Tatort Brunnenstraße – zwischen Kunst und Widerstand

Wegen eines Fehlers des Autors wurde in der ersten Version der Ausstellungsbesprechung die Fotoarbeit von Said Sennine der  Künstlerin Giovanna Schulte-Ontrop zugeordnet. Der Autor bedauert den Fehler und entschuldigt sich bei Frau Schulte-Ontrop.

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Ein schwarzgekleideter, vermummter Jugendlicher steht auf einen  Dach und  schwenkt eine Fahne mit einem Anarchiezeichen. Im Loop von Jan Wirdeier  wiederholt sich die Szene immer wieder von Neuem.    

 Bis vor einigen Monaten konnte man in der  Berliner Brunnenstraße solche Szenen noch  im realen Leben sehen. Am 21. November 2009 wurde mit der Brunnenstraße 181 eines der letzten besetzen Häuser Berlins geräumt.

In der Ausstellung „Tatort Brunnenstraße“ in der Neuen Schule für Fotografe  kommt das Hausprojekt, in dem Berlins erster Umsonstladen sein Domizil gefunden hatte, gleich mehrfach vor.  Schließlich stelle die Dozentin  Eva Bertram den Studierenden ihrer Klasse die Aufgabe, sich in ihren Semesterabschlussarbeiten mit der Straße zu befassen, in der sich die Schule seit einiger Zeit befindet.

Nicht alle Fotografen konnten mit der gestellten Aufgabe etwas anfangen.  Tobias Wirth betonte, dass er keinen Zugang zu der Straße gefunden hat. Deshalb  hatte er auch Modefotografien zur Ausstellung beigesteuert. Die übrigen Arbeiten drehen sich tatsächlich um die Brunnenstraße, die im Wedding beginnt und fast am Hackeschen Markt endet.  Der Kontrast der beiden Stadtteile wird in der Arbeit von  Said Sennine  etwas überstrapaziert. Auf den 10 Fotos sind unter Anderem ein Blumenladen,  ein Imbiss, ein Restaurant abgebildet. Die Zuordnung nach Stadtteilen aber will dem unbefangenen Betrachter nicht sofort gelingen. Denn der im Begleittext aufgestellten These, dass im Weddinger Teil der Brunnenstraße eher bürgerliche, ältere Menschen das Bild prägen, werden zumindest langjährige Bewohner oder Besucher der Gegend nicht zustimmen.

Auf den ersten Blick irritierend wirken die Fotographien von Juliane Apel mit dem vielen zugemauerten Fenstern und Türen und den verlassenen Häusern. Sie wurden nicht in Berlin sondern in der Großen Brunnenstraße in Halle, dem Heimatort der Künstlerin, aufgenommen. Das Bild dieser Straße  ist von der Verarmung und dem Wegzug vieler Menschen geprägt.  An den alten Brunnen erinnert nur noch der Name,    aus der eine Schule waren ein Armenhaus und dann ein Gefängnis geworden, bevor das Gebäude verschwand. Auch die Studentenkneipe hat schon lange geschlossen.

Die Arbeiten drehen sich um den schnellen Wandel einer Straße und da ist die Berliner Brunnenstraße tatsächlich ein gutes Beispiel. Nur wenige Meter von dem Ausstellungsort  befindet sich das geräumte  Gebäude, jetzt ohne Fenster und mit zugemauerten Türen. „Wir bleiben alle“ prangt noch groß auf den Außenmauern. Direkt gegenüber der Galerie findet sich auf der Fassade eines sanierten Gebäudes der Satz: „Dieses Haus stand einmal in einem anderen Land“. Kunst und Widerstand findet sich also hier auf engsten Raum. Die Ausstellung lädt auch zur Frage ein, wie die Straße in 10 Jahren aussehen wird. 

 Wo heute noch kleine Galerien ihr Domizil haben, könnte in wenigen Jahren mondäne Restaurants die Pforten eröffnen. Schließlich sind Kunstobjekte auch nur zeitweilige Platzhalter im Aufwertungsprozess eines Stadtteils und einer Straße. Deshalb könnte auch das Forum für Neue Fotografie nur ein temporäres Projekt in der Brunnenstraße sein, so wie viele der Einrichtungen, die auf den Fotos zu sehen ist. 

aus Neues Deutschland, 30.3.2010  

Peter Nowak