Gewerkschaften im Kalten Krieg

Plädoyer für die Wiederbelebung eines »toten Hunds«
 

 

Reinhard Bispinck / Thorsten Schulten /Peeter Raane (Hrsg.):
»Wirtschaftsdemokratie und expansive Lohnpolitik.
Zur Aktualität von Viktor Agartz«,
VSA-Verlag, Hamburg 2008,
244 Seiten, 17,80 Euro,
ISBN 978-3-89965-282

Wenn es um politische Unterdrückung im Nachkriegsdeutschland geht, wird in der Regel sofort an die DDR gedacht. Dabei gerieten seit den 50er Jahren auch in der BRD Tausende ins Visier des Staatsschutzes, weil sie als KommunistInnen oder SymphatisantInnen verdächtigt wurden. Zu den prominentesten Opfern dieses westdeutschen McCarthyismus gehörte der Gewerkschafter Viktor Agartz. In den 50er Jahren zählte er zu  »den« zentralen Theoretikern des DGB. Von 1948 bis 1955 war er Direktor des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts (WWI) des DGB. Seine Karriere endete jedoch abrupt, als er 1957 aufgrund von Kontakten zur DDR des Landesverrats angeklagt wurde. Trotz seines Freispruchs galt er fortan für lange Zeit auch innerhalb der Gewerkschaften als persona non grata. Heute ist der 1964 verstorbene Agartz weitgehend unbekannt.  Der im VSA-Verlag erschienene Sammelband »Zur Aktualität von Viktor Agartz« konnte daran bisher wenig ändern.

Aufarbeitung der Vergangenheit im DGB?

Dabei war die Entstehung des Buches das Ergebnis einer innergewerkschaftlichen Diskussion um das Verhalten führender Gewerkschafter im Kalten Krieg. Auf dem Gewerkschaftstag der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) von 1998 wurde mit großer Mehrheit ein Antrag angenommen, in dem gefordert wurde, »beispielhaft an der Person von Viktor Agartz aufzuzeigen, wie infolge des kalten Krieges und der bewussten Teilungstendenzen Persönlichkeiten aus den Gewerkschaften verdrängt wurden, die sich diesem Trend verweigerten«. Es dauerte fast ein Jahrzehnt – die HBV war mittlerweile in ver.di aufgegangen –, bis als Konsequenz aus diesem Antrag das WSI und die Rosa Luxemburg-Stiftung NRW zum 110. Geburtstag von Viktor Agartz eine gemeinsame Tagung in seiner Geburtsstadt Remscheid organisierten.
Der erste Teil des Sammelbandes dokumentiert die dort gehaltenen Reden. Besonders eindringlich zeigte der ehemalige Vorsitzende der IG Druck und Papier von NRW Franz Kersjes auf, wie sich an der Verfolgung des Viktor Agartz nicht nur Staatsschutzbehörden beteiligten. Obwohl der Gewerkschafter am 13. Dezember 1957 vom 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs aus Mangel an Beweisen von der Anklage der landesverräterischer Kontakte zur DDR freigesprochen wurde, sollte er aus der HBV ausgeschlossen werden. Im April 1959 wurde der Ausschlussantrag abgelehnt. Doch als Agartz zur IG Druck wechselte und als Referent zum
Thema »Gewerkschaften in der Sackgasse« in Düsseldorf auftreten wollte, wurden seine innergewerkschaftlichen GegnerInnen erneut aktiv. Der Landesbezirk NRW und der Bundesvorstand des DGB intervenierten und distanzierten sich von der Veranstaltung, die schließlich vom Hauptvorstand der IG Druck abgesagt wurde. »Die Mehrheit der Vorstandsmitglieder war mit der Entmündigung einverstanden«, schreibt Kersjes. Daraufhin wurde das Ausschlussverfahren gegen Agartz wieder aufgenommen. Am 29. Januar 1960 wurde er vom Hauptvorstand der IG-Druck offiziell ausgeschlossen.
Auf einen Brief, in dem Agartz seine Stellung zum FDGB erklären sollte, hatte Agartz nicht mehr reagiert. Der Gewerkschafter hatte in seinem Landesverratsprozess, bei dem er von den späteren sozialdemokratischen Spitzenpolitikern Dieter Posser und Gustav Heinemann juristisch verteidigt wurde, erklärt, er bedauere es, dass der DGB die Kontakte zum FDGB abgebrochen habe, der auch ein Teil der Arbeiterbewegung in Deutschland sei. Allerdings bedeutete sein Eintreten für Kontakte zum FDGB keinen Verzicht auf Kritik an der DDR. So monierte er, dass es dort kein Streikrecht gebe und dass die DDR genau so von Moskau abhängig
sei wie die BRD von Washington. Aber selbst eine solch kritische Position bewahrte Agartz nicht vor dem Ausschluss aus dem DGB.

 Expansive Lohnpolitik und Wirtschaftsdemokratie

Mit Agartz wurde auch eine gewerkschaftliche Position aus dem DGB verbannt, die sich der Anpassung an die Verhältnisse im restaurierten BRD-Staat widersetzt hatte. Es waren vor allem zwei Punkte, an denen Agartz eine klare Gegenposition zur DGB-Führung immer wieder deutlich machte.
Er vertrat das Konzept der expansiven Lohnpolitik. »Die Gewerkschaften müssen die höhere Verantwortung zunächst denen überlassen, die im Besitz der Rechte und Macht sind. Unter diesem Gesichtspunkt bekommt
die lohnpolitische Haltung der Gewerkschaften ein besonderes Gewicht«, schreibt Agartz 1950 in seinem (im Buch nachgedruckten) richtungsweisenden Aufsatz „Die Lohnpolitik der deutschen Gewerkschaften“.
Er sah im Kampf um Lohnerhöhungen den zentralen Hebel der Gewerkschaften, um auch Einfluss auf die Wirtschaftspolitik zu nehmen. Der Kampf um einen höheren Lohn ist für Agartz also auch eine Frage der gewerkschaftlichen Gegenmacht.
Ein weiteres gewerkschaftliches Standbein war für ihn das Konzept der Wirtschaftsdemokratie. Dabei schwebte ihm ein aus Gewerkschaften und Konsumgenossenschaften gebildetes Organ der Verwaltung der Wirtschaft vor. Der Politologe Michael Krätke stellt das von Agartz vertretene Konzept der Wirtschaftsdemokratie in den Zusammenhang mit Debatten in linkssozialdemokratischen Kreisen der Weimarer Republik und mit Rätekonzepten, wie sie zwischen 1918 und 1922 unter den Revolutionären Obleuten, einer autonomen Betriebsräteorganisation, die wesentlich für den Ausbruch der Revolution im November 1918 verantwortlich war, diskutiert wurden. Der Berliner Historiker Rolf Hoffrogge hat diese Konzepte bei der Recherche über die Biographie von Richard Müller, einem der führenden Köpfe der Revolutionären Obleute, entdeckt und wieder bekannt gemacht.
Ein großes Verdienst des Bandes ist die Dokumentation von Reden und Aufsätzen von Viktor Agartz aus den Jahren 1946 – 1954. Dabei fällt auf, wie akribisch er die Wirtschaftsentwicklung in der BRD analysierte und vor der »erstarkten Reaktion« warnte. Er war auch nicht bereit, in der Forderung nach Mitbestimmung die zentrale gewerkschaftliche Forderung zu sehen. »Die Mitbestimmung ist nur ein Bestandteil der Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Diese Neuordnung über die betriebliche Mitbestimmung ist das Eindringen in die gesellschaftliche Ordnung, die bislang als geheiligt und unverletzlich galt.« Für Agartz steht
eine gesamtgesellschaftliche Wirtschaftsplanung an erster Stelle. Auch hier macht er Anleihen bei den Rätekonzepten der frühen 20er Jahre. Allerdings bleiben seine Vorstellungen einer überbetrieblichen Wirtschaftsdemokratie relativ vage. Klarer ist seine kritische Analyse der betrieblichen Mitbestimmung, für die er auf dem Kölner Gewerkschaftstag der IG Chemie, Papier, Keramik im Jahre 1954 viel Applaus bekam: »Die Mitbestimmung ist keine wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Lösung, weil sie auch bei einer vollen Realisierung ine Änderung des kapitalistischen Systems nicht zu bewirken vermag. Eine Änderung des Systems kann auch fernerhin durch die Mitbestimmung nicht vollzogen werden, weil es unmöglich ist, von der Grundlage des Betriebs aus Wirtschaftspolitik zu betreiben.«
Die Repressionen gegen Agartz waren eine Reaktion auf diesen Versuch, andere Formen des Wirtschaftens zu propagieren, die über eine rein betriebliche Ebene hinausgingen.
In mehreren Aufsätzen im Buch wird daran erinnert, dass eine offensive Lohnpolitik und auch die Frage der Wirtschaftsdemokratie heute erneut auf der Tagesordnung stehen. Allerdings warnen die Autoren Reinhard Bispinck und Thorsten Schulten vor einer Überschätzung gewerkschaftlicher Lohnpolitik. Auch bleibe bei Agartz’ Konzept der expansiven Lohnpolitik die Frage offen, wie ein Abwälzen des höheren Lohnes auf die Preise verhindert werden könne. Das Autorenduo macht zudem auf den Verlust an gewerkschaftlicher Gestaltungsmacht aufmerksam: »Mit der zunehmenden Dezentralisierung der Tarifpolitik und Erosion des Flächentarifvertrages sind heute die Möglichkeiten zur Durchsetzung einer gesamtwirtschaftlich orientierten Lohnpolitik stark eingeschränkt«. Das bedeute aber nicht, dass die Vorstellungen von Viktor Agartz nicht mehr zeitgemäß seien. Eine kritische Beschäftigung tut not, und die Erinnerung an den gewerkschaftlichen Dissidenten ist aktueller denn je. Umso bedauerlicher ist es, dass das Buch in Gewerkschaftskreisen und in der Gewerkschaftspresse weitgehend ignoriert wurde.

 erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2/10
 Lust auf mehr express?Infos zur aktuellen Ausgabe, zu Veranstaltungen, Bezugsbedingungen und Abonnements unter:www.express-afp.infoTelephon: ++49 (0)69 67 99 84 Peter Nowak
 
oder per email: express-afp@online.de
Unser Archiv im Labournet Germany:   www.labournet.de/express