dass Campteilnehmer auch spontan Aktionen vorstellen können. Informationen zum Camp gibt es auch auf deutsch auf der Homepage  http://www.noborderbxl.eu.org.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/180388.fuer-ein-europa-ohne-grenzen.htm

Peter Nowak

Kein Tag für Deutschland

Linke mobilisieren gegen die Einheitsfeiern in Bremen

Was haben der Bundesvorsitzende der Jusos Sascha Vogt, die Europaabgeordnete der LINKEN Gaby Zimmer und der Intendant am Berliner Maxim-Gorki-Theater Armin Petras gemeinsamen? Alle drei haben in der taz vom vergangenen Sonnabend die Frage verneint, ob der zwanzigste Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung Grund zum Feiern sein soll. Sie stehen mit ihrer Meinung nicht allein. Unter dem Motto »Etwas Besseres als die Nation« ruft ein linkes Bündnis zu einer bundesweiten Demonstration auf, die am 3. Oktober um 16.30 Uhr am Bremer Hauptbahnhof beginnt.

Das Bundesland Bremen richtet in diesem Jahr die Einheitsfeierlichkeiten aus. Bundespräsident Wulff und Bundeskanzlerin Merkel werden dort Reden halten und zum Kulturprogramm gehören der Auftritt von Silly aus der DDR und Nena aus der BRD. »Superdeutschland begießt 20 Jahre Einheit, mit Angela, Christian und Nena. Es gibt zwar kein Freibier, aber wir kommen trotzdem«, kommentieren die Antinationalisten das Programm ironisch. Die Ausrichter des Einheitstages werden von Alex Schneider, einem Mitorganisator der Gegendemo, mit Spott bedacht: »Ursprünglich war geplant, eine Mauer aus weißen Laken zu errichten, die gemeinschaftlich bemalt und anschließend symbolisch eingerissen werden sollte. Doch noch nicht mal das haben die Bremer Feiertagsbürokraten hingekriegt.« In dieser Unbeholfenheit sieht er keinen Grund für eine Entwarnung. »Der nationale Burgfrieden braucht kein von oben verordnetes Kulturprogramm, er gründet im spontanen Alltagsnationalismus der Bürger«, warnt Schneider.
Kein Frieden mit »Schland«

Genau an diesem Punkt setzt die Kritik der Antinationalisten an. Auch der scheinbar heitere Partynationalismus der Fußballweltmeisterschaft, in dem Deutschland zu »Schland« zusammenschrumpfte, sei nicht so harmlos, wie es scheint, betont Schneider. Auf einer Veranstaltung des Berliner Bündnisses gegen die Wendefeierlichkeiten, das zur Bremer Demonstration mobilisiert, wurde auf verschiedene Facetten des von ihnen kritisierten Alltagsnationalismus eingegangen. Thematisiert wurde dabei auch der Flaggenstreit im Berliner Stadtteil Neukölln. Während der Fußball-WM waren dort häufig Läden und Wohnungen von Menschen mit migrantischem Hintergrund mit schwarz-rot-goldenem Stoff verziert, was bei linken Gruppen im Stadtteil auf Kritik stieß. Kritisch sehen die Veranstalter auch die um ihren Arbeitsplatz kämpfenden Opel-Arbeiter, die einem bestimmten Investor Lohnverzicht anboten und damit ein Beispiel für »betrieblichen Standortnationalismus« darstellten.

Eine zentrale Rolle bei den Protesten spielt das 2006 gegründete »Ums-Ganze!«-Bündnis, in dem sich Ablehnung von »Staat, Nation und Kapital« mit avantgardistischer Attitüde verbindet. Schon im letzten Jahr hat sich am 8. November das Bündnis kritisch mit den Wendefeierlichkeiten beschäftigt. Mehrere tausend Menschen beteiligten sich an einer Demonstration in Berlin unter dem Motto »Es gibt kein Ende der Geschichte«. Auch in Bremen rechnet Alex Schneider mit einigen tausend Teilnehmern. In zahlreichen Städten habe es gut besuchte Vorbereitungsveranstaltungen gegeben und ein Jugendbündnis ruft zu einem eigenen Block auf der Demonstration auf.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/180632.kein-tag-fuer-deutschland.html

Peter Nowak

Halber Erfolg für Sarrazin

Der Auftritt von Buschkowsky soll die SPD-Basis mit dem Ausschluss von Sarrazin versöhnen

Eine Personalie sorgte auf dem SPD-Parteitag (siehe Links „angetäuscht“) für Aufsehen: Der Bürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky, gehörte neben dem ehemaligen Bundespräsidentschaftskandidaten Joachim Gauck zu den Gastrednern. Der Neuköllner Lokakpolitiker erfüllte dort ganz die Erwartungen. Er redete über die Integrationspolitik und nahm dabei kein Blatt vor den Mund:

„Wer dauerhaft zu uns kommt, hat auch die Pflicht, einen eigenen Beitrag zur Integration in die Gesellschaft zu leisten, zum Beispiel durch Teilnahme an Integrationskursen. Dazu brauchen wir eine konsequente und schnellere Anwendung der bestehenden Gesetze und keine weiteren Gesetzesverschärfungen!“

In Zukunft solle der Abbruch von Integrationskursen ebenso wenig akzeptiert werden wie das Schulschwänzen, betonte Buschkowsky

Beruhigung der SPD-Basis

Genau deshalb wurde er eingeladen. Diese Thesen hat Buschkowsky schon seit mehreren Jahren vertreten und sich dabei im SPD-Mittelbau nicht unbedingt Freunde gemacht. Als Mann für das Grobe hat er sich seit Jahren immer wieder zum Thema Integration zu Wort gemeldet.

Von seinen Kritikern wurde Buschkowsky öfter mit Sarrazin verglichen. Dem hat er auch sein überraschendes Comeback auf dem SPD-Parteitag zu verdanken. Damit soll der Basis signalisiert werden, dass die Kritik am Multikulturalismus kein Ausschlussgrund aus der SPD ist. Das aber behaupteten viele Sarrazinfans in und außerhalb der SPD.

Von Buschkowsky abgeschrieben

Buschkowsky lehnt einen Ausschluss von Sarrazin ab und hat sich zu seinem umstrittenen Buch sehr unterschiedlich geäußert. So bescheinigt er im gleichen Interview Sarrazin, dass er die Sachprobleme zutreffend beschrieben, aber auch, dass er Formulierungen gebraucht habe, die am Rande des Rassismus angesiedelt seien.

Zudem grenzt sich Buschkowsky von Sarrazins Ausflügen in die Eugenik ab, weist aber nicht uneitel darauf hin, dass die in seinen Augen brauchbaren Teile des Buches von ihm abgeschrieben sein sollen. Tatsächlich beruft sich Sarrazin in seinem Buch auf intensive Gespräche mit Buschkowsky.

Dessen Auftritt auf dem SPD-Parteitag ist so auch ein halber Sieg Sarrazins. Während man sich von den Ausflügen in die Genetik distanziert, werden seine Thesen zur Integrations- und Unterschichtenproblematik, die vor einigen Jahren noch auf große Kritik auch in liberalen Kreisen gestoßen wären, heute weitgehend unterstützt. So wird ein Buschkowsky, der mit seiner Kritik an der multikulturellen Gesellschaft in der SPD lange Zeit im Rechtsaußen angesiedelt war, zum Gastredner des Parteitages.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/148457

Peter Nowak

»Wir sind bewegungsorientiert«

Almut Woller vom Studierendenverband Die Linke.SDS über die Herbsttagung der Organisation
Am Sonntag ging die 4. Herbstakademie des Studierendenverbandes Die Linke.SDS zu Ende. ND-Autor PETER NOWAK sprach mit Verbands-Geschäftsführerin ALMUT WOLLER über die Ziele des Treffens, kommende Proteste und das Verhältnis zur LINKEN.
ND: Was hat es auf sich mit der SDS-Herbstakademie?
Woller: Die Herbstakademie gehört zu den wichtigsten bundesweiten Terminen für die Reflexion unserer Praxis und die Weiterentwicklung unserer Theorie als sozialistischer Verband. So haben wir uns in Lektüreworkshops mit den Schriften von Marx und Gramsci befasst. Zudem beschäftigten wir uns mit Texten zur linken Organisationsdebatte und diskutieren, wie wir sie auf die Situation an den Hochschulen anwenden können.

Wurde auf der Herbstakademie auch über die Grenzen von Protestbewegungen gesprochen?
Die Auswertung der Bildungsproteste spielt bei uns tatsächlich eine große Rolle. Wir haben festgestellt, dass viele Kommilitonen nach den intensiven Streiks in drei Semestern nicht mehr weiter machen können, weil sie sich wieder um ihr Studium kümmern müssen. Die Studierenden wissen aber auch, dass sich bisher an den Hochschulen nichts zum Besseren verändert hat, sondern dass Schwarz-Gelb die Angriffe auf die Bildung auf Landesebene fortsetzt.

Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus für kommende Proteste?
Wir wollen die Bildungsstreiks in den größeren gesellschaftlichen Zusammenhang der Krisenproteste stellen. Damit wollen wir verhindern, dass Studierende gegen andere von der Sparpolitik betroffene Gruppen ausgespielt werden, da die Bildung von den Kürzungsorgien auf Bundesebene zunächst ausgenommen wurde – übrigens auch ein Erfolg des Bildungsstreiks, der die Regierung massiv unter Druck gesetzt hat. Zudem wollen wir damit Studierende, die sich durch die Bildungsproteste politisiert haben, ermutigen, die gesamtgesellschaftlichen Hintergründe zu hinterfragen. Sarrazins rassistische Äußerungen sind nicht zufällig, sondern stehen im Kontext der Wirtschaftskrise, in der die herrschenden Eliten nun durch Sündenbockpolitik von sozialer Ungerechtigkeit ablenken wollen.

Ein Workshop beschäftigt sich unter dem Titel »SDS-Kontrovers« mit der Demokratie im Verband. Kündigen sich da interne Konflikte an?
Nein, es gibt keinen konkreten Anlass. Wir wollen als noch recht junger Verband unsere Praxis ständig reflektieren und auch unsere Verbandsstrukturen kritisch hinterfragen. Dazu gehört auch die gezielte Förderung von Frauen im Verband.

Welche politischen Schwerpunkte haben Sie neben der Hochschulpolitik?
Wir haben als sozialistischer Verband den Anspruch, Politik an die Hochschulen zu tragen. Wir sind bewegungsorientiert. Deshalb haben wir uns im Februar 2010 an den erfolgreichen Blockaden gegen den Naziaufmarsch in Dresden beteiligt. In den nächsten Wochen steht für uns die Beteiligung an den Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen den Castor-Transport ins Wendland und den Krisenprotesten auf der Agenda. Konkret geht es dabei um die von einem großen Bündnis geplanten Bankenblockaden am 18.Oktober und die geplante Umzingelung des Bundestages bei der Verabschiedung des Sparprogramms in Berlin Ende November.

Auf den Workshops wurde auch über die Entwicklung der LINKEN diskutiert. Wie positioniert sich der Verband in der Programm-Debatte?
Wir stehen in einem kritisch-solidarischen Verhältnis zur Partei und sind daran interessiert, dass das klare antikapitalistische Profil erhalten bleibt. Daneben ist uns strikte Ablehnung jeglicher Beteiligung an Militäreinsätzen sehr wichtig. Bei dem bildungspolitischen Teil sehen wir enormen Veränderungsbedarf und das Ziel der Demokratisierung der Gesellschaft bleibt zu vage. Dennoch sind wir insgesamt sehr zufrieden mit dem Entwurf.

Wie stehen Sie eigentlich zur Bildungspolitik von Landesregierungen, an denen die LINKE beteiligt ist?
Wir stehen der Regierungsbeteiligung der LINKEN in Berlin und Brandenburg äußerst kritisch gegenüber. Uns ist wichtig, dass die Partei sich vor allem als Partner für außerparlamentarische Bewegungen versteht. Wir führen allerdings im Verband keine Strömungsdebatten wie in der LINKEN. Die Linke.SDS versteht sich als pluralistischer Verband und ist auch für Menschen offen, die reformistischere Positionen haben.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/180466.wir-sind-bewegungsorientiert.html

Interview: Peter Nowak

Kein Journalismusersatz

Als PR-Profi in eigener Sache ist Julian Assange fast unübertroffen. Schließlich hat es der Gründer von Wikileaks geschafft, diese Enthüllungsplattform innerhalb von wenigen Monaten weltweit bekannt zu machen. Spätestens nach der Veröffentlichung der Afghanistan-Dokumente und der unverhohlenen Repressionsdrohungen von führenden US-Verantwortlichen galt Wikileaks in kritischen Kreisen als einsamer Streiter für die Informationsfreiheit. Schnell war davon die Rede, dass Wikileaks im Internetzeitalter die Rolle der kritischen Medien übernommen hat. Doch wer sich genauer mit der kurzen Geschichte von Wikileaks auseinandersetzt, wird zu dem Schluss kommen, dass damit Journalismus keineswegs ersetzt oder gar überflüssig wird. Ganz im Gegenteil ist die fehlende journalistische Arbeit das größte Manko der Plattform.
So wäre es für Wikileaks ohne die Zusammenarbeit mit Spiegel, New York Times und Guardian gar nicht möglich gewesen, die Afghanistan-Dokumente zu veröffentlichen. Allerdings wurden die Zeitungen als Zuarbeiter höchstens in einer Fußnote erwähnt, während die Internetplattform den alleinigen Ruhm einheimste. Doch mittlerweile zieht Wikileaks auch die Kritik nicht nur von Kreisen auf sich, die die Veröffentlichung der Dokumente über den Afghanistankrieg ablehnen. So kritisierten Amnesty International gemeinsam mit weiteren Menschenrechtsorganisationen, dass in den bei Wikileaks veröffentlichten Dokumenten Klarnamen von Afghanen stehen, die mit den US-Militärs zusammengearbeitet haben sollen. Die Menschenrechtsorganisationen befürchten wohl nicht zu Unrecht, dass die Geouteten dadurch ins Visier von Islamisten geraten könnten.
Assange erklärte daraufhin, es würden 700.000 Dollar gebraucht, um die 15.000 Kriegsdokumente aus Afghanistan von Namen und Daten zu bereinigen, die Menschen in Gefahr bringen könnten. Auf Twitter suchten die Wikileaks-Gründer die Schuld woanders: „Die Medien übernehmen keine Verantwortung“, hieß es dort.
Doch die Kritik an den Veröffentlichungen von nicht oder schlecht redigierten Dokumenten und die Reaktion darauf zeigt einmal mehr, dass Wikileaks kein Ersatz für Journalismus ist. Die Plattform ist zudem auch gar nicht in der Lage, diese Rolle zu übernehmen. Die Leistung von Wikileaks erschöpft sich in der Bereitstellung einer technischen Infrastruktur und guter Medienarbeit in eigener Sache. Engagierten Journalismus hingegen zeichnet aus, dass er Dokumente auswertet und aufarbeitet. Deshalb haben die vielgescholtenen Medien keinen Grund sich zum Zuarbeiter und Buhmann von Wikileaks degradieren zu lassen.

aus M, Menschen Machen Medien 8/9 -2010

http://mmm.verdi.de/archiv/2010/08-09/kommentiert-aufgespiest

Peter Nowak

Buchläden wehren sich

Polizei beschlagnahmt auch Computer

Schon fünf Mal haben die Berliner Buchläden Schwarze Risse, 021 und M99 in diesem Jahr Polizeibesuch bekommen. Dabei galt das behördliche Interesse nicht den Büchern in den Verkaufsregalen, sondern Flugblättern und Broschüren zum Mitnehmen, die von politischen Gruppen in den Buchläden ausgelegt wurden. Mal war ein Flugblatt des Berliner Büros für Antimilitaristische Maßnahmen (Bamm), mal die Autonomenpublikation Interim Grund für die Polizeibesuche. Doch neben den
inkriminierten Schriftstücken wurden auch regelmäßig die Computer der linken Buchläden beschlagnahmt und erst einige Tage später zurückgegeben.
Das sorgt bei den Buchhändlern für großen Unmut. »Es ist wohl nicht davon auszugehen, dass die Hersteller und Verteiler inkriminierter Texte per E-Mail ihr Kommen ankündigen. Dafür könnte bei Kunden, die elektronisch ein Buch bestellen wollen, Verunsicherung eintreten, ob nicht womöglich ihre Daten gespeichert werden«, meint ein Mitarbeiter der Schwarzen Risse.
Der Berliner Rechtsanwalt Sven Lindemann, der den Laden juristisch vertritt, will genau beobachten, was weiter passiert: »Bei den bisherigen Durchsuchungen wurden die Computer nach Angaben des Landeskriminalamts nicht gespiegelt, sondern lediglich mit Hilfe von Schlagwörtern durchsucht. Wenn sich in den laufenden Verfahren herausstellen sollte, dass doch kopiert wurde, müssten die Daten nach Einstellung des Verfahrens gelöscht werden«, erklärte Lindemann gegenüber dem Sprachrohr. Die Beschlagnahme der Computer stellt für ihn den Hauptkritikpunkt dar: »Es werden bei solchen Durchsuchungen nicht nur die
inkriminierten Zeitungen beschlagnahmt, sondern es wird in nicht unerheblicher Weise in den Gewerbebetrieb eingegriffen. Den Buchhändlern wird ihre berufliche Tätigkeit erschwert, und ihnen wird ohne
Begründung unterstellt, dass sie Kenntnis vom Inhalt der jeweilig beanstandeten Zeitschriften hätten.«
Dabei sind Buchhändler nach der gängigen Rechtssprechung nicht verpflichtet, alle ausgelegten Publikationen und Flugschriften nach möglichen strafbaren Inhalten zu durchforsten. Lindemann vermutet, dass die Berliner Staatsanwaltschaft die gängige Rechtssprechung zu revidieren sucht.

Gesellschaftliche Debatte führen

Die betroffenen Buchläden setzen nicht nur auf den Rechtsweg. Sie wollen zugleich eine gesellschaftliche Debatte über die Bedeutung linker Buchläden anstoßen. Diese Diskussion soll ausdrücklich über die linke Szene hinausreichen. Auch die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und der Börsenverein des deutschen Buchhandels sollen angesprochen werden.
Die Betroffenen sind zuversichtlich, dass das Diskussionsangebot erwidert wird: »Schließlich hat es vor 20 Jahren nach Durchsuchungsaktionen in linken Buchläden auch eine breite, übergreifende Solidarisierung
gegeben.« 
aus Sprachrohr:

http://dju-berlinbb.verdi.de/publikationen/#m-menschen-machen-medien

Peter Nowak

Mit Tempo 100 ins soziale Abseits

Welche Rolle Autobahnen bei der Abwertung und Verarmung der Innenstädte einnehmen

Der Bau einer Autobahn trägt zur Konzentration von Armut in den angrenzenden Wohngebieten bei. Das ist das Ergebnis einer vom Berliner Stadtforschungsbüro Topos erstellten Studie. Für die repräsentative Untersuchung wurde je ein Wohngebiet in Berlin und Essen mit einer sozial unterschiedlichen Struktur beforscht. In Berlin handelte es sich um ein Wohngebiet am Bundesplatz. Die Ergebnisse lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Wohngebiete entlang der Stadtautobahn weisen quer durch alle
Generationen einen signifikant höheren Anteil von Erwerbslosen und sozial Benachteiligten auf. „Beschäftigte haben niedrigere Einkommen und ältere Bewohner in Autobahnnähe erhalten geringere Renten“, sagte Topos-
Geschäftsführer Sigmar Gude bei der Vorstellung der Studie. Er wies darauf hin, dass die Bewohner wegen ihres niedrigen Einkommens selbst häufig kein Auto besitzen. „Sie leiden unter den Folgen eines Individualverkehrs,
an dem sie selber kaum beteiligt sind“, so Gudes Resümee.

Lärmschutzbestimmungen werden oft nicht eingehalten

Auch der Zustand der Wohnhäuser ist der Studie zufolge umso schlechter, je näher sie an der Autobahn stehen – und der Leerstand nimmt zu. Die gesetzlich vorgeschriebenen Lärmschutzmaßnahmen werden oft nicht ingehalten. So waren in einem großen Teil der autobahnnahen Wohnungen im Untersuchungsgebiet keine Lärmschutzfenster eingebaut:
Im Berliner Untersuchungsgebiet verfügten ca. 40%, in Essen sogar nur in 25% der Wohnungen über Schallschutzfenster–  obwohl sie gesetzlich vorgeschriebenen sind. Der Grund für diese Missachtung liegt darin,
dass die Betroffenen häufig nicht über die rechtliche Situation informiert sind und selbst aktiv werden müssen. Gude betonte allerdings,
die Untersuchungen hätten ergeben, dass auch eingebaute Lärmschutzfenster die Abwertung der autobahnnahen Wohnviertel nicht stoppen können. Besonders schlecht ist der bauliche Zustand der Häuser und die soziale Situation der Mieter in der ersten Reihe an der Autobahn, aber auch in den hinteren Reihen sind die Indikatoren wesentlich schlechter als in vergleichbaren Wohngegenden ohne Autobahn. „Innerstädtische Verkehrsstraßen mit starken Emissionsbelastungen sollten möglichst vermieden werden.
In jedem Fall sollte eine genaue Überprüfung der möglichen negativen Auswirkungen auf den betroffenen Stadtteil vorgenommen werden“, lautet die Schlussfolgerung, die Sigmar Gude aus den Ergebnissen der Studie zieht.

Unterstützung für die Gegner der A 100

Die Studie dürfte in der nächsten Zeit für Diskussionen sorgen. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) hält am Weiterbau der A 100 fest, obwohl die Grünen, Die Linke und auch große Teile der SPD das
Projekt ablehnen. Beim letzten Landesparteitag der SPD konnten sich die Befürworter der Verlängerung der A 100 nur knapp durchsetzen. Die Berliner/innen, die in der letzten Zeit verstärkt Widerstand gegen die
Trassenverlängerung geleistet haben, dürften sich durch die Ergebnisse der Studie auf jeden Fall bestätigt sehen. Bemerkenswert ist, dass es sich um die erste Studie handelt, die den Zusammenhang zwischen dem Autobahnbau und der sozialen Lage der Anwohner/innen untersucht. Die  Mieter/innen haben bisher bei solchen Bauprojekten keine große Rolle gespielt – die
Planer gehen davon aus, dass sie irgendwann schon wegziehen.

http://www.bmgev.de/mieterecho/mepdf/me342heft.pdf

Peter Nowak

Unterricht in schlechter Verfassung

Grundschülern in Niedersachsen werden künftig mit Hilfe einer Fibel altersgerecht die Grundrechte-Artikel des Grundgesetzes vermittelt. Doch die Unterrichtsmaterialien wurden nicht etwa von Pädagogen aus dem Kultusministerium entwickelt. Bei der Fibel handelt es sich vielmehr um ein Projekt des niedersächsischen Verfassungsschutzes.

Das ist keine Ausnahme. Das Bild von Verfassungsschutzmitarbeitern mit alten Hüten und langen Mänteln ist nicht mehr zeitgemäß. Heute lehren Mitarbeiter des Verfassungsschutzes (VS) in Hochschulen, beteiligen sich auch in linken Zeitschriften an Diskussionen oder konzipieren Unterrichtsmaterialien für die politische Bildung an Schulen zielgerichtet für die unterschiedlichen Altersgruppen. Für die Grundschüler gibt es besagte Fibel, die Siebtklässler sollen mit Comics gegen den Extremismus immunisiert werden, für Schülergruppen ab der 10. Klasse wurden Planspiele entwickelt und junge Erwachsene können sich beim Verfassungsschutz zu Demokratielotsen ausbilden lassen.

Die Sozialwissenschaftler Markus Mohr und Hartmut Rübner haben die Rolle des VS als Institution für Bildungs- und Aufklärungsarbeit in einen kürzlich erschienenen Buch einer vernichtenden Kritik unterzogen. Die innenpolitische Sprecherin der Fraktion der Linken im Bundestag, Ulla Jelpke, zieht einen Vergleich zu dem Kooperationsabkommen, das viele Bildungsminister mit der Bundeswehr schließen und dieser so den Weg in die Schulen ebnen.

Der Vergleich ist berechtigt. Der Verfassungsschutz mag von sich das Selbstbild haben, dass er die Demokratie sichert, genau so, wie die Bundeswehr von sich behauptet, den Frieden zu schützen. In beiden Fällen handelt es aber um gesellschaftlich umstrittene Institutionen, die zum Gegenstand kritischer Beschäftigung auch an den Schulen werden sollten.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/180273.unterricht-in-schlechter-verfassung.html

Peter Nowak

K.I.E.Z. To Go

Auf den Spuren des Widerstands
Wem an diesem Wochenende am späten Nachmittag im südlichen Teil des Berliner Stadtteils Friedrichshain Menschen mit altmodischer Kleidung begegnen, denen eine Menschenmenge folgt, der ist in ein Theaterstück der besonderen Art geraten. »Wege und Widerstand« lautet der Titel des Stücks, das auf den Straßen von Friedrichshain und Lichtenberg von der Künstlerinitiative K.I.E.Z. To Go aufgeführt wird. Sie besteht aus Künstlern, die in den letzten 20 Jahren nach Friedrichshain gezogen sind. Vor einigen Jahren hat die Truppe bereits die Geschichte der Gladowbande auf den Straßen von Friedrichshain inszeniert.

 Treffpunkt für ihr aktuelles Stück ist der Club Lovelite in der Simplonstraße. Dort muss sich jeder Besucher an der Kasse für eines der bereitliegenden verschiedenfarbigen Bändchen entscheiden. Sie markieren die Gruppe, mit der er in den nächsten drei Stunden die Darstellungen unterschiedlicher Schicksale aus der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt.

Die Gruppe mit dem blauen Band erlebt das Wirken der jungen Frieda Lang, deren Eltern als Widerstandskämpfer verfolgt wurden. Sehr sensibel fühlt sich die junge Schauspielerin Antje Lea Schmidt in diese Figur ein. Die erste Station ist der Helenenhof im Friedrichshainer Südkiez. Dort werden die Bewohner zu Zuschauern und manchmal auch zu Akteuren. So übertönte ein Mieter mit lauter Popmusik die Arien, die die junge Frieda im Hof zum Besten gab. Einige Ecken weiter auf einem Spielplatz verfolgten Kinder die Darbietungen hingegen mit Aufmerksamkeit. In dieser Szene kommt Frieda erstmals in Loyalitätskonflikte zwischen ihren von der Nazipropaganda beeinflussten Schulfreunden und Lehrern und ihren Eltern. Einer der Höhepunkte des Stücks ist die Auseinandersetzung zwischen Frieda und ihrer Mutter, als sie ihren Mann im Gefängnis besuchen will. Frieda, die fürchtet, dass auch die Mutter wieder verhaftet wird, will sie daran hindern.

Während sie zunächst mit ihren Eltern hadert, weil diese ihr kein Familienleben bieten können, beschließt Frieda später, sich nicht unterkriegen zu lassen. Dafür wird die Entfremdung zu ihren Freunden und Mitschülern, die die NS-Propaganda nicht in Frage stellen, immer größer. Zu einer Auseinandersetzung mit ihrem ehemaligen Schulfreund kommt es auf einem Wäschehof in Lichtenberg, als sie den bei der Hitlerjugend aufgestiegenen Johann vergeblich dazu bewegen will, eine Jüdin zu verstecken.

Auf der Tour durch den Stadtteil kreuzen sich immer wieder die Routen der verschiedenen Theatergruppen, die die Lebenswege anderer Figuren verfolgen. Nach drei Stunden kommen alle Besucher auf einem Ateliergelände in der Nähe des S-Bahnhofs Nöldnerplatz wieder zusammen. In der bewegenden Abschlussszene werden Zitate aus den letzten Briefen von politischen Gefangenen vor ihrer Hinrichtung in Plötzensee vorgelesen. Ein besonderes Theatererlebnis ist zu Ende gegangen. Am Wochenende gibt es noch einmal die Gelegenheit, sich schauspielerisch Geschichte anzueignen.

Aufführungen am 24., 25., 26. September, 17 Uhr, Treffpunkt: Lovelite, Simplonstr. 38-40, weitere Informationen gibt es unter www.kieztogo.de

http://www.neues-deutschland.de/artikel/180280.k-i-e-z-to-go.html

Peter Nowak

„Krach statt Kohldampf“

Guido Grüner von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg über Hartz IV, ausreichende Ernährung und den Protest der Betroffenen
Der Freitag: Die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV machten vor einigen Jahren über Wochen Schlagzeilen. Seither gibt es kaum noch Proteste – wird sich das in diesem herbst ändern?

Guido Grüner: Hartz IV ist Unterversorgung und Ausgrenzung mit System ist. Das war so seit Einführung 2005. Und das ist es heute umso mehr, weil der Kaufkraftverlust die reale Leistungshöhe eingedampft hat. Besonders krass traf es Kinder, Familien mit Kindern. Die Leistungen für Kinder wurden gegenüber der alten Sozialhilfe mit Hartz IV direkt gekürzt. Hiergegen regte sich schon lange Widerstand – durchaus mit ersten Erfolgen. 2008 wurde eine Schulbeihilfe von 100 Euro im Jahr eingeführt, in diesem Jahr die Erhöhung des Kinderzuschlags um rund 35 Euro.

Ein Erfolg von Protesten?

Ohne die Aktionen der organisierten Erwerbslosen und ihrer Unterstützer hätte es dies nicht gegeben. Andere klagten vor dem Bundesverfassungsgericht – das den Gesetzgeber verpflichtete, die Leistungen realitätsgerecht und nachvollziehbar neu festzusetzen. Die politische Diskussion darüber wollen wir jetzt nutzen, um unsere Forderungen in die Öffentlichkeit zu tragen. Wir haben uns entschieden, einen ganz bestimmten Bedarfsbereich des täglichen Lebens herauszugreifen, um an diesem deutlich zu machen, dass Hartz IV nicht geht, dass die Leistungen deutlich angehoben werden müssen.

Was sind Ihre Forderungen?

Ganz konkret fordern wir 80 Euro mehr für Ernährung. Denn mit den bisher knapp 120 Euro, die im Regelsatz eines Erwachsenen für Essen enthalten sind, kann sich niemand ausreichend, geschweige denn gesund ernähren. Für 200 Euro im Monat lässt sich wenigstens der Kalorienbedarf eines Erwachsenen sichern, der sich auch mal bewegt und sein Essen nicht nur von Billigstanbietern bezieht.

Das klingt dennoch eher bescheiden.

Die Kritik hören wir immer wieder: Warum fordert ihr „nur 80 Euro”? Wer aber unsere Forderung wirklich verstanden hat und sich über das politische Umfeld im Klaren ist, wird das anders sehen.

Warum?

Die dominierende Politik zielt auf weiter sinkende Einkommen, die Bundesrepublik soll verfestigt werden als Exportstandort mit einer immer mehr unter der Hungerknute und Verarmungsängsten stehenden Arbeitnehmern. Und so lange die Leistungen für Erwerbslose – so wie es heute geschehen soll – von dem immer weiter sinkenden Verbrauch der untersten Einkommensgruppen abgeleitet wird, bleibt es bei dieser Abwärtsspirale. Denn sinkende Leistungen für Erwerbslose setzen wiederum die Arbeitnehmer unter Druck – ein Elend ohne Ende. Diese Entwicklung wollen wir durchbrechen. Unsere konkret durchsetzbare Forderung stellt mehr in Frage, sie beschränkt sich nicht nur auf den Sozialhilfebereich, sondern legt den Finger in die Wunde untragbarer Zustände. Es geht uns eben auch um die schikanösen und armseligen Arbeitsverhältnisse bei Discountern und Lebensmittelproduzenten – nicht nur in Deutschland, sondern auch weltweit.

Was haben Sie konkret geplant?

Wenn Anfang Oktober der Gesetzgebungsprozess zur Neuregelung von Hartz IV anläuft, gehen wir in Oldenburg auf die Straße. Wir wollen laut genug für alle unsere Forderungen verbreiten, wollen die Abgeordneten und die Bundesregierung in eine Lage bringen, in der sie ihre Entscheidungen zu rechtfertigen haben. „Krach schlagen statt Kohldampf schieben“ wird die zentrale Demonstration, bei der die Auseinandersetzung um das Existenzminimum von Millionen Menschen, nicht nur in der Bundesrepublik, ganz direkt zum Thema gemacht und mit einer konkreten Forderung versehen wird.

Wie ist bisher die Resonanz?

Gut. Im Internet haben viele unseren Aufruf sehr positiv aufgenommen und weiter verbreitet. Und in Oldenburg haben wir eine sehr breite Unterstützung – von unseren Milchbauern über zahlreiche Gewerkschaften, Sozialverbände und auch autonome Gruppen bis hin zu einigen Gliederungen von Parteien.

Für den Herbst sind inzwischen eine ganze Reihe von Protesten gegen das schwarz-gelbe Sparpaket, die Sozialpolitik und die Gesundheitsreform angekündigt. Die Gewerkschaften bereiten Aktionswochen vor, es soll zentrale Demonstrationen geben – und dezentrale Proteste. Gibt es da eine politische Gesamtdramaturgie oder eher Konkurrenz zwischen den verschiedenen Bündnissen?

Je eher sich Menschen im Alltag wehren, dabei Erfahrungen sammeln und Erfolge erzielen, desto eher trauen sich auch andere, für ihre Interessen offensiv aufzutreten. Und je eher wir bei zentralen, von den Medien stark wahrgenommenen Aktionen selbstbewusst und unverkennbar unsere Vorstellungen von einer gerechten Welt vorbringen können, umso besser können sich Menschen auch regional und vor Ort der zahlreichen Ungerechtigkeiten und Demütigungen des Alltages erwehren. Zentrale und dezentrale Erfolge könnten sich gegenseitig verstärken. Wir sollten das nicht destruktiv gegeneinander stellen. Auch sollten wir lernen, uns über unsere Strategien und Handlungsziele auszutauschen und zu verständigen. Dazu geben gute Aktionen die nötige Kraft und Ausdauer.

 

Hintergrund
Guido Grüner ist Mitarbeiter der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg und Mitorganisator der bundesweiten Erwerbslosendemonstration „Krachschlagen statt Kohldampf schieben“, die am 10. Oktober in Oldenburg stattfindet

http://www.freitag.de/wochenthema/1038-201ekrach-statt-kohldampf201c?searchterm=Guido+Gr%C3%BCner+ALSO

Interview: Peter Nowak

80 Euro mehr für Ernährung


Diskussion um neue Regelsätze für Hartz IV motiviert Erwerbslosengruppen
Die Debatte um die Höhe Hartz IV-Regelsätze hat begonnen. Das Bundesarbeitsministerium will in den nächsten Tagen Zahlen vorlegen. Doch schon jetzt ist klar, dass nach dem Willen der Regierung die Reform nicht teuer werden soll. Die Regelsätze sollen an die Lohn- und Preisentwicklung gekoppelt werden. Der paritätische Wohlfahrtsverband und die Oppositionsparteien kritisieren die Regierungspolitik. Am Ende könnte wieder die Justiz entscheiden.
   

Das Bundesverfassungsgericht hatte schon im Februar 2010 entschieden, dass die Hartz IV-Sätze neufestgelegt werden müssen, ohne sich auf konkrete Zahlen festzulegen. Die Diskussion um die Neufestsetzung der Hartz IV-Sätze hat auch die Erwerbslosenbewegung wieder zu neuen Aktivitäten motiviert.

In den letzten Jahren konzentrierten sich die Aktivisten vor allem auf lokale aber durchaus nicht erfolglose Proteste, die auch jetzt wieder in verschiedenen Städten vorbereitet werden. So soll am 1.Oktober vor dem Neuköllner Jobcenter in Berlin ein temporäres soziales Zentrum errichtet werden.

Demo in Oldenburg

Schon unmittelbar nach der Karlsruher Entscheidung trafen sich Initiativen aus unterschiedlichen Spektren der Erwerbslosenbewegung. Dort verständigte man sich auf die Organisierung einer bundesweiten Demonstration in Oldenburg am 10. Oktober. Sie wird unter dem Motto „Krach schlagen statt Kohldampf schieben“ stehen. Die Organisatoren rufen dazu auf, Kochtöpfe und Kochlöffel mit zu bringen, um das Motto auch in die Tat umzusetzen.

Dass Oldenburg als Demonstrationsort ausgewählt wurde, liegt an der jahrelangen Aktivität der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO), die in der Lage ist, die nötige Logistik für eine solche Aktion zu stellen. Telepolis sprach mit Guido Grüner von der ALSO über das Konzept der Demonstration und die weiteren Planungen.

„Wir wollen die Armutsspirale durchbrechen“

 Nach den Anti-Hartz-Protesten gab es kaum noch bundesweite Proteste von Erwerbslosen. Beginnt sich das mit der Demo zu ändern?

Guido Grüner: Hartz IV ist Unterversorgung und Ausgrenzung mit System. Das war so seit Einführung zum 1.1.2005. Und das gilt heute umso mehr, als der Kaufkraftverlust die reale Leistungshöhe eingedampft hat. Besonders krass traf es Kinder und Familien mit Kindern. Die Leistungen für Kinder wurden gegenüber der alten Sozialhilfe mit Hartz IV direkt gekürzt. Hiergegen regte sich schon lange Widerstand. Dieser brachte Erwerbslosen 2008 und 2009 erste Erfolge: Die Schulbeihilfe von 100 EUR jährlich zum 1.8. und ein monatlicher Zuschlag für Kinder im Alter von 6 bis 14 Jahren um rund 35 EUR seit dem 1.7.09. Ohne die Aktionen der organisierten Erwerbslosen und ihrer Unterstützer hätte es dies nicht gegeben.

Andere Erwerbslose klagten gegen Hartz IV und gingen bis zum Bundesverfassungsgericht. Dort wurde dem Gesetzgeber die Verletzung der Menschenwürde durch Hartz IV und dessen unzureichende Leistungen vorgehalten. Die Leistungen müssen daher zum 1.1.2011 neu festgesetzt werden: realitätsgerecht und nachvollziehbar, wie die Richter formulierten.

Damit wurde den Regierungsparteien ein Gesetzgebungsverfahren aufgezwungen, das Erwerbslosennetzwerke nutzen wollen. Wir gehen Anfang Oktober auf die Straße, weil dann der Gesetzgebungsprozess anlaufen wird. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes für die Regelsatzfestsetzung sollen bis Ende September 2010 ausgewertet vorliegen. Anfang Oktober beginnen die parlamentarischen Prozeduren. Wir wollen laut genug für alle unsere Forderungen verbreiten, wollen die Parlamentarier in eine Lage bringen, wo sie ihre Entscheidungen zu rechtfertigen haben.

 Was sind Ihre Forderungen?

Guido Grüner: Wir haben uns entschieden, einen ganz bestimmten Bedarfsbereich des täglichen Lebens herauszugreifen, um daran deutlich zu machen, dass die Leistungen deutlich angehoben werden müssen. Ganz konkret fordern wir 80 Euro mehr für Ernährung. Denn mit dem knapp 120 Euro, die im Regelsatz eines Erwachsenen fürs Essen enthalten sind, kann sich niemand ausreichend, geschweige denn gesund ernähren. Wir fordern 80 Euro mehr, also rund 200 Euro für Ernährung im Monat, damit zumindest der Kalorienbedarf eines Erwachsenen gesichert werden kann, der sich auch mal bewegt und sein Essen nicht nur von Billiganbietern bezieht.

 Was sagen Sie zu der Kritik einiger Erwerbslosengruppen, dass diese Forderungen zu bescheiden sind?

Guido Grüner: Viele kritisieren uns, da wir „nur 80 Euro“ fordern. Aber ich glaube, dass sie unsere Forderung noch nicht verstanden haben, sich vielleicht gar über das politische Umfeld unserer Forderung im Unklaren sind.

Denn die dominierende Politik zielt auf weiter sinkende Einkommen. Die BRD soll verfestigt werden als Exportstandort mit immer mehr unter der Hungerknute oder Verarmungsängsten stehenden Arbeitnehmer. Und so lange die Leistungen für Erwerbslose, so wie es heute geschehen soll, von dem immer weiter sinkenden Verbrauch der untersten Einkommensgruppen abgeleitet werden sollen, bleibt es bei dieser Abwärtsspirale. Denn sinkende Leistungen für Erwerbslose setzen wiederum die Arbeitnehmer unter Druck – ein Elend ohne Ende.

Diese Entwicklung wollen wir durchbrechen, wie schon mit der Forderung nach mehr Leistungen für Kinder in den letzten Jahren. Deshalb fordern wir ein höheres Einkommen, die wir jedem anhand der heutigen Unterversorgung im Bereich der Ernährung konkret erklären können. Wenn wir diese Forderung durchsetzen, stellen wir mehr in Frage. Wir gehen damit über eine bloße ‚mehr Sozialhilfe-Forderung‘ hinaus. Wir legen den Finger in die Wunde der gesellschaftlich untragbaren Zustände der schikanösen und armseligen Arbeitsverhältnisse bei Discountern oder bei den Lebensmittelproduzenten, seien sie hier oder in anderen Teilen der ganzen Welt.

Nicht nur Belange der Erwerbslosen

 Es geht also nicht nur um Belange der Erwerbslosen?

Guido Grüner: Nein, wir ordnen unsere Forderung ein in einen Kampf für ein menschenwürdiges Leben, für existenzsichernde Leistungen, für Mindestlöhne oberhalb der Armutsgrenze. Die Forderung nach 80 Euro mehr für Ernährung steht zudem nicht gegen Forderungen nach einer insgesamt noch deutlich höheren Regelleistung oder einer repressionsfreien Grundsicherung.

Denn wir sagen mit der Forderung für den Ernährungsanteil des Regelsatzes noch gar nichts darüber, welche Zuschläge bei den anderen Bedarfsbereichen für ein menschenwürdiges Leben nötig wären. Wir setzen lediglich einen thematischen Schwerpunkt, wollen hier für unsere Forderung gesellschaftliche Mehrheiten gewinnen und uns Bündnismöglichkeiten eröffnen.

 Wie hat sich die Zusammenarbeit innerhalb den doch sehr heterogenen Erwerbslosenbewegung entwickelt?

Guido Grüner: Die Forderung und die Ausrichtung unserer Kampagne sind Ergebnis regelmäßiger Treffen von fünf Erwerbslosennetzwerken und zwei Erwerbsloseninitiativen mit überregionaler Bedeutung in der ersten Jahreshälfte 2010. Dort wurde zum einen an die Zusammenarbeit bei der Kampagne „Gemeinsam gegen Kinderarmut“ oder zur Ämterbegleitung „Keiner muss allein zum Amt“ angeknüpft, die spektrenübergreifend Erfolge brachten. Dazu hat die Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Erwerbslosengruppen erheblich beigetragen.

Zum anderen wurde eine Brücke geschlagen zur sog. „Triade“, der Forderung nach 500 Euro Regelleistung, 10 Euro Mindeststundenlohn und 30 Stunden höchste Wochenarbeitszeit. Denn die Forderung 80 Euro mehr für Ernährung greift ein zentrales Moment der Triadenargumentation auf.

Es spielte dabei, das sei hier aus Sicht der ALSO ausdrücklich betont, keine Rolle, ob die Erwerbslosenzusammenhänge den eher gesellschaftlich etablierten Spektren wie den Gewerkschaften nahe stehen oder eher der neueren sozialen Bewegungen zuzurechnen sind

 Sind nach der Demo weitere Erwerbslosenaktionen geplant?

Guido Grüner: Wir wollen in Oldenburg unseren Anliegen Gehör verschaffen. Das wird umso wichtiger, als Politiker sich heute scheinbar jeder Rechtfertigung und Debatte entziehen wollen. Und die diesjährige Auseinandersetzung um die Höhe der Regelleistung fängt erst an.

Armut und Elend werden üblicherweise in der BRD unsichtbar gemacht. Wenn wir auffällig werden, wollen sie uns in die kriminalistische oder psychiatrische Schublade stecken. Da machen wir nicht weiter mit. Wir stehen laut auf, wollen daran arbeiten, dass dies Menschen immer und überall tun, wo unsere gemeinsamen Anliegen unter den Teppich gekehrt werden sollen. Überall wo Vertreter der vorherrschenden Politik in diesem Herbst auftreten, können wir ihnen mit unseren Forderungen laut entgegen treten.

 http://www.heise.de/tp/r4/artikel/33/33357/1.html

Peter Nowak

Mindestlohn als Dumpingbremse

Ver.di: Postmindestlohnverordnung hatte positive Effekte

Fast anderthalb Jahre gab es einen allgemein verbindlichen Mindestlohn für die Briefdienstebranche. Ob und wie er gewirkt hat, ließ ver.di nun untersuchen.

Im Januar hatte das Bundesverwaltungsgericht eine erste Mindestlohnverordnung für die Briefbranche wegen Formfehlern gekippt. Darin war die zwischen dem von der Deutschen Post AG dominierten Arbeitgeberverband Postdienste und ver.di vereinbarte Lohnuntergrenze von 9,80 Euro im Westen und 9,00 Euro im Osten als verbindlich für die gesamte Branche festgelegt worden. Die Unternehmen in der Branche mauern seitdem  und  verweisen  auf negative Auswirkungen auf die  Arbeitsplätze. In großen Teilen der Medien wird diese Argumentation übernommen und selbst bei manchen Mitarbeitern in der Branche stoßen sie auf offene Ohren,  wie Demonstrationen von Beschäftigten der PIN-AG gegen den Mindestlohn zeigten. Am 21. September hat die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di in Berlin eine von ihr in Auftrag gegebene und von der der Input-Consulting GmbH erarbeitete Studie zu den Auswirkungen der Postmindestlohnverordnung, die vom 1. Januar 2008 bis 30. April 2010 in Kraft war,  vorgestellt.       

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass der allgemeinverbindlich erklärte Postmindestlohn nur von wenigen Firmen außerhalb der Mitgliedsunternehmen des Arbeitgeberverbands Postdienste e.V. tatsächlich bezahlt wurde.  Trotz der  begrenzten Anwendung konstatierte Claus Zanker von der Input-Consulting GmbH positive Auswirkungen auf die Lohnentwicklung durch die Mindestlohnverordnung.  Selbst die Unternehmen, die den Mindestlohn durch konkurrierende Tarifverträge umgangen haben, hätten damit Lohnuntergrenzen festgeschrieben, die über dem bislang in der Branche gezahlten Lohnniveau lagen. Positiv habe sich auch ausgewirkt, dass die Briefdienstleister und ihre Beschäftigungsbedingungen mit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung der Mindestlöhne unter einer erhöhten Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und ihrer Kunden lagen, erläuterte Zanker. Er kam zu dem Fazit, dass der Postmindestlohn trotz seiner nur sehr eingeschränkten direkten Anwendung eine stabilisierende Wirkung auf die Beschäftigung in der Branche hatte und als „Dumpingbremse“ gewirkt hat.

Kollateralschaden PIN-AG

Zanker ging auch auf die Pleite der PIN-AG ein, die von den Unternehmern als Paradebeispiel für den negativen Einfluss des Mindestlohns auf die Branche angeführt wird. Ein Mindestlohn, der nicht gezahlt wurde, kann dafür nicht verantwortlich sein, wies Zanker diesen Vorwurf zurück. „Nachweislich wurde der Zusammenbruch der PIN-Group durch Missmanagement, strategische Fehleinschätzungen der Eigentümer und eine prekäre wirtschaftliche Situation vieler PIN-Unternehmen bereits vor Einführung des Postmindestlohns ausgelöst“, erklärte er. Auf Grundlage der Daten lasse  sich ein vom Postmindestlohn angeblich verursachter umfassender Beschäftigungsrückgang nicht nachweisen, fasste Zanker die Ergebnisse zusammen.

Neuer Anlauf für einen Postmindestlohn

Die Stellvertretende ver.di-Vorsitzende Andrea Kocsis bezeichnete die Studie als Beitrag zu einer sachgerechten Auseinandersetzung mit dem Thema Postmindestlohn. „Unser Ziel ist nicht mehr und nicht weniger, als einen neuen Anlauf für einen über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz für allgemein verbindlich zu erklärenden Post-Mindestlohn zu nehmen“, benannte sie  das Vorhaben von ver.di. Dazu werde man das Gespräch mit den beiden Arbeitgeberverbänden in der Branche suchen.

 https://www.neues-deutschland.de/artikel/180124.mindestlohn-als-dumpingbremse.html

Peter Nowak